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Dokumentarfilm als Medium der Erinnerungspolitik in Spanien

von Johanna Pumb (Autor:in)
©2019 Dissertation 310 Seiten

Zusammenfassung

Die Unterlegenen des Spanischen Bürgerkriegs erlitten unter dem Diktator Franco starke Repressionen. Im öffentlichen Diskurs gab es nur das Narrativ der Sieger. Im Dokumentarfilm «La vieja memoria» (1977) sah man erstmals ein Gespräch zwischen Menschen unterschiedlicher Bürgerkriegslager – eine Montage, von Jaime Camino erstellt aus rund 25 Stunden Interviewmaterial. Es entstand ein multiperspektivisches Werk, das auch das Gedächtnis als solches thematisierte. Diese Studie analysiert den Film erstmals unter Einbezug des unveröffentlichten Materials und erforscht die Möglichkeiten des Dokumentarfilms im Vergangenheitsdiskurs. Dafür wird kulturtheoretisch der Zusammenhang von Gedächtnis und Gesellschaft erörtert und die spanische Geschichte mit dem Wandel der Erinnerungspolitik dargestellt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort und Danksagung
  • Inhaltverzeichnis
  • Einleitung
  • Forschungsstand
  • Methodisches Vorgehen
  • 1 Erinnerungspolitik
  • 1.1 Erinnerungspolitik – Begriffsdebatten
  • 1.2 Gedächtnistheorien
  • 1.2.1 Soziales Gedächtnis
  • 1.2.2 Kollektives Gedächtnis
  • 1.2.3 Kommunikatives Gedächtnis
  • 1.2.4 Kulturelles Gedächtnis
  • 1.2.5 Erinnerungskultur
  • „Memoria histórica“
  • 1.2.6 Individuelles Gedächtnis – „wahre“ und „falsche“ autobiographische Erinnerungen
  • 1.3 Kampf um Erinnerung – Erinnerung und Politik
  • 1.3.1 Akteure und Inhalte
  • 1.3.2 Instrumente
  • Gedenktage
  • Schweigen
  • Kritik an Instrumenten der Erinnerungspolitik
  • 1.3.3 Erinnerung und politisches System
  • 1.3.4 Gegengedächtnis
  • 1.4 Visualisierung von Erinnerung
  • 1.4.1 Gedächtnis und Medientheorie
  • 1.4.2 Gedächtnis und Massenmedien – Erinnerungsfilm
  • 1.4.3 Dokument und Realitätsbezug
  • Realitätsdebatte: fiktivisierende und dokumentarisierende Lektüre
  • 1.4.4 Methoden der Visualisierung von Erinnerung
  • 2 Erinnerungspolitik in Spanien
  • 2.1 Spanischer Bürgerkrieg
  • 2.1.1 Internationale Einmischung
  • 2.1.2 Internationale Brigaden
  • 2.1.3 Die Nichtinterventionspolitik
  • 2.1.4 Gewalt und Terror
  • 2.2 Diktatur
  • 2.2.1 Außenpolitik
  • 2.2.2 Francos Tod
  • 2.2.3 Die Rolle der katholischen Kirche
  • 2.3 Transition
  • 2.4 Demokratie
  • 2.4.1 Das Schweigen der ersten Jahre
  • 2.4.2 Erste Risse im Schweigen
  • 2.4.3 Das Ende des Schweigens
  • 2.4.4 Mythos Transition
  • 2.4.5 Neofranquismus
  • 2.4.6 Opferdebatte
  • 2.4.7 Erinnerung in den Autonomieregionen
  • 3 La vieja memoria
  • 3.1 Entstehungshintergrund
  • 3.1.1 Der Regisseur Jaime Camino
  • 3.1.2 Politischer Hintergrund
  • 3.1.3 Erinnerungspolitik im Film der Transition552
  • 3.1.4 Dokumentarfilm in der Transition
  • 3.1.5 Der Film La vieja memoria im Vergleich
  • 3.1.6 Der Film La vieja memoria
  • 3.1.7 Interviewführung – Interviewsituation
  • 3.1.8 ZeitzeugInnen
  • Diego Abad de Santillán
  • Eduardo de Guzmán
  • Ricardo Sanz
  • Federica Montseny
  • Ramón Fernández Jurado
  • Maria Rovira
  • Miquel Utges
  • Francesc Benages
  • Julián Gorkin
  • Enrique Líster
  • Dolores Ibárruri
  • Rafael Vidiella
  • Jaume Miravitlles
  • Frederic Escofet
  • Josep Tarradellas
  • David Jato
  • Raimundo Fernández Cuesta
  • Fernándo García Teresa
  • José Luis de Vilallonga
  • José María Gil Robles
  • 3.2 Strukturanalyse von La vieja memoria
  • 3.2.1 Inhalt und Aufbau
  • 3.2.2 Montage und Inszenierung
  • Archivmaterial: Filme und Fotografien
  • Archivmaterial: Poesie, Tagebücher, Liedgut
  • 3.3 Feinanalyse: Gedächtnis und Gegengedächtnis – divergierende Erinnerungen und institutionelles Gedächtnis in La vieja memoria
  • 3.3.1 Die Zweite Republik
  • 3.3.2 Der Putschversuch
  • Der Straßenkampf in Barcelona
  • Wer war für die erfolgreiche Niederschlagung verantwortlich?
  • 3.3.3 Der Bürgerkrieg
  • Alcázar de Toledo
  • Defensa de Madrid
  • Die Maiereignisse
  • War der Krieg vermeidbar?
  • 3.3.4 Krieg oder Revolution?
  • Kollektivierungen
  • 3.3.5 Gewalt
  • 3.3.6 Niederlage der Republik
  • 3.3.7 Die Spaltung innerhalb der Linken
  • 3.3.8 Heute- und Zukunftsbezüge
  • 3.4 Reaktionen
  • 3.4.1 Linke, liberale und moderate Presse
  • 3.4.2 Rechte Presse
  • 3.4.3 Dokument oder Kunst?
  • 3.4.4 Wiederaufführungen zu Jubiläen
  • Zusammenfassung
  • Jaime Camino als erinnerungspolitischer Akteur
  • Gedächtnisreflexivität und antagonistischer Modus
  • Dokumentarfilm als Medium der Erinnerungspolitik
  • Literaturverzeichnis

Einleitung

Im Januar 1977 traf der katalanische Regisseur Jaime Camino in Madrid den Anarchisten Diego Abad de Santillán zum Interview, um ihn zu seinen Erinnerungen an den Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939) zu befragen. Diesem Interview folgten rund zwanzig weitere, die Camino in mehreren europäischen Ländern mit Menschen führte, die auf unterschiedlichen Seiten am Kriegsgeschehen beteiligt gewesen waren. Aus dem entstandenen Material schuf er den Dokumentarfilm La vieja memoria (dt. Titel: Alte Erinnerungen). Zu den Interviewten zählten prominente Persönlichkeiten wie die kommunistische Führerin Dolores Ibárruri, auch bekannt als „La Pasionaria“, die unter anderem den Schlachtruf ¡No pasarán! (Sie werden nicht durchkommen!) geprägt hatte. Als der Film 1978 erstmals in den spanischen Kinos gezeigt wurde, hatte er eine große Wirkung auf das Publikum. Auf der Leinwand waren Menschen zu sehen, die nach Kriegsende vor der Diktatur des siegreichen Generals Francisco Franco ins Ausland geflohen waren. Denn die Unterlegenen des Bürgerkrieges waren starken Repressionen ausgesetzt, viele von ihnen wurden auch in der Nachkriegszeit noch inhaftiert, gefoltert und ermordet. Doch die Repressionen galten nicht nur den Lebenden. Während die Toten der siegreichen Rechten, die „für Gott und Vaterland“ gefallen waren, öffentlich betrauert wurden, wurden die Toten der Unterlegenen aus der offiziellen Erinnerung der Diktatur verdrängt.

Dann, fast vier Jahrzehnte nach Ende des Krieges, einer Zeit, in der sie entweder diffamiert worden waren oder nicht über sie gesprochen werden durfte, sah man plötzlich die wichtigsten VertreterInnen der Kriegsverlierer neben den Siegern des Krieges auf der Leinwand wieder. Auch Unbekannte gehören zu den ZeitzeugInnen des Films, wie etwa Fernando García Teresa, der als junger Falangist in Barcelona im Juli 1936 an dem Aufstand teilgenommen hatte, aus dem der Bürgerkrieg hervorging. Denn die Aufständischen waren auf starken Widerstand gestoßen und hatten drei Jahre lang gemeinsam mit ihren Unterstützern gegen diverse linke Gruppierungen und Anhänger der Republik gekämpft.1

←13 | 14→

Franco starb 1975; kurz darauf wurden mehrere Dokumentarfilme veröffentlicht, die sich dem Bürgerkrieg widmeten und dabei auf Erzählungen zurückgriffen, die zuvor unterdrückt worden waren. Doch Camino gab in La vieja memoria nicht nur zum ersten Mal auch den Unterlegenen des Bürgerkrieges eine Stimme, sondern er montierte darüber hinaus ihre Erinnerungen zusammen mit denen der Sieger. So entstand auf künstliche und künstlerische Weise ein Gespräch zwischen zwanzig ganz unterschiedlichen und teils verfeindeten AkteurInnen des Krieges (moskautreue und moskaukritische KommunistInnen, Falangisten, Rechte, AnarchistInnen, Republikaner). Camino befragte somit nicht nur Menschen mit unterschiedlichem sozialem Hintergrund, sondern auch mit unterschiedlicher politischer Ausrichtung. Allen Interviewten wurde das Recht auf die eigene Erinnerung zugestanden.

Der Film setzt sich mit dem Prozess des Erinnerns auseinander und macht die sozialen Funktionen des Gedächtnisses, das Vergewissern, das Legitimieren, das Vergemeinschaften deutlich. Camino war dabei von dem Willen angetrieben, einen Wandel in der spanischen Erinnerungspolitik einzuleiten: „In wie vielen Klassenzimmern, in wie vielen Zeitungen und Pamphleten, in wie vielen Reden hat der Sieger darauf bestanden, sich selbst und das ganze Volk davon zu überzeugen, mittels der Diffamierung des Gegners, dass sein Sieg gerecht war! Es ist an der Zeit, jedem zu geben, was ihm zusteht, und die wahren Gesichter der Menschen zu zeigen.“2

In meiner Arbeit liegt der Fokus auf Jaime Camino als wichtigem erinnerungspolitischem Akteur. Caminos Rolle bei La vieja memoria ist sehr vielschichtig: So stellt er unterschiedliche Narrative vor und fügt sie zu einem Mosaik zusammen, aus dem die Komplexität der Vergangenheit hervorgeht.

Die Funktion des Narrativs beschreibt der Literatur- und Kulturwissenschaftler Wolfgang Müller-Funk: „Narrative stiften Sinn, nicht auf Grund ihrer jeweiligen Inhalte, sondern auf Grund der ihnen eigenen strukturellen ←14 | 15→Konstellationen: weil sie eine lineare Ordnung des Zeitlichen etablieren.“3 Der Begriff Narration im Vergleich zu Narrativ beschreibt vor allem den Akt des Erzählens,4 bei dem das Narrativ produziert wird, und deutet auf den performativen Aspekt dabei hin. Es besteht also neben den Ereignissen des narrativen Inhalts eine zweite handelnde Ebene, in der zwei Positionen vorkommen: der Erzähler oder Autor auf der einen und der Zuhörer oder Rezipient auf der anderen Seite.5 Narrationen verbinden Handlungen, Ereignisse, Akteure und Objekte miteinander und bieten dadurch Werte und Handlungsorientierungen. Narrationen liefern Kategorisierung und Identifikation, wobei nicht nur Personen innerhalb der Erzählung, sondern auch die Erzählenden positioniert und mit Ereignissen in einen zeitlichen Ablauf gesetzt werden.6 Bei der Narration von Geschehnissen der Vergangenheit bilden die „zeitverschobenen“ Narrative die Brücke zwischen der Gegenwart, also dem Moment des Erzählens, und der Zeit des Geschehens.7

Camino thematisiert in La vieja memoria die Funktionsweise des Gedächtnisses, mit seinen Legitimierungs- und Identifikationsprozessen. Und auch wenn die Worte von seinen ZeitzeugInnen stammen, so ist er es doch, der ihnen ←15 | 16→eine Bühne gibt und sie in die Öffentlichkeit bringt und sie darüber hinaus miteinander in Beziehung setzt.

In dieser Arbeit werden die im Film präsentierten (Gegen-)Erinnerungen untersucht und mit den zuvor herausgearbeiteten Mustern der institutionellen Erinnerungspolitik in Spanien verglichen. Die Leitfragen sind, inwieweit sich die Erzählungen der ZeitzeugInnen im Film mit der offiziellen Erinnerungspolitik zum Spanischen Bürgerkrieg decken und an welchen Stellen sich alternative Deutungsmuster der Vergangenheit zeigen oder sich sogar ein Wandel in der Erinnerungspolitik andeutet. Von dieser Untersuchung ausgehend wird dann beleuchtet, welche Bedeutung der Umgang mit abweichenden Erinnerungen in einer Gesellschaft hat und wie dieser zu meistern ist. Welche Rolle kann dabei der Film als Erinnerungsmedium einnehmen?

Jaime Camino beteiligte sich mit seinem Film an der mühsamen Arbeit des Landes auf dem Weg zur Demokratie, der sogenannten transición. Er forderte die Menschen zum Dialog auf. Denn er schnitt die Interviews so zusammen, dass die ZeitzeugInnen sich in ihren Erinnerungen abwechseln und es wirkt, als würden sie miteinander ein zeitweilig hitziges Gespräch über den Spanischen Bürgerkrieg, seine Gründe und Folgen führen. Mit dieser Debatte konfrontierte Camino die spanische Gesellschaft der Transition, die im Übergang von der Diktatur zur Demokratie auch auf der Suche nach neuen Erzählweisen über die Vergangenheit war. Damit schuf er auf künstliche Weise eine Diskussion zwischen den unterschiedlichen Kriegsparteien, die bis heute in der realen Vergangenheitsaufarbeitung nicht stattgefunden hat. Denn die erinnerungspolitischen Perspektiven, die der Film eröffnete, wurden nicht weiter verfolgt. Statt einer multiperspektivischen Konfrontation mit der Vergangenheit, wie sie Camino in La vieja memoria zeigte, wurde das Beschweigen als bestes Mittel für die Wahrung des Friedens und für einen gelingenden Übergang von der Diktatur zur Demokratie gesehen. Auf politischer Ebene hatte man sich darauf geeinigt, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Und spätestens mit dem Putschversuch des Oberstleutnants der Guardia Civil Antonio Tejero im Februar 1981 kehrte die Angst vor einem erneuten Aufbrechen des Konfliktes in die Gesellschaft zurück und führte zu einem Verstummen derjenigen, die zuvor eine Aufarbeitung der Vergangenheit gefordert hatten. Es sollten noch rund zwanzig Jahre vergehen, bis das Leid, das während der Diktatur und auch während des Krieges zugefügt worden war, in einer breiten Öffentlichkeit anerkannt werden konnte. Erst mit einem weiteren Generationswechsel begannen um die Jahrtausendwende nunmehr die Enkel, verstärkt nach ihren „verschwundenen“ Angehörigen zu fragen, den anderen Opfern des Bürgerkrieges, die in ganz Spanien seit den 1930er Jahren vergraben liegen, etwa in Straßengräben, Brunnen oder an ←16 | 17→Friedhofsmauern. Es bildete sich eine Bewegung zur Recuperación de la Memoria Histórica (Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses), wie der Prozess in Spanien genannt wird, die auch begann, Massengräber mit wissenschaftlicher Unterstützung zu öffnen. Von den offiziell genannten weit über 2000 Massengräbern (innerhalb der Gedächtnisbewegung geht man von der doppelten Anzahl aus) wurde bislang nicht einmal ein Viertel geöffnet. Es werden noch immer rund 100 000 Menschen vermisst.8

Seither kommen immer mehr die Geschichten der Besiegten an die Öffentlichkeit – was nicht ohne Reaktionen der Rechten geblieben ist, die an den Narrativen der Franco-Zeit festhält. Und die Verlage, auch rechtsgerichtete, profitieren von diesem „Erinnerungsboom“, der sich eben auch im kulturellen Angebot widerspiegelt. So erschienen zahlreiche Bücher und Filme über die jüngere Vergangenheit.9 Auf politischer, kultureller und wissenschaftlicher Ebene streitet die spanische Gesellschaft nun darum, wie mit der Gewalt und dem Unrecht von Bürgerkrieg und Diktatur umgegangen werden soll. Je nach Machtverhältnis zwischen konservativen und linken Parteien im Parlament wird dabei mal mehr, mal weniger für eine politische „Aufarbeitung“ der Vergangenheit gekämpft. Doch den größten Anteil an der „Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses“ haben gesellschaftliche Bewegungen und Gruppierungen. Sie sind es, die damit begonnen haben, Gräber zu öffnen, sie veranstalten Demonstrationen, auf denen Gerechtigkeit für die bisher beschwiegenen Opfer gefordert wird. Bürgergruppen sind es aber auch, die sich etwa gegen eine Umbenennung ihrer Dörfer einsetzen, die nach dem Caudillo (dt. „Führer“) Franco benannt sind.10 Auch sie gehen auf Demonstrationen, teils organisiert von der faschistischen Falange, sie bezeichnen den neuen Umgang mit der spanischen Geschichte als Instrumentalisierung der Opfer und als Racheakt, und sie sind dagegen, „alte Wunden aufzureißen“. Das Spannungsfeld der spanischen Erinnerungskultur – zwischen Vergessen und Verdrängen einerseits, und Aufarbeiten und Ausgraben andererseits – wird hier greifbar.

Die Gräben innerhalb der spanischen Gesellschaft scheinen unüberwindbar, die erinnerungspolitische Positionierung durch die jeweilige Familiengeschichte vorgegeben. Ein Gespräch zwischen denen, deren Vorfahren entweder mit oder ←17 | 18→gegen die Aufständischen gekämpft, unter der Diktatur gelitten oder gut gelebt haben, scheint unmöglich.

Doch wie ließe sich ein zukünftiger Umgang mit der Vergangenheit, der sich nicht nur an einzelne Gruppierungen richtet, gestalten? Der öffentliche Umgang mit dem Bürgerkrieg und der Diktatur unterliegt einem steten Wandel, denn je nach (politischen) Interessen verlangt es nach einer ganz bestimmten Erzählweise der Vergangenheit, die das eigene Handeln rechtfertigt. So verhält es sich auf „oberster Ebene“, etwa zwischen politischen Parteien, aber auch beim Individuum. Medien können bei diesem Prozess sowohl in der Aufzeichnung als auch in der Verbreitung von (individuellen) Erinnerungen eine große Rolle spielen. Speziell der Dokumentarfilm kann dabei helfen, eben solche Geschichten zu erzählen. Wenn man dem Dokumentarfilm diese gesellschaftliche Aufgabe zutraut, spricht man ihm damit auch die Möglichkeit der Förderung einer demokratischen Auseinandersetzung zu. Dann gilt es, den Dokumentarfilm an den Ansprüchen eines der demokratischen Gesellschaft angemessenen Gedenkens zu messen: Dieses sollte unterschiedliche Narrative einschließen und gleichzeitig sollten in der Erinnerungsarbeit die Schwierigkeiten bis hin zur Unmöglichkeit eines „richtigen“ Gedenkens mitgedacht und offen thematisiert werden. Damit könnte verhindert werden, von einem ausschließenden Erinnern in das nächste zu verfallen. Camino führte mit La vieja memoria die Möglichkeit eines diskursiven Erinnerns in beeindruckender Weise vor. Auch wenn der Film bereits vor vierzig Jahren entstanden ist, so ist er doch bis heute nicht nur ein kostbares Zeitdokument, das allerdings weder zu seiner Entstehungszeit noch danach einem wirklich großen Publikum bekannt ist. La vieja memoria zeugt nämlich auch von der Suche, wie sich der Dokumentarfilm als politisches Medium positionieren kann, welches das gesellschaftliche Gedenken an die Vergangenheit prägt und damit auch das Selbstverständnis eines Landes.

Camino hat mit seinen Interviews versucht, möglichst viele und vielfältige Erinnerungen und Erzählungen aufzuzeichnen. Dabei sind über zwanzig Stunden Material zusammengekommen, das Jaime Camino 1989 an die Filmoteca de Catalunya in Barcelona übergeben hat. Dort lagerten die 170 Filmrollen rund zwanzig Jahre, bis sie von Ferrán Alberich restauriert und digitalisiert wurden.11 ←18 | 19→Ich habe im Juli 2013 ein Interview mit Ferrán Alberich führen können. Dieser berichtete, dass er zu Beginn der Restaurationsarbeiten in Kontakt mit Camino war, der das Interesse an diesem Material, seinen Resten, jedoch nicht nachvollziehen konnte. 2010 wurde Esteve Riambau Direktor der Filmoteca de Catalunya, der in engerem Kontakt mit Camino stand. Camino sah sich einen Teil des restaurierten Materials an. An dem Zustand des Materials wird deutlich, dass Camino es nicht als Archiv für die Nachwelt geplant hatte, da er es sonst geordnet hätte. Alberichs Arbeit dauerte über ein Jahr und war sehr anspruchsvoll, ähnelte sie doch einem Puzzlespiel, bei dem der Restaurator aus einzelnen Stückchen die jeweiligen Interviews aus Bild- und Tonmaterial lippenlesend wieder zusammensetzen musste – wobei es auch Tonmaterial ohne dazugehörigen Film gab und umgekehrt Filmmaterial, bei dem der Ton fehlte. Die fertige Arbeit ist vor Ort in der Filmoteca einsehbar, was erstmals im Sommer 2013 für die vorliegende Arbeit getan wurde. Das Material bietet viele Erkenntnisse, im Hinblick auf den Schaffensprozess des Films und die Hintergründe der Aufnahmen. Diese Informationen ergänzen die Filmanalyse dieser Arbeit, deren zentrale Fragestellung sich folgendermaßen zusammenfassen lässt: Wie ist die erinnerungspolitische Funktion(sweise) von La vieja memoria und welche Schlüsse ergeben sich aus der Filmanalyse für das Konzept von Erinnerungspolitik mittels Dokumentarfilm?

Forschungsstand

Der Dokumentarfilm als Medium der Erinnerungspolitik in Spanien ist bisher kaum erforscht worden. Über die Verarbeitung der spanischen Vergangenheit in der (vor allem fiktionalen) Literatur ist wesentlich mehr Material vorhanden.12 Ein Grundlagenwerk zum „Bürgerkrieg auf der Leinwand“ stammt jedoch vom renommierten und sehr produktiven Filmwissenschaftler und (Drehbuch-)Autor Roman Gubern, der auch an La vieja memoria mitgearbeitet hat. In 1936–1939: La guerra de España en la pantalla13 aus dem Jahr 1986 liegt der Schwerpunkt allerdings auf den Filmen, die während des Krieges entstanden sind, wobei Gubern die unterschiedlichen Kriegsparteien mit ihren jeweiligen Produktionen vorstellt, etwa die anarchistische Filmproduktion. Doch Gubern widmet sich auch Produktionen, die in der Nachkriegszeit entstanden sind, auch im internationalen Kontext, bis hin zu „aktuellen“ Filmen aus den 1980er Jahren. ←19 | 20→Dabei ist natürlich zu bedenken, dass die neuesten Entwicklungen, vor allem nach dem sogenannten „Erinnerungsboom“, nicht darin vorkommen. Dem Autor ist sowohl sein fundiertes Wissen anzumerken, als auch seine Praxiserfahrung, liefert er als Akteur des spanischen Films doch zahlreiche Hintergrundinformationen „aus erster Hand“. Guberns Studie ist als Überblick konzipiert und als solcher sehr gut umgesetzt, geht aber dementsprechend auch nicht in die Tiefe und konnte darum „nur“ als erster Ausgangspunkt meiner Forschung dienen.

Die Arbeit La Guerra Civil Española: cine y propaganda des Historikers Magí Crusells14 befasst sich in einem Abschnitt von über dreißig Seiten mit La vieja memoria und ist die mit Abstand umfangreichste Behandlung des Films. Der Autor hat am 12. Januar 2000 mit dem Regisseur ein Interview geführt, aus dem er auch umfassend zitiert. Das macht diese Arbeit besonders interessant, denn Camino erzählt diverse Anekdoten zur Filmproduktion, die sonst so nicht zu finden sind. Allerdings schildert Crusells auch wiederholt Gegebenheiten und Informationen, die teils stark abweichen von Inhalten aus Interviews, die Camino zur Entstehungszeit des Films gegeben hat. Das ist nicht unbedingt verwunder- oder gar verwerflich, schließlich geht es um Details zu Ereignissen, die fast 25 Jahre zurückliegen. Crusells bezieht zu den Widersprüchen jedoch keine Stellung. Die Analyse des Films strukturiert er in verschiedene thematische Blöcke, die durch kurze (teils nur ein paar Zeilen umfassende) Angaben zum historischen Hintergrund eingeleitet werden und dann hauptsächlich im Abdrucken der Aussagen der Interviewten bestehen, teils über fünf Seiten am Stück. Dazu finden sich an einigen Stellen noch Fußnoten mit Anmerkungen zum geschichtlichen Kontext. Insofern konnte meine eigene Analyse kaum auf Ergebnissen aus Crusells’ Analyse aufbauen.

Auch der Filmhistoriker Sánchez-Biosca hat sich in seinem Buch Cine y Guerra Civil Española von 2006 mit dem Spanischen Bürgerkrieg im Film befasst.15 Dabei geht es ihm jedoch nicht darum, einen vollständigen Katalog oder eine komplette Filmgeschichte vorzulegen. Stattdessen behandelt er Filme, die auf besondere Weise Mythen des Bürgerkrieges transportiert haben, die ganz bestimmte Bilder (im wahrsten Sinne des Wortes) des Krieges überliefert haben und die sich teils in ebendiesen Vergangenheitsdarstellungen aufeinander ←20 | 21→bezogen haben und als Reaktion zu verstehen sind.16 Sánchez-Biosca geht dabei chronologisch vor, von den Produktionen der Kriegsparteien bis zu den Filmen der Gegenwart. Er fragt ebenso nach den Möglichkeiten und Risiken bei der Repräsentation der Geschichte in der Zukunft. Besonders interessant sind die Verbindungen, die er zwischen einzelnen Filmen aufzeigt. Für diese Arbeit relevant war vor allem der Abschnitt zu Filmen über den Bürgerkrieg während der Transition, die sich mit den (filmischen) Erzählungen unter Franco kritisch auseinandergesetzt haben. Dabei geht der Autor auf etwa acht Seiten auch auf La vieja memoria ein. Sánchez-Biosca liefert einige relevante Informationen, da er Zugang zum Archiv der verantwortlichen Filmfirma hatte und Camino am 5. Februar 2004 interviewen konnte. Es fehlt jedoch, wie in diesem Rahmen auch kaum möglich, eine genauere Analyse des Films. Stattdessen geht er gezielt darauf ein, wie Camino mit dem Konzept von Gedächtnis umgegangen ist, welches Verständnis dieser von Erinnerung hatte und im Film überlieferte. Er betont das Dialoghafte und Entmythisierende von Caminos Montage. Damit trifft Sánchez-Biosca einen wichtigen Kern dieses Werkes, der in meiner Arbeit weiter ausgeführt wird.

Auch in Deutschland wurde sich dem Thema „Spanischer Bürgerkrieg im Film“ angenommen. In dem Sammelband Fliegerträume und spanische Erde, herausgegeben von Wolfgang Martin Hamdorf und Clara López Rubio, finden sich ganz unterschiedliche Beiträge, sowohl zu einzelnen Filmen bzw. Regisseuren, als auch zur filmischen Thematisierung und Propaganda etwa in Nazideutschland, der Sowjetunion oder der DDR.17 Dadurch lässt sich die Herkunft von einigen Teilen des Archivmaterials, das Camino in La vieja memoria verwendete, klären.

Für diese Arbeit war der Beitrag von Julia Macher relevant.18 Die Autorin liefert mit Der Spanische Bürgerkrieg im Film der Transición auf vierzehn Seiten sowohl Informationen zum politischen und gesellschaftlichen Geschehen nach Francos Tod, als auch zum Spielfilm und zum Dokumentarfilm der Transition. Dabei kommt sie auch auf La vieja memoria zu sprechen. Obwohl in diesem Umfang eher überblicksartig, so überzeugt Macher doch vor allem mit ihrem ←21 | 22→Vergleich zwischen Spiel- und Dokumentarfilm, bei dem sie letzterem ein innovatives und erinnerungspolitisches Potenzial zuspricht.

Denn der Dokumentarfilm kann wegen seines oft gesellschaftskritischen Anspruchs und der entsprechenden Erwartung beim Publikum eine ganz besondere Wirkung erzielen (s. Abschnitt 1.4.3 dieser Arbeit) und damit als Medium der Erinnerungspolitik eine herausragende Rolle einnehmen. Im Sammelband Imagen, memoria y fascinación,19 der sich dem spanischen Dokumentarfilm widmet, hat sich Alejandro Montiel mit La vieja memoria befasst.20 Der Dozent für Filmgeschichte widmet sich in seiner etwa fünfseitigen Analyse besonders der Struktur des Films. Vor allem die Kategorisierungen, mit denen Montiel die vielen Personen und Themenwechsel im Anhang in eine tabellenartige Übersicht bringt, sind sehr interessant und innovativ. Seine Einteilung ist jedoch nicht immer bis ins letzte Detail konsequent und überzeugend (s. mehr zu Montiels Ansatz unter Abschnitt 3.2.2). Trotz einiger fehlerhafter Angaben zeichnet sich dieser Text aber gerade durch die systematische Darstellung der Filmstruktur aus – und durch die Fußnoten. Denn darin verweist Montiel auf einige Fehler, die immer wieder in Besprechungen des Films gemacht werden, etwa zum Entstehungsjahr. Somit diente der Beitrag als Anregung für meine eigenen Überlegungen zu einer strukturierten Darstellung dieses äußerst komplexen Films.

Die einzige Biographie zu Jaime Camino stammt von Esteve Riambau, dem jetzigen Leiter der Filmoteca de Catalunya.21 Man merkt ihr das freundschaftliche Verhältnis der beiden Männer an. So sind die Darstellungen in Jaime Camino. La guerra civil i altres históries, auch die Besprechungen aller Filme Caminos, wenig distanziert, geschweige denn kritisch. Der Text orientiert sich zudem stellenweise stark an der bereits erwähnten Arbeit von Gubern. Trotzdem kann Riambau wohl als „der Kenner“ Caminos angesehen werden, der aufgrund seiner persönlichen Beziehung zum Regisseur und in seiner Funktion als Direktor der Filmoteca dafür verantwortlich ist, dass Camino und dessen Arbeit nicht ganz in Vergessenheit geraten.

Da es kaum Forschung gibt, die sich direkt mit La vieja memoria auseinandergesetzt hat, greift die vorliegende Arbeit vor allem auch auf Studien zurück, ←22 | 23→die sich im weitesten Sinne mit den Themengebieten Film und (spanische) Vergangenheitsaufarbeitung befassen. Dazu zählt die aktuelle Arbeit von Caroline Rothauge.22 In Zweite Republik, Spanischer Bürgerkrieg und frühe Franco-Diktatur in Film und Fernsehen stellt sich die Kultur- und Geschichtswissenschaftlerin die Frage, wie popkulturelle Medienangebote als Instrumente der Erinnerungspolitik genutzt werden. Sie untersucht zwölf von ihr sogenannte „Kernquellen“ (erfolgreiche Filme und TV-Serien mit historischem Sujet) aus dem Zeitraum 1996–2011 im Hinblick darauf, auf welche Art welche Geschichtserzählungen dort inszeniert werden. Dabei ordnet sie diese zunächst nach der zentralen Deutungsweise der Werke und fasst die Kernquellen in späteren Abschnitten noch einmal neu zusammen, wobei die von ihr herausgelesenen Handlungsanweisungen, welche die Filme zum Umgang mit der Vergangenheit geben, besonders interessant sind. Die Quellen, die Rothauge vergleicht, sind recht verschieden, und es mangelt an einführenden Erläuterungen, wohl aufgrund der Fülle des Materials. Vielmehr mischt die Autorin die Hinweise zu einzelnen Filmszenen verschiedener Filme mit Informationen zu historischem Hintergrund, politischer Lage in der Entstehungszeit und Rezeptionsgeschichte, was zwar ein einheitlicheres Bild verspricht, stellenweise jedoch dazu führt, dass man der Autorin in ihren Schlussfolgerungen gewissermaßen ausgeliefert ist. Rothauge weist ganz unterschiedliche, einander teils widersprechende Narrative nach. Die Frage, wie Film zu einem „produktiven“ Instrument der spanischen Erinnerungspolitik in der Demokratie werden könnte, spielt in ihrer Forschung jedoch keine Rolle. Dies soll in der vorliegenden Arbeit geschehen. Da Rothauge einen ganz anderen Zeitraum untersucht, ist ihre Studie für diese Arbeit eher als eine Art „Ausblick“ anzusehen, wie es um die Narrative in Filmen steht, die lange nach La vieja memoria geschaffen wurden.

Es gibt zahlreiche Werke zur spanischen Erinnerungskultur, in denen auch Film und dessen Bedeutung, bzw. einzelne Filme behandelt werden, bei denen dieses Medium jedoch nicht im Mittelpunkt steht. Dem Bereich der Erinnerungskultur wurde und wird sich aus ganz unterschiedlichen Forschungsrichtungen genähert, beispielsweise von der Psychologie, der Geschichts-, der Politik- und der Sozialwissenschaft aus.23 Einen interessanten Ansatz bietet etwa Katherine O. Stafford, die in Narrating War in Peace von 2015 den Wandel in Narrativen zum Krieg in unterschiedlichen kulturellen Genres untersucht, anhand von jeweils zwei „historischen“ Fallbeispielen (die Fotografien von Agustí Centelles ←23 | 24→und Guernica von Pablo Picasso) und aktuellen Erzeugnissen, die vor dem Hintergrund der Gedächtnisbewegungen entstanden sind (die Bücher von Antonio Muñoz Molina und Jaime Caminos letzter Film, die Dokumentation Els nens de Rusia von 2001).24 Dabei hat sie drei zentrale Verschiebungen der Narrative festgestellt: vom Held zum Opfer, von der Ideologie zum Mitgefühl und vom Trauma zur Identifikation durch die Verbindung mit der Vergangenheit. Diese Ergebnisse, besonders die wachsende Bedeutung des Opfers, lassen sich sowohl in aktuelleren Werken, als auch in der gesellschaftlichen Debatte und in der Gedächtnisforschung wiederfinden.25 Stafford überzeugt mit dieser Arbeit, sie diente wegen ihres stark abweichenden Ansatzes jedoch auch lediglich als Ausblick für meine eigene Forschung.

Explizit interdisziplinär konzipiert ist der Sammelband Unearthing Franco’s Legacy von 2010.26 In den Beiträgen untersuchen JournalistInnen und ExpertInnen aus verschiedenen Ländern und Fachgebieten, etwa der Geschichts- oder der Literaturwissenschaft, die Auswirkungen des Bürgerkrieges in der heutigen Zeit. Der Sammelband zeichnet sich durch den breit gefächerten Aufbau aus und beginnt mit einem eher historischen Teil über Aspekte wie Gewalt in Krieg und Diktatur, die Rolle der Kirche und der öffentliche Umgang mit der Vergangenheit im Nachkriegsspanien. Zum Band gehören auch erinnerungspolitische Texte und ein Abschnitt zum Dokumentarfilm. Darin finden sich Beiträge auch aus der Praxis, wie etwa von der Filmemacherin Montse Armengou Martín, deren Filme im Buch vorgestellt werden. Thema ist hier der Dokumentarfilm als Mittel der Versöhnung auf der einen und der Aufklärung auf der anderen Seite.27 Diese Darstellungen beziehen sich jedoch auf aktuelle Produktionen, die also in einem ganz anderen Kontext entstanden sind als La vieja memoria. Doch die Grundfrage nach der Rolle des Dokumentarfilms in der Erinnerungspolitik wird hier aufgeworfen und soll in meiner Arbeit weiter verfolgt werden. In dem Buch liegt der Fokus ganz explizit auf den Unterlegenen des Krieges, deren Geschichtsnarrative wiedergegeben werden, mit der Begründung, dass unter der Diktatur eine Ehrung der Opfer auf Seiten der Sieger und deren Geschichtsschreibung bereits ausgiebig vollzogen worden ist. Dieser Ansatz ist legitim, jedoch wäre ←24 | 25→gerade auch vor einem interdisziplinären Hintergrund die Frage, wie denn auch diesen Opfern gedacht werden könnte, in kritischer Manier durchaus interessant gewesen.

Zum Spanischen Bürgerkrieg und zur Diktatur sowie zu deren Gedenken gibt es unzählige geschichts- bzw. politikwissenschaftliche Forschungsarbeiten, wobei besonders das starke Interesse der nicht-spanischen Wissenschaft auffällt. Es lässt sich zudem feststellen, dass innerhalb der spanischen Forschung zum Gedächtnis die Geschichtswissenschaft deutlich dominiert, wohingegen sie in anderen Ländern stärker von Interdisziplinarität geprägt ist.28

Aus den zahlreichen Veröffentlichungen sticht deutlich Políticas de la memoria y memorias de la política aus dem Jahr 2008 der Politikwissenschaftlerin Paloma Aguilar Fernández heraus. Sie hatte bereits 1996 über Erinnerung und den Spanischen Bürgerkrieg geschrieben und damit Pionierarbeit geleistet. Ihr Buch ist die stark aktualisierte und erweiterte Fassung dieser Veröffentlichung von 1996.29 Darin zeichnet sie zum einen die Debatte nach, die sich um Gedächtnistheorien und die Vorgänge von Erinnern und Vergessen aufgetan hat. Sie führt auf, wie die Erinnerungspolitik während der Diktatur und der Transition in Spanien beschaffen war. Zum anderen stellt sie einen Vergleich der Erinnerungspolitik und der transitional justice in Spanien, Chile und Argentinien auf und führt darüber hinaus auch die juristischen und politischen Möglichkeiten der Vergangenheitsaufarbeitung und Opferentschädigung in Spanien an. Aguilar Fernández’ Überlegungen bilden eine Grundlage des erinnerungspolitischen Abschnitts dieser Arbeit.

Der bereits erwähnten revisionistischen Entwicklung, die sich auch auf den spanischen Buchmarkt ausgewirkt hat, setzte der Historiker Àngel Viñas im Jahr 2013 ein Standardwerk entgegen, das die geschichtswissenschaftlichen Darstellungen der vorliegenden Arbeit prägt. Der lexikonartig aufgebaute Band En el combate por la Historia, der im Titel auf diese Auseinandersetzung um die Deutung der Geschichte verweist, versammelt über dreißig ExpertInnen ←25 | 26→unterschiedlichen Alters und Erfahrung, die Beiträge zu den wichtigsten Themenfeldern zu Bürgerkrieg und Diktatur verfasst haben.30

Das andauernde Interesse am „Fall Spanien“ über die Landesgrenzen hinaus zeigt sich etwa am immer wieder aktualisierten Werk Kampf der Erinnerungen von Walther L. Bernecker und Sören Brinkmann.31 Die Autoren liefern einen umfangreichen Überblick über die spanische Erinnerungskultur mit Informationen zur Geschichte des Bürgerkrieges und der Diktatur, auf den sich meine Arbeit vielfach beruft. Dabei gehen sie auch auf die Instrumentalisierung der Geschichte ein und auf die unterschiedlichen Mittel zur Demonstration von Macht, die dabei zur Verfügung stehen (Denkmäler, Münzen, Straßennamen, Feiertage, etc.; s. Abschnitt 1.3.2).

Georg Pichler liefert in seiner eher journalistischen Arbeit zur spanischen Erinnerungspolitik Gegenwart der Vergangenheit essayistisch aufgearbeitete Informationen zur Geschichte und zum Zustand der Gesellschaft und kombiniert diese mit Interviews mit AkteurInnen der Gedächtnisbewegung.32 Er schafft damit ein überzeugendes Portrait des heutigen Spanien. Unter den ProtagonistInnen der erinnerungspolitischen Debatte des Landes, die er vorstellt, sind sowohl VertreterInnen des „franquistischen Gedächtnisses“, als auch derer, die sich für einen Wandel in der Erinnerungspolitik einsetzen. Das zeichnet die Arbeit aus und macht sie besonders interessant, denn während sonst eher über die Revisionisten geschrieben wird, liefert Pichler ein Interview mit deren prominentestem Vertreter, Pío Moa. Pichler beschreibt die offizielle und sich nach politischer Lage wandelnde Erinnerungspolitik bis in die Gegenwart hinein, auch anhand von Anekdoten. Zudem liefert er im Anhang Verzeichnisse mit Angaben zu Abkürzungen, spanischen Fachbegriffen und Institutionen und Organisationen, die sich mit der Erinnerungspolitik auseinandersetzen.

Seit einigen Jahren wird auch immer wieder die spanische Erinnerungspolitik mit der anderer Länder verglichen, beispielsweise mit Polen, Deutschland oder Griechenland, oder aber die Studien beziehen sich auf ganze Regionen statt auf ←26 | 27→einzelne Länder, wie etwa bei der Arbeit über Postdiktatorische Geschichtskulturen im Süden und Osten Europas.33 Diese Studien sind jedoch für die vorliegende Arbeit nur begrenzt relevant, da diese sich auf Spanien konzentriert und Vergleiche mit anderen Ländern nur auftauchen, wenn die dortige Erinnerungspolitik direkten Einfluss auf die spanische hatte oder hat. Das ist beispielsweise der Fall bei der Untersuchung Umkämpfte Erinnerungen von Nina Elsemann, welche die Aufarbeitung der Militärdiktaturen in Argentinien und Chile durch die spanische Justiz auf der einen und die Aufarbeitung der Verbrechen Francos durch die argentinische Justiz auf der anderen Seite in Beziehung setzt.34

Das Forschungsfeld zum Bürgerkrieg und der Diktatur wird immer komplexer, da zunehmend einzelne Aspekte und Gruppierungen der Vergangenheit untersucht werden, die bisher ignoriert worden sind, so etwa das Alltagsleben, die Rolle der Frau, ZwangsarbeiterInnen, die spanischen WiderstandskämpferInnen, die maquis, oder die Arbeiterbewegung. Oder aber es wird ein spezifischer Zeitraum untersucht oder eine bestimmte Region. Angetrieben wird diese Forschung auch von den zahlreichen Opfergruppen, die sich etwa für kommunistische oder anarchistische Opfer, Opfer von Zwangsarbeit oder ExilantInnen engagieren.35

Details

Seiten
310
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631801901
ISBN (ePUB)
9783631801918
ISBN (MOBI)
9783631801925
ISBN (Hardcover)
9783631800249
DOI
10.3726/b16132
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Oktober)
Schlagworte
Diktatur Gedächtnis Krieg Demokratie Medien Vergangenheit Geschichte Zeitzeugen Multiperspektivität Jaime Camino
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 310 S., 1 farb. Abb.

Biographische Angaben

Johanna Pumb (Autor:in)

Johanna Pumb studierte Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste Berlin und promovierte 2018 dort an der Fakultät Gestaltung.

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Titel: Dokumentarfilm als Medium der Erinnerungspolitik in Spanien
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