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Die extraterritoriale Anwendbarkeit der EMRK

Zugleich ein Beitrag zur menschenrechtlichen Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten für das transnationale Verhalten im Inland belegener Unternehmen

von Annika Bleier (Autor:in)
©2019 Dissertation 350 Seiten

Zusammenfassung

Die Diskussion um die Existenz und die Reichweite extraterritorialer Staatenpflichten gewinnt zunehmend an Bedeutung. Mit Blick auf die fortschreitende Globalisierung und die zunehmende Relevanz transnational tätiger Konzerne untersucht der Band die Möglichkeit, die Schutzwirkungen der Europäischen Menschenrechtskonvention extraterritorial zu erstrecken. Die Autorin nimmt dazu die grundlegenden Verpflichtungsstrukturen und den Anwendungsbereich der EMRK in den Blick, wobei im Mittelpunkt der Betrachtung Artikel 1 EMRK steht. Es wird die einschlägige Rechtsprechung des EGMR analysiert und systematisiert. Die Untersuchung widmet sich der zentralen Frage, ob die EMRK ihren Mitgliedstaaten die Pflicht auferlegt, ihre im Inland belegenen Unternehmen bei ihren Auslandsaktivitäten von menschenrechtlichen Schädigungen abzuhalten.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • A. Einführung
  • I. Anlass der Untersuchung
  • II. Einführendes Fallbeispiel: Menschenrechte in extraktiven Industrien – die Kohlekraftwerke Kusile und Medupi in Südafrika
  • III. Zielsetzung der Arbeit und Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands
  • IV. Gegenwärtiger Stand der Forschung
  • V. Gang der Untersuchung
  • VI. Begriffserklärungen
  • 1. Der extraterritoriale Anwendungsbereich der EMRK
  • 2. Der Begriff der Jurisdiktion
  • 3. Die Strukturierung der Staatenpflichten
  • 4. Der Begriff der „Unternehmen“
  • a) Transnationale Unternehmen
  • b) Sonstige private Unternehmen
  • c) Staatsnahe Unternehmen
  • 5. Heimatstaat und Gaststaat
  • a) Heimatstaat
  • b) Gaststaat
  • 6. Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte im Vergleich zu zivilen und bürgerlichen Rechten
  • VII. Die Sonderstellung der EMRK als regionales menschenrechtliches Schutzinstitut
  • 1. Universelle Menschenrechtspakte
  • 2. Regionale Menschenrechtspakte
  • 3. Sonstige Bestrebungen zur Schaffung von menschenrechtlichen Normen
  • a) Bestrebungen innerhalb der Vereinten Nationen
  • b) Bestrebungen durch die OECD
  • c) Die Maastrichter Prinzipien
  • 4. Die Sonderstellung der EMRK
  • 5. Zwischenergebnis
  • VIII. Bisherige völkerrechtliche Verantwortlichkeit: Notwendigkeit einer Lösung
  • 1. Verantwortlichkeit des transnationalen Unternehmens
  • a) Klage in den Gaststaaten der transnationalen Unternehmen
  • b) Klage in den Heimatstaaten der transnationalen Unternehmen
  • c) Klage vor internationalen Gerichten – Problem der Völkerrechtssubjektivität
  • d) Zwischenergebnis
  • 2. Verantwortlichkeit der Staaten
  • a) Verantwortlichkeit des Gaststaates
  • b) Verantwortlichkeit des Heimatstaates
  • IX. Zwischenergebnis
  • B. Die Verpflichtungsstrukturen der EMRK
  • I. Einführung
  • II. Verantwortlichkeit der Staaten für das Verhalten von Unternehmen aufgrund eines Zurechnungstatbestands
  • 1. Zurechnung nach den Regeln der Staatenverantwortlichkeit
  • a) Anwendbarkeit der Regeln der Staatenverantwortlichkeit auf die EMRK
  • b) Verhältnis von Jurisdiktion und Zurechnung
  • c) Zurechnung nach Art. 4, Art. 5 und Art. 8 ILC-Entwurf
  • aa) Kriterien für die Bestimmung eines de facto-Organs
  • bb) Kriterien für die Bestimmung der Handlung unter staatlicher Beauftragung, Leitung oder Kontrolle
  • cc) Kriterien für die Ausübung von Elementen hoheitlicher Gewalt (Art. 5)
  • dd) Zwischenergebnis
  • d) Übertragung der Ergebnisse auf Unternehmen
  • 2. Die Zurechnung unternehmerischen Verhaltens in der Rechtsprechung des EGMR
  • a) Ausübung von Elementen hoheitlicher Gewalt
  • b) Institutionelle Abhängigkeit vom Staat – „Staatsnahe“ Unternehmen
  • c) Zwischenergebnis
  • III. Verantwortlichkeit der Staaten wegen der Verletzung einer positiven Pflicht im Zusammenhang mit dem Verhalten von privaten Unternehmen
  • 1. Begründungsansätze für die Herleitung von Schutzpflichten aus der EMRK
  • 2. Kategorisierung der positiven Pflichten
  • 3. Konventionsrechtliche Schutzpflichten
  • a) Tatbestand eines Schutzrechts
  • aa) Kein staatlich zurechenbarer Eingriff, stattdessen ein privater Übergriff
  • bb) Dreiecks-Konstellation – Der Adressat der Schutzverpflichtung
  • cc) Faktische Einwirkung auf ein Konventionsrecht durch den Verursacher
  • dd) „Quasi-Kausalität“
  • ee) Völkerrechtliche Garantenstellung
  • ff) Verschulden und Kenntnis
  • b) Inhalt und Reichweite der Schutzverpflichtung
  • 4. Die Rechtsprechung zu positiven Pflichten im Zusammenhang mit territorialer Unternehmenstätigkeit
  • a) Umweltrechtlicher Kontext
  • b) Arbeitsrechtlicher Kontext
  • c) Export von Waren/militärischer Kontext
  • d) Ergebnisse der Rechtsprechungsanalyse
  • 5. Zwischenergebnis
  • C. Der extraterritoriale Anwendungsbereich der Konventionsrechte
  • I. Art. 56 Abs. 1 EMRK als Aussage zum räumlichen Anwendungsbereich der Konvention
  • II. Die Anwendungsbereichsnorm Art. 1 EMRK
  • 1. Das Erfordernis der Unterstellung einer Person unter die Jurisdiktion eines Konventionsstaates
  • a) Die Zulässigkeit einer Beschwerde ratione personae und ratione loci
  • b) Prüfung der Vereinbarkeit einer Beschwerde mit der EMRK
  • 2. Ansätze für die Bestimmung von Jurisdiktion im Sinne von Art. 1 EMRK
  • a) Bestimmung anhand der allgemeinen Regeln des Völkerrechts
  • b) Jurisdiktion als Anknüpfungspunkt
  • c) Der restriktive Ansatz des EGMR – Die Banković-Entscheidung im Kontext der sonstigen Rechtsprechung
  • aa) Reaktionen auf das Urteil im Schrifttum
  • bb) Die Post-Banković Rechtsprechung
  • cc) Parallelität zur Soering-Entscheidung
  • (1) Achtungs- oder Schutzpflicht?
  • (2) Stellungnahme
  • dd) Relevanz der Judikatur für die Forschungsfrage
  • d) Jurisdiktion im Sinne der Regeln der Staatenverantwortlichkeit
  • e) Kriterium des „direct and immediate link“
  • f) Faktisches Verständnis von Jurisdiktion
  • aa) Jurisdiktion als effektive Kontrolle
  • (1) Effektive Kontrolle über ein Gebiet
  • (2) Effektive Kontrolle über Personen
  • bb) Jurisdiktion ipso facto
  • g) Differenzierung nach der Art der Staatenpflicht
  • 3. Aktives Personalitätsprinzip und die jurisdiction to prescribe als Ansatz für die Herleitung extraterritorialer Staatenpflichten bei unternehmerischer Tätigkeit
  • a) Begründungsansatz für eine Rechtspflicht zur Rechtsetzung
  • aa) Ansätze aus dem allgemeinen Völkerrecht
  • bb) Die „normative Kraft des Faktischen“ zur Begründung extraterritorialer Staatenpflichten
  • cc) Stellvertretende Menschenrechtspflege als Ausdruck menschenrechtlicher Solidarität
  • b) Inhalt der Schutz- beziehungsweise Regelungspflicht
  • c) Grenzen einer Rechtsetzungspflicht – Reichweite der jurisdiction to prescribe
  • aa) Modifikationen der Voraussetzungen einer extraterritorialen Schutzpflicht
  • bb) Der Menschenrechtsschutz als „gemeinsame Angelegenheit“ der Staaten
  • (1) Interventionsverbot
  • (aa) Der Gaststaat ist EMRK-Staat
  • (bb) Der Gaststaat ist Drittstaat
  • (2) Menschenrechtsschutz und Souveränitätsprinzip
  • (3) Hierarchisierung der Völkerrechtsmaterien – zur Neuausrichtung des Menschenrechtsschutzes
  • cc) (Kein) Universalitätsanspruch der EMRK? Die Bedeutung des „espace juridique“
  • d) Faktische Probleme der Reglementierung eigener Unternehmen
  • III. Ergebnis
  • D. Zusammenfassende Thesen und Schlussbetrachtung
  • I. Einordnung des Einführungsbeispiels
  • II. Zusammenfassende Thesen
  • III. Schlussbetrachtung und Ausblick
  • Literaturverzeichnis

A. Einführung

I. Anlass der Untersuchung

Seit dem Inkrafttreten der Europäischen Menschenrechtskonvention am 4. November 1950 hat sich die menschenrechtliche Lage in Europa stark verändert. Was zu Beginn dazu bestimmt war, sich den Unrechtsregimen des Zweiten Weltkriegs entgegenzustellen und die Missachtung der Menschenrechte durch Staaten zu bekämpfen,1 entwickelte sich zu einem Institut, das sich stets der sich ändernden menschenrechtlichen Gefährdungslage anzupassen versuchte.2 In den vergangenen Jahrzehnten hat sich nicht nur die Politik internationalisiert. Durch die Globalisierung und die damit einhergehende Zunahme der weltweiten wirtschaftlichen Betätigung (auch) der Staaten, nimmt die Relevanz von völkerrechtlichen Verträgen beziehungsweise des Völkerrechts stetig zu. Menschenrechte werden deshalb aber nicht mehr nur bei kriegerischen Auseinandersetzungen oder innerhalb staatlicher Unrechtsregime verletzt. Vermehrt treten neue Akteure hinzu, zumeist Wirtschaftsunternehmen, die Menschenrechte bei der Ausübung ihrer unternehmerischen Tätigkeit missachten.3 Unternehmen werden vermehrt transnational tätig und gewinnen auf gesellschaftliche, politische und soziale Entwicklungen vermehrt Einfluss.4 Diese sogenannten „Global Player“ sind beispielsweise durch Tochterunternehmen oder Betriebsstätten in einer Vielzahl von Staaten tätig und erzielen oftmals einen Umsatz der über dem Bruttoinlandsprodukt vieler Staaten liegt.5 Auch wenn es diese transnationalen Unternehmen schon seit mehreren Jahrhunderten gibt; auf die Bühne der völkerrechtlichen Akteure drängten sie vor allem nach dem Ende des ←21 | 22→Zweiten Weltkriegs.6 Durch die Liberalisierung des Welthandels, die sich seit dem Inkrafttreten des General Agreement on Tarrifs and Trade (GATT) im Jahr 1947 beobachten ließ, und durch die Schaffung von internationalen Finanzinstitutionen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) oder der Weltbank nahm die Bedeutung transnationaler Unternehmen kontinuierlich zu.7 Transnationale Unternehmen internationalisieren ihre Aktivitäten und von dieser wirtschaftlichen Expansion der Unternehmen profitieren auch die Staaten, denn durch den internationalen Export der Produkte steigt beispielsweise auch die Außenhandelsbilanz.8 Das Zusammenspiel von privatwirtschaftlichen Unternehmen und staatlichen Akteuren ist vermehrt Gegenstand von rechtlichen und vor allem auch von politischen Diskussionen geworden, oftmals unter dem Begriff der „Corporate Social Responsibility“.9

Transnationale Unternehmen sind schon längst nicht mehr nur Teilnehmer der politischen und wirtschaftlichen internationalen Systeme, sondern aufgrund ihrer wirtschaftlichen und politischen Macht einer der Hauptakteure.10 Doch nicht nur transnationale Unternehmen in Gestalt von rein privatwirtschaftlichen Akteuren beanspruchen diese Rolle für sich, auch Unternehmen in staatlicher Hand haben eine enorme Bedeutung für viele Wirtschaftsordnungen. Insbesondere in China, Indien und Russland ist die Zahl der Staatsunternehmen11 hoch, in China waren es beispielsweise im Jahr 2005 über 160.000.12 In Indien ist das staatliche Unternehmen „Indian Railways“ mit 1,6 Millionen Arbeitnehmern der wichtigste und gleichzeitig der größte kommerzielle Arbeitgeber weltweit.13 Durch die internationale wirtschaftliche Verflechtung interagieren transnationale und staatliche Unternehmen oftmals bei Investitionsprojekten miteinander.14 Bei Betrachtung einer möglichen menschenrechtlichen Verantwortlichkeit ←22 | 23→muss klar zwischen den Aktivitäten von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren differenziert werden.

Transnationale Unternehmen bestehen aus in der Regel mehreren, aber mindestens einer rechtlich selbständigen Gesellschaft (Tochterunternehmen) mit Sitz in mindestens einem anderen Staat und einem zentralen Entscheidungszentrum in einem zumeist westlichen (Heimat-)Staat (Mutterunternehmen).15 Dies ist für das Unternehmen auch sinnvoll, denn dort besteht ein ausreichender politischer und rechtlicher Schutz des Gesellschaftsvermögens.16 Die Produktion oder die Dienstleistungen werden aber in andere Länder verlegt. Tochtergesellschaften siedeln sich in für sie günstigeren Rechtsordnungen an, in denen geringere arbeitsrechtliche Standards und weniger rechtliche Voraussetzungen bei Sozial- und Umweltanforderungen bestehen, an die sich die Unternehmen halten müssen.17 Zudem ist der zu zahlende Lohn niedriger. Alles in allem hat die Muttergesellschaft ein großes Interesse an der Standortverlagerung.18 Aber auch die westlichen Heimatstaaten haben ein eigenes Interesse an dieser Expansion, sei es aus steuerlichen oder anderen wirtschaftlichen Gründen.19 Die Staaten, in die die Unternehmen ihre Tätigkeit verlagern, werden als Gaststaaten bezeichnet. Die Gaststaaten haben Interesse an diesen ausländischen Investitionen, um ihre Entwicklung und die Wirtschaft anzukurbeln.20 Um im internationalen Standortwettbewerb mithalten zu können, werden oftmals ausländische Investitionen durch Senkung der sozialen, ökologischen oder anderer Produktionskosten angelockt.21 Und weil beispielsweise eine schwache Umwelt- und Sozialgesetzgebung Investitionen durch transnationale Unternehmen noch attraktiver macht, ←23 | 24→haben die Staaten oftmals nur wenig Anreiz, etwas an der Situation zu verändern.22 Darunter leidet die Menschenrechtslage in den Gaststaaten.23 „The ability to shift production from one country to another weakens the bargaining power of any given locality and shifts the balance of power from the local human interest to the global corporate interest.“24

Die Menschen im Gaststaat sind die „Verlierer“ in dieser Situation. Sie arbeiten oftmals ohne Arbeitsverträge zu geringen Löhnen und wer sich gegen die Bedingungen wehren möchte, riskiert nicht selten seinen Arbeitsplatz.25 Hinzu tritt, dass die Betroffenen vielleicht nicht immer über ein Unrechtsempfinden verfügen, das unserer „Deutschen Sichtweise“ hinsichtlich menschenrechtswidriger Situationen entspricht. Teilweise werden vielleicht Situationen als „gewöhnlich“ oder „normal“ empfunden, die von außen als unbillig bewertet werden.26

In vielen Ländern der Welt, insbesondere in den Staaten, in denen es für die großen Unternehmen aufgrund der geringen Personalkosten reizvoll ist ihre Ware zu produzieren, sind die inländischen Rechtsschutzsysteme mangelhaft.27 Die Opfer von Menschenrechtsverletzungen verfügen oftmals nicht über ausreichende Möglichkeiten um eine Klage anzustreben oder die Sicherheitslage in den Gaststaaten erlaubt eine Rechtsdurchsetzung nicht.28 Die Chancen für Arbeitnehmer, sich gegen schlechte Arbeitsbedingungen zur Wehr zu setzen, sind fast aussichtlos, weil oft das staatliche Interesse an wirtschaftlicher Investition das Interesse an ordentlicher Rechtsdurchsetzung überwiegt.29 Und auch auf internationaler Ebene bestehen oftmals keine Beschwerdemechanismen, weil die Gastgeberländer zwar die einschlägigen (Menschenrechts-)Abkommen ←24 | 25→ratifiziert haben, aber nicht die Zusatzprotokolle, die eine Individualbeschwerdemöglichkeit festschreiben.30 Teilweise gründen die Unternehmen auch ganz bewusst Tochterunternehmen in diesen Staaten, um heimatstaatliche nationale Vorschriften zu umgehen.31 Deshalb bewegt sich der Fokus der aktuellen Diskussion weg von den sogenannten Gaststaaten der international tätigen Unternehmen, hin zu deren Heimatstaaten.32

Können die Heimatstaaten der transnational tätigen Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht werden, die diese im In- und Ausland begehen? Bisher ist die Frage noch unbeantwortet, ob und wie die Menschenrechte auch im Bereich von faktischen Beeinträchtigungen durch private Wirtschaftssubjekte zu einer umfassenden Anwendung gelangen können. Insbesondere ist fraglich, ob die Gesamtheit der Staaten einen solch weitreichenden Menschenrechtsschutz überhaupt anstrebt. Erschwert werden internationale Einigungsprozesse durch divergierende kulturelle und gesellschaftspolitische Vorstellungen.33 Die Staatengemeinschaft versucht durch internationale Verträge ein gemeinsames menschenrechtliches Schutzniveau festzulegen, beispielsweise durch den Pakt über bürgerliche und politische Rechte und den Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Am besten gelingt dies jedoch in der Regel auf regionaler Ebene.34 Ein gelungenes Ergebnis eines solchen Prozesses stellt die Europäische Menschenrechtskonvention dar. Deshalb versucht diese Arbeit das Rechtsschutzsystem der EMRK für den Menschenrechtsschutz im Zusammenhang mit transnationalen Wirtschaftsaktivitäten von Unternehmen fruchtbar zu machen. Im Folgenden wird untersucht, ob die Konvention ihren Mitgliedstaaten die Pflicht auferlegt, ihre im Inland belegenen Unternehmen bei ihren Auslandsaktivitäten von menschenrechtlichen Schädigungen abzuhalten.

←25 | 26→

II. Einführendes Fallbeispiel: Menschenrechte in extraktiven Industrien – die Kohlekraftwerke Kusile und Medupi in Südafrika

Die komplexe rechtliche Ausgangssituation dieser Arbeit soll anhand eines Fallbeispiels dargestellt werden. Das Beispiel beruht auf einer Studie, die 2016 veröffentlicht wurde und ist im Bereich der extraktiven Industrien angesiedelt. Auf dieses Beispiel wird am Ende der Arbeit nochmals einzugehen sein.

Das Fallbeispiel beschäftigt sich mit dem Bau der beiden Kohlekraftwerke Kusile und Medupi in Südafrika. Die Kraftwerke befinden sich in zwei ländlichen Regionen Südafrikas. Kusile in der Provinz Mpumalanga, das Werk Medupi in Limpopo. Der Bau der Kraftwerke ist ein technisches und finanzielles Großprojekt, an dem 19 deutsche Unternehmen sowie der deutsche Staat beteiligt sind. Im Rahmen einer groß angelegten Studie von Misereor, die im April 2016 erschienen ist, wurden menschenrechtliche Aspekte des Projekts untersucht, insbesondere die unternehmerische und staatliche Mitverantwortung Deutschlands.35 Im Mittelpunkt der Untersuchung standen dabei umweltbezogene Menschenrechte wie das Recht auf Wasser, Nahrung und Gesundheit.36 Südafrika ist der siebtgrößte Kohleproduzent der Welt.37 Die meisten Kraftwerke (ca. 80%) werden durch große, in der Regel transnationale Unternehmen betrieben. Eskom, ein staatliches Unternehmen, ist dabei einer der wichtigsten Energieversorger in Südafrika und betreibt sowohl das Kraftwerk Kusile als auch Medupi.38 Das Projekt ist großer Kritik ausgesetzt, weil Bedenken hinsichtlich verschiedener menschenrechtlicher und ökologischer Aspekte beim Kohleabbau und der Kohlestromversorgung bestehen: Durch die Versickerung der sauren Grubenabwässer beim Kohlebergbau (das sind mit Schwermetallen angereicherte Säuren) gelangen diese in Seen und Flüsse. Da nur 55% der Bevölkerung über einen ←26 | 27→eigenen Wasseranschluss verfügen, sind die Seen und Flüsse aber oftmals Trinkwasserquellen. Aufgrund dessen sehen viele das Recht auf Wasser und Nahrung als beeinträchtigt an.39 Das verschmutzte Wasser kann insbesondere bei Kindern zu Hautausschlägen, Hautverätzungen oder Schäden am Gehirn führen.40 Daneben werden auch immer wieder Beeinträchtigungen des Rechts auf Gesundheit dokumentiert. Viele Menschen, insbesondere die Bewohner der umliegenden Siedlungen und die Arbeiter selbst, leiden unter der sogenannten Staublunge (Pneumokoniose), darüber hinaus haben die Kohlepartikel negative Auswirkungen auf die Atmung, das Nerven- und das Herz-Kreislauf-System und können zu Krebs, Schlaganfällen und Herzerkrankungen führen.41 Insbesondere die hohe HIV/Aids-Rate in den Gemeinden ruft zusätzliche Bedenken hervor, da an HIV erkrankte Menschen eine höhere Anfälligkeit für Atemwegserkrankungen aufweisen und der Zugang zu medizinischen Einrichtungen sehr schlecht ist.42 Zudem seien insbesondere beim Bau des Werkes Medupi kulturelle Rechte verletzt worden, weil sich auf dem Gebiet, auf dem das Kraftwerk errichtet wurde, Grabstätten der lokalen Bevölkerung befanden, die dadurch zerstört wurden.43 Die betroffene Bevölkerungsgruppe hat keine Beschwerde eingelegt, um die Verletzung ihrer Rechte zu rügen.44 Folglich wurde die Rechtsverletzung durch keinen nationalen oder internationalen Spruchkörper positiv festgestellt. Die Studie bezieht sich jedoch auf den National Heritage Resources Act von 1999, der in Art. 36 („burial grounds and graves“) die Zerstörung von Grabstätten verbietet.45 Daneben schützt auch Art. 15 IPwskR das kulturelle Erbe.

Am Kraftwerk Medupi sind mindestens acht deutsche Unternehmen nachweislich beteiligt, am Standort Kusile sind es sogar mindestens neun, wobei die Beteiligung von insgesamt 19 deutschen Unternehmen nachgewiesen werden konnte, deren Zuordnung zu einem der Kraftwerke nicht bei allen möglich ist.46 Der wichtigste deutsche Akteur ist Hitachi Power Europe (HPE) mit Sitz in Duisburg, der inzwischen unter Mitsubishi Hitachi Power Systems Europe GmbH firmiert und deutsches Tochterunternehmen des japanischen Konzerns ←27 | 28→Mitsubishi Hitachi Power System Ltd., früher Hitachi Power Systems, ist.47 Hitachi lieferte jeweils sechs Kraftwerkblöcke an beide Werke mit einem Auftragsvolumen von vier Milliarden Euro, wobei die Aufgabe von Hitachi im Engineering, in der Beschaffung und Montage sowie in der Inbetriebnahme der Kessel bestand. Zudem hat Hitachi an einige weitere deutsche Unternehmen Unteraufträge in Milliardenhöhe vergeben.48 Daneben ist auch Siemens an dem Großprojekt beteiligt, indem es einzelne Komponenten für den Bau der Kraftwerke liefert und installiert. Zeitweise sind sechzehn deutsche Siemens Mitarbeiter am Standort Kusile beschäftigt.49 Daneben sind weitere Unternehmen wie beispielsweise Rheinmetall aus Bremen, Bilfiger Berger mit Sitz in Mannheim, IMR Anlagenbau aus Hamburg, die BWF Group aus Offingen oder die Pro Therm aus Castrop-Rauxel durch Lieferung von Komponenten oder Zurverfügungstellung von deutschen Arbeitskräften vor Ort involviert.50

Auch die Bundesrepublik Deutschland ist am Bau der beiden Kraftwerke beteiligt. Im Jahre 2008 vergab die Bundesregierung zwei Exportgarantien – auch Hermes Bürgschaften genannt – der Kategorie 5 (über 200 Millionen Euro) an Hitachi, um die Kessellieferung abzusichern.51 Die Bundesregierung gibt selbst an, bei der Vergabe von Hermesbürgschaften insbesondere auf Umwelt- und Sozialauswirkungen der Projekte zu achten und gegebenenfalls keine Förderung für Projekte zu bewilligen, die „mit schwerwiegenden negativen ökologischen, sozialen oder entwicklungspolitischen Konsequenzen verbunden sind“.52 Die Garantien vergibt der Interministerielle Ausschuss (IMA) für Exportgarantien, der aus Vertretern des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie, des Finanzministeriums, des Auswärtigen Amts und des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung besteht.53 Ferner nehmen an den Sitzungen beratend aber auch die geschäftsführenden Mandatare Euler Hermes AG und PricewaterhouseCoopers WPA AG sowie Sachverständige aus der Wirtschaft teil.54

←28 | 29→

Zudem ist die KfW IPEX-Bank an dem Kraftwerksbau beteiligt, indem sie einen Gesamtkredit für Kessel-Lieferungen in Höhe von 1,485 Milliarden Euro zur Verfügung stellte.55 Die KfW IPEX-Bank ist eine hundertprozentige Tochtergesellschaft der bundeseigenen KfW-Bankengruppe. Sowohl der Bund als auch die KfW IPEX-Bank stützen sich für ihre Bewilligungsentscheidung auf eine umfangreiche Umweltstudie, die Eskom von Experten erarbeiten ließ und auf unabhängige Umwelt- und Sozialverträglichkeitsgutachten (Environmental and Social Due Diligence), welche die Konformität mit den International Finance Corporation (IFC)- Perfomance-Standards einschätzten.56 Die Umweltgutachten sind großer Kritik durch NGOs ausgesetzt. Sie seien allgemein gehalten und gäben keine klare Richtung vor. Auch die Einhaltung der IFC-Standards wird in Frage gestellt, weil weder KfW IPEX noch der Bund die angegliederten Einrichtungen der Kraftwerke in ihre Überlegungen miteinbezogen hätten. Gerade aber die zuliefernden Minen sowie die notwendigen Wassertransportsysteme hätten im Vorfeld überprüft werden müssen.57

Bereits zu Beginn des Baus der Kraftwerke wurde in dem Gutachten zur Umweltfolgenabschätzung,58 das Eskom bereits 2006 erstellen ließ, dargelegt, dass Medupi die erlaubten Höchstwerte für Schwefeldioxidemissionen nicht einhalten kann, weil bereits das Kraftwerk Matimba, welches sich ebenfalls in der Region befindet, die Werte überschreite.59 Deshalb sollte eine Rauchgasentschwefelungsanlage eingebaut werden, welche die Emissionen um 90 Prozent senken könnte.60 Bereits jetzt ist offenkundig, dass sich der Einbau vermutlich bis zum Jahre 2025 verzögern könnte, weil zumindest für Medupi erst zu diesem Zeitpunkt die gesetzlichen Grenzwerte eingehalten werden müssen.61 Aufgrund dieser Gesamtsituation kam das Inspection Panel der Weltbank 2011 zu dem Schluss, dass „erhebliche Defizite in der Wahrnehmung der Sorgfaltspflichten der Geschäftsführung im Hinblick auf Fragen der anzuwendenden Qualitätsstandards ←29 | 30→und der Ausarbeitung reaktiver und rechtzeitiger Minderungsmaßnahmen bestehen, um der Gefahr eines ernsthaften Schadens entgegenzuwirken“.62

Südafrika ist nicht Mitglied der EMRK, hat aber den IPbpR und den IPwskR (diesen im Jahre 2015), die UN-Frauenrechtskonvention und die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert.63 Eine Vorreiterrolle nimmt Südafrika bezüglich der in der Verfassung verankerten Menschenrechte ein. Dazu zählt das Recht auf Zugang zu Wasser und Nahrung sowie auf Zugang zu Gesundheitsdienstleitungen.64

Das gewählte Beispiel eignet sich besonders gut, um die komplexen wirtschaftlichen Verflechtungen deutlich zu machen, die regelmäßig bei transnationalen Großprojekten vorzufinden sind. Siemens sieht sich selbst nur als Komponentenlieferant der Kraftwerke und deshalb Eskom als Kraftwerksbetreiber in der menschenrechtlichen Hauptverantwortung.65 Daraus ergibt sich die grundsätzliche Frage, wie unmittelbar ein Unternehmen an einer menschenrechtsbeeinträchtigenden Situation beteiligt sein muss, um dafür verantwortlich zu sein. Außerdem muss ein Blick auf die durch den Betrieb der Kohlekraftwerke beeinträchtigten Menschenrechte gerichtet werden, denn insbesondere kulturelle Rechte werden nicht durch die EMRK geschützt. Inwieweit hingegen das Recht auf Gesundheit nach Art. 2 und Art. 8 EMRK betroffen sein könnte, bedarf einer näheren Betrachtung.

Details

Seiten
350
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631791721
ISBN (ePUB)
9783631791738
ISBN (MOBI)
9783631791745
ISBN (Hardcover)
9783631788851
DOI
10.3726/b15708
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Juli)
Schlagworte
Verpflichtungsstrukturen EMRK Extraterritoriale Staatenpflichten Transnationale Unternehmenstätigkeit EGMR Rechtsprechungsanalyse Jurisdiktion (Art. 1 EMRK) Jurisdiction to prescribe Positive obligations Negative obligations Schutzpflichten Stellvertretende Menschenrechtspflege
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 2 s/w Abb.

Biographische Angaben

Annika Bleier (Autor:in)

Annika Bleier studierte Rechtswissenschaften an der Universität Mannheim und an der University of Edinburgh (UK). Sie war als Lehrassistentin im Öffentlichen Recht an der Universität Mannheim und am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie tätig. Ihr Referendariat absolvierte sie am Hanseatischen Oberlandesgericht Hamburg.

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