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Menschenwürde im Strafvollzug in der Rechtsprechung der Kammern des Bundesverfassungsgerichts

von Nora Thies (Autor:in)
©2019 Dissertation 184 Seiten

Zusammenfassung

Gegenstand des Bandes ist die Rechtsprechung der Kammern des Bundesverfassungsgerichts in Bezug auf die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) im Strafvollzug. Die Rechtsprechung der Kammern nimmt einen großen Anteil an der des Bundesverfassungsgerichts insgesamt ein. Vor diesem Hintergrund zeigt die Autorin, welche Inhalte sich der einschlägigen Kammerrechtsprechung entnehmen lassen und wie diese sich zur Rechtsprechung der Senate des Bundesverfassungsgerichts verhält.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einführung
  • Erstes Kapitel: Haftdauer
  • I. Überblick über die gesetzliche Regelung
  • II. Senatsrechtsprechung
  • 1. Lebenslange Freiheitsstrafe
  • 2. Hafturlaub
  • 3. Aussetzung einer lebenslangen Freiheitsstrafe I
  • 4. Aussetzung einer lebenslangen Freiheitsstrafe II
  • 5. Vorläufige Unterbringung
  • 6. Aussetzung einer Unterbringung
  • 7. Wesentliche Grundsätze der Entscheidungen
  • 8. Vergleichende Betrachtung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe der Entscheidungen
  • III. Kammerrechtsprechung
  • 1. Vollstreckungsrechtliche Gesamtwürdigung I
  • 1.1 Gegenstand des Verfahrens
  • 1.2 Entscheidung der Kammer
  • 1.3 Wesentlicher Inhalt, Einordnung und Würdigung der Entscheidung
  • 2. Vollstreckungsrechtliche Gesamtwürdigung II
  • 2.1 Gegenstand des Verfahrens
  • 2.2 Entscheidung der Kammer
  • 2.3 Wesentlicher Inhalt, Einordnung und Würdigung der Entscheidung
  • 3. Vollstreckungsrechtliche Gesamtwürdigung III
  • 3.1 Gegenstand des Verfahrens
  • 3.2 Entscheidung der Kammer
  • 3.3 Wesentlicher Inhalt, Einordnung und Würdigung der Entscheidung
  • 4. Kriminalprognose I
  • 4.1 Gegenstand des Verfahrens
  • 4.2 Entscheidung der Kammer
  • 4.3 Wesentlicher Inhalt, Einordnung und Würdigung der Entscheidung
  • 5. Kriminalprognose II
  • 5.1 Gegenstand des Verfahrens
  • 5.2 Entscheidung der Kammer
  • 5.3 Wesentlicher Inhalt, Einordnung und Würdigung der Entscheidung
  • IV. Zusammenfassung
  • 1. Grundsätze der einschlägigen Kammerrechtsprechung
  • 1.1 Vollstreckungsrechtliche Gesamtwürdigung und Festsetzung der gebotenen Vollstreckungsdauer (§ 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB)
  • 1.2 Kriminalprognose (§ 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 iVm § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB)
  • 2. Würdigung der einschlägigen Kammerrechtsprechung mit Blick auf die zu Grunde liegende Senatsrechtsprechung
  • Zweites Kapitel: Vollzugsgestaltung
  • I. Überblick über die gesetzliche Regelung
  • II. Senatsrechtsprechung
  • 1. Lebach
  • 2. Lebenslange Freiheitsstrafe
  • 3. Hafturlaub
  • 4. Aussetzung einer lebenslangen Freiheitsstrafe III
  • 5. Wesentliche Grundsätze der Entscheidungen
  • III. Kammerrechtsprechung
  • 1. Einsicht in den Vollzugsplan
  • 1.1 Gegenstand des Verfahrens
  • 1.2 Entscheidung der Kammer
  • 1.3 Wesentlicher Inhalt, Einordnung und Würdigung der Entscheidung
  • 2. Inhalt des Vollzugsplans
  • 2.1 Gegenstand des Verfahrens
  • 2.2 Entscheidung der Kammer
  • 2.3 Wesentlicher Inhalt, Einordnung und Würdigung der Entscheidung
  • 3. Ausführung I
  • 3.1 Gegenstand des Verfahrens
  • 3.2 Entscheidung der Kammer
  • 3.3 Wesentlicher Inhalt, Einordnung und Würdigung der Entscheidung
  • 4. Ausgang I
  • 4.1 Gegenstand des Verfahrens
  • 4.2 Entscheidung der Kammer
  • 4.3 Wesentlicher Inhalt, Einordnung und Würdigung der Entscheidung
  • 5. Ausgang II
  • 5.1 Gegenstand des Verfahrens
  • 5.2 Entscheidung der Kammer
  • 5.3 Wesentlicher Inhalt, Einordnung und Würdigung der Entscheidung
  • 6. Ausführung II
  • 6.1 Gegenstand des Verfahrens
  • 6.2 Entscheidung der Kammer
  • 6.3 Wesentlicher Inhalt, Einordnung und Würdigung der Entscheidung
  • 7. Vollzugsplan und Vollzugslockerungen
  • 7.1 Gegenstand des Verfahrens
  • 7.2 Entscheidung der Kammer
  • 7.3 Wesentlicher Inhalt, Einordnung und Würdigung der Entscheidung
  • 8. Verlegung
  • 8.1 Gegenstand des Verfahrens
  • 8.2 Entscheidung der Kammer
  • 8.3 Wesentlicher Inhalt, Einordnung und Würdigung der Entscheidung
  • IV. Zusammenfassung
  • 1. Grundsätze der einschlägigen Kammerrechtsprechung
  • 1.1 Vollzugsplan (§ 7 StVollzG)
  • 1.2 Vollzugslockerungen (§ 11 StVollzG)
  • 1.3 Verlegungen (§ 8 StVollzG)
  • 2. Würdigung der einschlägigen Kammerrechtsprechung mit Blick auf die zu Grunde liegende Senatsrechtsprechung
  • Drittes Kapitel: Haftraum
  • I. Überblick über die gesetzliche Regelung
  • II. Kammerrechtsprechung
  • 1. Überschwemmungen im Haftraum
  • 1.1 Gegenstand des Verfahrens
  • 1.2 Entscheidung der Kammer
  • 1.3 Wesentlicher Inhalt, Einordnung und Würdigung der Entscheidung
  • 2. Gemeinschaftshaftraum
  • 2.1 Gegenstand des Verfahrens
  • 2.2 Entscheidung der Kammer
  • 2.3 Wesentlicher Inhalt, Einordnung und Würdigung der Entscheidung
  • 3. Einzelhaftraum
  • 3.1 Gegenstand des Verfahrens
  • 3.2 Entscheidung der Kammer
  • 3.3 Wesentlicher Inhalt, Einordnung und Würdigung der Entscheidung
  • III. Zusammenfassung
  • 1. Grundsätze der einschlägigen Kammerrechtsprechung
  • 2. Würdigung der einschlägigen Kammerrechtsprechung mit Blick auf die zu Grunde liegende Senatsrechtsprechung
  • Viertes Kapitel: Briefüberwachung im Strafvollzug
  • I. Überblick über die gesetzliche Regelung
  • II. Senatsrechtsprechung
  • 1. Mikrozensus
  • 2. Briefüberwachung
  • 3. Wesentliche Grundsätze der Entscheidungen
  • III. Kammerrechtsprechung
  • 1. Brief an die Verlobte
  • 1.1 Gegenstand des Verfahrens
  • 1.2 Entscheidung der Kammer
  • 1.3 Wesentlicher Inhalt, Einordnung und Würdigung der Entscheidung
  • 2. Brief an einen befreundeten Strafgefangenen
  • 2.1 Gegenstand des Verfahrens
  • 2.2 Entscheidung der Kammer
  • 2.3 Wesentlicher Inhalt, Einordnung und Würdigung der Entscheidung
  • 3. Brief an den Vater
  • 3.1 Gegenstand des Verfahrens
  • 3.2 Entscheidung der Kammer
  • 3.3 Wesentlicher Inhalt, Einordnung und Würdigung der Entscheidung
  • IV. Zusammenfassung
  • 1. Grundsätze der einschlägigen Kammerrechtsprechung
  • 2. Würdigung der einschlägigen Kammerrechtsprechung mit Blick auf die zu Grunde liegende Senatsrechtsprechung
  • Fünftes Kapitel: Krankheit im Strafvollzug
  • I. Überblick über die gesetzliche Regelung
  • II. Kammerrechtsprechung
  • 1. Vollzugsexterne psychiatrische Behandlung
  • 1.1 Gegenstand des Verfahrens
  • 1.2 Entscheidung der Kammer
  • 1.3 Wesentlicher Inhalt, Einordnung und Würdigung der Entscheidung
  • 2. Strafunterbrechung
  • 2.1 Gegenstand des Verfahrens
  • 2.2 Entscheidung der Kammer
  • 2.3 Wesentlicher Inhalt, Einordnung und Würdigung der Entscheidung
  • 3. Strafaussetzung
  • 3.1 Gegenstand des Verfahrens
  • 3.2 Entscheidung der Kammer
  • 3.3 Wesentlicher Inhalt, Einordnung und Würdigung der Entscheidung
  • III. Zusammenfassung
  • 1. Grundsätze der einschlägigen Kammerrechtsprechung
  • 2. Würdigung der einschlägigen Kammerrechtsprechung mit Blick auf die zu Grunde liegende Senatsrechtsprechung
  • Fazit
  • Literaturverzeichnis

Einführung

Eine Verfassungsbeschwerde bedarf der Annahme zur Entscheidung (§ 93a Abs. 1 BVerfGG) durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Sie ist zur Entscheidung anzunehmen, soweit ihr grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt (§ 93a Abs. 2 lit. a BVerfGG). Sie ist auch dann zur Entscheidung anzunehmen, wenn es zur Durchsetzung der Grundrechte oder der Rechte aus Art. 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 GG angezeigt ist, unter anderem, wenn dem Beschwerdeführer durch die Versagung einer Entscheidung zur Sache ein besonders schwerer Nachteil entstehen würde (§ 93a Abs. 2 lit. b iVm § 90 Abs. 1 BVerfGG).

Das BVerfG besteht aus zwei Senaten (§ 2 Abs. 1 BVerfGG) mit je acht Richtern (§ 2 Abs. 2 BVerfGG). Die Senate berufen für die Dauer eines Geschäftsjahres mehrere Kammern (§ 15a Abs. 1 Satz 1 BVerfGG) mit je drei Richtern (§ 15a Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).

Die Kammer kann die Annahme einer Verfassungsbeschwerde ablehnen (§ 93b Satz 1 Var. 1 BVerfGG). Ist die Annahme einer Verfassungsbeschwerde zur Durchsetzung der Grundrechte oder der Rechte aus Art. 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 GG angezeigt und ist die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgebliche verfassungsrechtliche Frage durch das BVerfG bereits entschieden, kann die Kammer die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung annehmen und ihr stattgeben, wenn sie offensichtlich begründet ist (§ 93b Satz 1 Var. 2 iVm § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Im Übrigen entscheidet der Senat über die Annahme (§ 93b Satz 2 BVerfGG).

Im Jahr 2018 erledigten die Senate des BVerfG insgesamt 27 Verfassungsbeschwerden, davon 12 durch Stattgabe und 15 durch Zurückweisung. Die Kammern des BVerfG erledigten im Jahr 2018 insgesamt 5.826 Verfassungsbeschwerden, davon 86 durch Stattgabe und 5.740 durch Nichtannahme.1

Diese Statistik macht deutlich, wie groß der Anteil der Rechtsprechung der Kammern des BVerfG an der Rechtsprechung des BVerfG insgesamt ist. Vor dem Hintergrund der Regelung der Annahme bzw. Nichtannahme von Verfassungsbeschwerden durch die Kammern des BVerfG werfen ihre Zahlen die Frage auf, wie die Rechtsprechung der Kammern des BVerfG sich zur Rechtsprechung der Senate des BVerfG verhält. Diese Frage soll im Folgenden anhand von ←15 | 16→Kammerrechtsprechung untersucht werden, die sich mit der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) im Strafvollzug auseinandersetzt.

Gegenstand der Kammerrechtsprechung in Bezug auf die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) im Strafvollzug sind die Haftdauer (Erstes Kapitel), die Vollzugsgestaltung (Zweites Kapitel), der Haftraum (Drittes Kapitel), die Briefüberwachung im Strafvollzug (Viertes Kapitel) und Krankheit im Strafvollzug (Fünftes Kapitel).

Jedes Kapitel beginnt mit einem Überblick über die gesetzliche Regelung der in Rede stehenden Situation oder Frage des Strafvollzugs. Soweit die Kammerrechtsprechung auf spezielle Senatsrechtsprechung oder Senatsentscheidungen, die ähnliche Rechtsfragen betreffen, zurückgreifen kann, ist dem Abschnitt Kammerrechtsprechung ein Abschnitt Senatsrechtsprechung vorangestellt.

Die in dieser Untersuchung behandelten Senatsentscheidungen werden nur auszugsweise, nämlich nur in dem Umfang dargestellt, der erforderlich ist, damit das Verhältnis der Kammerrechtsprechung zur Senatsrechtsprechung nachvollzogen werden kann. Eine kritische Auseinandersetzung mit den behandelten Senatsentscheidungen findet sich im Zusammenhang der Behandlung der entsprechenden Kammerentscheidungen.

Die in dieser Untersuchung behandelten Kammerentscheidungen werden unter Voranstellung des zu Grunde liegenden Sachverhalts, eines Überblicks über die vorangegangenen Gerichtsverfahren und des Vorbringens des Beschwerdeführers im Umfang ihrer tragenden Gründe dargestellt.

Kammerentscheidungen, deren Begründung zu kurz ist, als dass sie im Einzelnen nachvollzogen werden könnte, werden in dieser Untersuchung nicht behandelt.

Soweit die tragenden Gründe einer Kammerentscheidung sich mit denen einer früheren Kammerentscheidung decken, werden sie entsprechend komprimiert dargestellt. Auf Kammerentscheidungen, deren tragende Gründe sich mit denen einer früheren Kammerentscheidung voll und ganz decken, wird ausschließlich verwiesen.

←16 | 17→

Erstes Kapitel: Haftdauer

Eine lebenslange Freiheitsstrafe wird nicht zwangsläufig ein Leben lang vollstreckt. Nach § 57a StGB kann vielmehr die weitere Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden (I). Der am 1. Mai 19822 in Kraft getretene § 57a StGB geht zurück auf das Urteil des Ersten Senats über die Verfassungsmäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe3 aus dem Jahr 1977.4 Dieses Urteil und weitere, zum Teil in einem ganz anderen Zusammenhang ergangene Senatsentscheidungen (II) sind die Basis der Kammerrechtsprechung in Bezug auf Haftdauer und Menschenwürde (III), die im Jahr 1991 beginnt.

I. Überblick über die gesetzliche Regelung

Das Gericht setzt die Vollstreckung des Rests einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung aus, wenn fünfzehn Jahre verbüßt sind (§ 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB)5, nicht die besondere Schwere der Schuld des Verurteilten die weitere Vollstreckung gebietet (§ 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB), die Strafaussetzung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann (§ 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 iVm § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB)6 und der Verurteilte einwilligt (§ 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 iVm § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StGB).

Bei der Entscheidung über die Strafaussetzung sind insbesondere die Persönlichkeit des Verurteilten, sein Vorleben, die Umstände seiner Tat, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, das Verhalten des Verurteilten im Vollzug, seine Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Strafaussetzung für ihn zu erwarten sind (§ 57a Abs. 1 Satz 2 iVm § 57 Abs. 1 Satz 2 StGB).

←17 | 18→

Zuständig für die Entscheidung über die Strafaussetzung ist die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts7, in deren Bezirk die Justizvollzugsanstalt liegt, in die der Verurteilte aufgenommen ist (§ 462a Abs. 1 Satz 1 StPO). Die Strafvollstreckungskammer trifft die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss (§ 454 Abs. 1 Satz 1 StPO). Die Staatsanwaltschaft, der Verurteilte und die Justizvollzugsanstalt sind zu hören. Der Verurteilte ist mündlich zu hören (§ 454 Abs. 1 Sätze 2 und 3 StPO).

Die Strafvollstreckungskammer holt das Gutachten eines Sachverständigen über den Verurteilten ein, wenn sie erwägt, die Vollstreckung des Rests der lebenslangen Freiheitsstrafe auszusetzen (§ 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StPO). Das Gutachten hat sich namentlich zu der Frage zu äußern, ob bei dem Verurteilten keine Gefahr mehr besteht, dass seine durch die Tat zu Tage getretene Gefährlichkeit fortbesteht (§ 454 Abs. 2 Satz 2 StPO).

Gegen die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer ist sofortige Beschwerde des Verurteilten oder der Staatsanwaltschaft zulässig (§ 454 Abs. 3 Satz 1 StPO). Beschwerdegericht ist das Oberlandesgericht (§ 121 Abs. 1 Nr. 2 GVG).

II. Senatsrechtsprechung

Basis der Kammerrechtsprechung in Bezug auf Haftdauer und Menschenwürde sind im Wesentlichen sechs Senatsentscheidungen. Vier davon betreffen lebenslange Freiheitsstrafen. In den zwei übrigen Entscheidungen geht es um Unterbringungen in psychiatrischen Krankenhäusern.

1. Lebenslange Freiheitsstrafe

Im schon genannten Urteil aus dem Jahr 1977 formuliert der Erste Senat verfassungsrechtliche Maßstäbe für die Dauer des Vollzugs einer lebenslangen Freiheitsstrafe.

Im zu Grunde liegenden Verfahren – einem Vorlageverfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG – hatte der Senat darüber zu entscheiden, ob § 211 StGB verfassungsgemäß sei, soweit er bestimmt, dass der Mörder mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft wird.8

←18 | 19→

Der Senat erklärte § 211 StGB für mit dem Grundgesetz nach Maßgabe der Urteilsgründe vereinbar.9 „Die Menschenwürde“ sei „nicht verletzt“, wenn der Vollzug einer lebenslangen Freiheitsstrafe „wegen fortdauernder Gefährlichkeit des Gefangenen notwendig ist“.10 Bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe habe sich allerdings gezeigt, „daß ein menschenwürdiger Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe nur dann sichergestellt ist, wenn der Verurteilte eine konkrete und grundsätzlich auch realisierbare Chance hat, zu einem späteren Zeitpunkt die Freiheit wiedergewinnen zu können“. Denn „der Kern der Menschenwürde“ werde „getroffen, wenn der Verurteilte ungeachtet der Entwicklung seiner Persönlichkeit jegliche Hoffnung, seine Freiheit wiederzuerlangen, aufgeben muß“.11

„Auf dem Gebiet der Strafrechtspflege, auf dem höchste Anforderungen an die Gerechtigkeit gestellt werden“, bestimme „Art. 1 Abs. 1 GG die Auffassung vom Wesen der Strafe und das Verhältnis von Schuld und Sühne“. Nach dem „Grundsatz ‚nulla poena sine culpa‘ “ müsse jede Strafe „in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Straftat und zum Verschulden des Täters stehen“. Die Verpflichtung des Staats zur Achtung der Menschenwürde bedeute „insbesondere, daß grausame, unmenschliche und erniedrigende Strafen verboten sind“. Der Täter dürfe „nicht zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung unter Verletzung seines verfassungsrechtlich geschützten sozialen Wert- und Achtungsanspruchs gemacht werden“. Die „grundlegenden Voraussetzungen individueller und sozialer Existenz des Menschen“ müssten „erhalten bleiben“. Aus Art. 1 Abs. 1 GG iVm dem Sozialstaatsprinzip sei deshalb „insbesondere für den Strafvollzug“ die Verpflichtung des Staats abzuleiten, „jenes Existenzminimum zu gewähren, das ein menschenwürdiges Dasein überhaupt erst ausmacht. Mit einer so verstandenen Menschenwürde wäre es unvereinbar, wenn der Staat für sich in Anspruch nehmen würde, den Menschen zwangsweise seiner Freiheit zu entkleiden, ohne daß zumindest die Chance für ihn besteht, je wieder der Freiheit teilhaftig werden zu können“.12

Details

Seiten
184
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631797235
ISBN (ePUB)
9783631797242
ISBN (MOBI)
9783631797259
ISBN (Paperback)
9783631797129
DOI
10.3726/b15939
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (September)
Schlagworte
Verfassungsbeschwerde Art. 1 Abs. 1 GG Kammerrechtsprechung Freiheitsstrafe lebenslang
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 184 S.

Biographische Angaben

Nora Thies (Autor:in)

Nora Thies studierte Rechtswissenschaft an der Universität Konstanz, dem Trinity College Dublin und der Humboldt-Universität zu Berlin, wo sie auch promovierte.

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