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Arnold Zweig zum fünfzigsten Todestag

von Krzysztof Kłosowicz (Band-Herausgeber:in)
©2019 Sammelband 210 Seiten

Zusammenfassung

Dieses Buch umfasst Studien zum Leben und Werk des in der schlesischen Stadt Glogau geborenen Schriftstellers Arnold Zweig. Ziel der Veröffentlichung ist es, des ein wenig in Vergessenheit geratenen Autors fünfzig Jahre nach dem Tod zu gedenken und seinen umfangreichen Nachlass im Lichte der literatur- bzw. kulturwissenschaftlichen sowie komparatistischen Fragestellungen wieder in den Fokus der Diskussion zu stellen. Daher bietet das Buch sowohl einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand als auch eine Fülle an neuen Forschungsanstößen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Title Page
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Karol Sauerland: Die vielen Wenden im Leben Arnold Zweigs
  • Andrea Rudolph: Übertreffen durch schöpferisches Erzählhandeln.
  • Grażyna Krupińska: Männlichkeitsbilder in den frühen Novellen von Arnold Zweig
  • Agnieszka Klimas: Kapitalsorten und Kapitalerörterungen in Zweigs Reflexionen über den Anteil
  • Karol Sauerland: Arnold Zweigs drei jüdische Dramen:
  • Barbara Surowska: Arnold Zweigs Abigail und Nabal als Seelendrama
  • Nina Nowara-Matusik: Der Künstlerdiskurs in der Erzählung Pont und Anna von Arnold Zweig –
  • Magdalena Popławska: Sexueller Missbrauch als Wendepunkt im Leben einer sich emanzipierenden Frau anhand des Romans Junge Frau von 1914
  • Volker Venohr: Die Schlacht vor Verdun 1916: Eine Bestandsaufnahme
  • Michał Skop: Arnold Zweig in der oberschlesischen Presse nach 1945
  • Krzysztof Kłosowicz: Bilder der Jugend: Arnold Zweigs schlesische Jahre
  • Alan Rymarczyk: Von den Brettern, die die Welt bedeuten. Zweigs Gedanken zum Theater
  • Jasmin Sohnemann: „[…] wie durch den Namen, auch innerlich verbunden durch den Willen anständig zu wirken.“ Arnold Zweig und Stefan Zweig
  • Krzysztof Kłosowicz: Zum Nachlass von Arnold Zweig

Vorwort

Wer hätte gedacht, dass fünfzig Jahre nach dem Tod eines so berühmten Schriftstellers wie Arnold Zweig die Forschung für dessen Schaffen ein so geringes Interesse aufbringt, zumal er auch ein Spiegelbild seiner Epoche darstellt. Im vorliegenden Band versuchen deutsche und polnische Germanistinnen bzw. Germanisten zu zeigen, dass es lohnenswert ist, sich mit seinem Werk zu beschäftigen, nach neuen Zugängen zu suchen.

In dem einleitenden Beitrag gibt KAROL SAUERLAND (Warszawa) einen Überblick über die verschiedensten Lebensphasen bzw. „Wenden“ Zweigs, wobei er besonders auf dessen stetes Bekenntnis zum Judentum – sei es der Zionismus, sei es das Ostjudentum, sei es das Jüdisch-Sein – rekurriert. In einer getrennten Studie interpretiert er ausführlich die in der Sekundärliteratur recht stiefmütterlich behandelten jüdischen Dramen, Ritualmord in Ungarn, Abigail und Nabal und Die Umkehr aus Zweigs früher Schaffenszeit. Die zeitgenössische Kritik verstand kaum, dass sie einen Versuch darstellten, der in der Kunstwart-Debatte aufgestellten Forderung nach der Schaffung einer eigenen jüdischen Literatur in deutscher Sprache nachzukommen. Zweig greift hier sowohl auf biblische Motive als auch auf den Chassidismus zurück, wie er durch Martin Buber übermittelt worden war.

Anders als Sauerland legt BARBARA SUROWSKA (Warszawa) in ihrer Skizze Abigail und Nabal aus. Für sie ist es ein „Seelendrama“, was sie detailliert zu begründen weiß.

ANDREA RUDOLPH (Opole) vergleicht Den Mann des Friedens von 1915 mit dessen Umarbeitung von 1923, die von Zweig Helbret Friedebringer betitelt wurde. Hierbei erweist es sich, dass Zweig 1915 noch Kleists Art folgte, wie dieser Kohlhaas konzipierte, nämlich „als Ausnahmeperson“, während er 1923 eine „kollektive Phänomenalität“ entwarf. Und anders als „in der Fassung von 1915 ist Helbret Friedebringer in der von Zweig 1923 erzählten Gestaltwerdung ein räumlich und geschichtlich gebundenes Individuum“. Im Gegensatz zu Kohlhaas erlebt Friedebringer die Wiederherstellung des Rechtsstatus’, aber nur, indem er die Realität verliert. Zweig legt – so Rudolph – Friedebringer Qualitäten bei, die nicht einer Person, sondern dem Kulturbürger zugeschrieben werden. Die Autorin zeigt auch, dass Zweig Schopenhauersche Kategorien für seine novellistische Darstellungstechnik nutzt.

Arnold Zweig ist bekanntlich Schlesier, er ging in Kattowitz zur Schule und verbrachte die beiden ersten Studienjahre in Breslau. Hier entstanden seine frühen ←7 | 8→Erzählungen. Einige von ihnen (Malven, Vorfrühling, Tangente, Unterwerfung, Allah, Episode aus dem Zarenland und Die Krähe) hat GRAŻYNA KRUPIŃSKA (Katowice) aus der Gendersicht analysiert, wobei sie nicht der klassischen Frage nachgeht, wie die weiblichen Figuren dargestellt werden, sondern der: wie im Frühwerk die Männlichkeitsbilder ausfallen? Sie kommt zu dem Schluss, dass der in den Novellen Zweigs aus der Vorkriegszeit thematisierte Männerdiskurs zum Teil auch ein Krisendiskurs ist. Die von ihr analysierten Charaktere sind Männer im Werden, die nach einer eigenen (männlichen) Identität suchen.

NINA NOWARA-MATUSIK (Katowice) konzentriert sich auf die Künstlerproblematik in der romanartigen Erzählung Pont und Anna. Sie setzt sich ferner kritisch mit Geschlechterbeziehungen zwischen den Hauptfiguren auseinander, wobei sie auf die Frage zu antworten sucht, ob Zweig mit seinem Werk fortschrittliche und moderne Frauenbilder kreiert oder eher konservative Geschlechterrollen verfestigt.

Kernpunkt des Beitrags von AGNIESZKA KLIMAS (Opole) sind Zweigs bedeutende Essays Jüdischer Ausdruckswille und Bilanz der deutschen Judenheit. Die Autorin verfolgt den Weg der sich emanzipierenden Juden in das deutsche Bürgertum und versucht, diesen im Hinblick auf die Kapitalsortentheorie von Pierre Bourdieu zu analysieren. Die deutschen Juden zeichnen sich danach nicht nur dadurch aus, dass sie aktiv an der Modernisierung des neuen Staates teilnahmen, sondern auch an dessen Kultur. Sie verfügen mithin im Sinne Bourdieus über ein doppeltes Kapital, das ökonomische und kulturelle. Logischerweise versuchen die Antisemiten in doppelter Weise, die Juden zu diskriminieren, was Thema des Aufsatzes ist. Die Autorin zeigt auch, wie sich Zweig in seinem Kampf gegen den Antisemitismus auf Nietzsche beruft. Darüber hinaus geht sie auf Zweigs Reflexionen über den Anteil der Juden an der deutschen Kultur und deren Bemühungen um die Stärkung jüdischen Selbstbewusstseins ein.

Zweig gehört zu den ersten Autoren, die die Folgen einer Vergewaltigung für das Opfer in einem Prosawerk thematisieren. MAGDALENA POPŁAWSKA (Katowice) zeigt, in welche Konflikte Lenore Wahl, die Protagonistin des Romans Junge Frau von 1914 gerät, nachdem sie sexuellen Missbrauch an sich erleben musste. Soll sie abtreiben oder nicht? Sie möchte sich emanzipieren, was ihr wohl gelungen wäre, wenn es nicht diese Vergewaltigung in der Kriegszeit gegeben hätte. So kommt es „zu dem Paradoxon: die gedemütigte Frau, die einen Schwangerschaftsabbruch vorgenommen hat, schließt mit ihrem Gewalttäter die Ehe“, wie Popławska konstatiert.

Zweig interessierte sich immer wieder für das Theater. Grundlegende Überlegungen hierzu finden wir u.a. in seinen beiden Aufsätzen „Epoche und Theater“ und „Theater, Menge, Mensch“, die 1923 in dem Band Das deutsche Theater der ←8 | 9→Gegenwart erschienen. Zweig meint, dass das Theater zur Gesundung des deutschen Volks nach der Katastrophe, die der Erste Weltkrieg gebracht hat, beitragen könne. Wie er sich dies vorstellt, zeigt ALAN RYMARCZYK (Katowice) in seinem Beitrag „Von den Brettern, die die Welt bedeuten. Zweigs Gedanken zum Theater“. Er verweist auch auf Zweigs theatertheoretische Reflexionen über das Theater als Institution, wie der Zuschauer das Schauspiel wahrnimmt, dass nämlich das Auge eine größere Rolle spielt als das Ohr, dass es nicht sinnvoll ist, von Massenerlebnis zu sprechen. Der Zuschauer nehme stets subjektiv wahr. Es sei ein Irrtum, dass er im Theater ein Massenerlebnis suche. Rymarczyk bettet seine Ausführungen in die Geschichte des Schlesischen Theaters in Kattowitz ein. Für ihn ist bemerkenswert, dass der junge Zweig die Stadt gerade in dem Moment verließ, in dem dieses Theater eröffnet wurde.

Zweig erinnerte sich gern an die in Schlesien verbrachten Jahre. Er tut es aber nur hie und da, nie zusammenhängend. KRZYSZTOF KŁOSOWICZ (Katowice) vereint in seinem Beitrag „Bilder der Jugend“ die einzelnen Beschreibungen Zweigs zu einem Ganzen. Dabei geht er auch auf dessen Besuch seiner Heimatstadt Kattowitz, die mittlerweile Katowice hieß, ein. Er war 1949 anlässlich des 200. Geburtstags von Goethe nach Polen gereist. Bei dieser Gelegenheit hatte er sich auch nach Auschwitz und Birkenau begeben.

Wie es um die Rezeption des Zweigschen Werks in der oberschlesischen Presse nach dem Zweiten Weltkrieg aussah, referiert MICHAŁ SKOP (Katowice) detailliert aufgrund intensiver Recherchen. Er hat sowohl Zeitungen als auch Zeitschriften ausgewertet. Wir bekommen auf die Weise ein Bild davon, wie die Werke Zweigs in polnischen Übersetzungen gelesen und bewertet wurden. Man interessierte sich auch für Zweigs politisches Engagement. Zum Schluss seines Beitrags lenkt Skop unsere Aufmerksamkeit auf Pressemeldungen, die von Zweigs Schuljahren in Kattowitz handeln bzw. über seine publizistische Tätigkeit im Rahmen der Zeitschrift Die Gäste, die 1909/1910 erschien, Auskunft geben.

Eines der Hauptthemen im Zweigschen Werk ist der Erste Weltkrieg, speziell die „Höllenschlacht vor Verdun“. Wie sie verlief, beschreibt VOLKER VENOHR (Katowice) eingehend, so dass wir eine Vorstellung davon bekommen, wie sie der Armierungssoldat Zweig sah und erlebte. Die Schlacht nimmt, wie Venohr betont, einen unterschiedlichen Stellenwert in der deutschen und französischen Erinnerungskultur ein. Der Beitrag endet mit einem Blick auf Zweigs Kriegseinschätzung.

JASMIN SOHNEMANN (Hamburg) verfolgt in ihrem Beitrag die Geschichte der Beziehung zwischen Arnold Zweig und seinem Namensvetter Stefan. Sie greift auf die Ursprünge der Freundschaft in den 1920er Jahren zurück und schildert deren weitere Entwicklung. Sie zeigt am Beispiel von Anfang der 1930er ←9 | 10→Jahre entstandenen Texten über Europa, dass beide Schriftsteller mit Blick auf die Krise ihrer Gegenwart überaus ähnlich argumentierten und sich dafür u.a. auf Ideen Sigmund Freuds, den beide verehrten, stützten.

Abschließend stellt KRZYSZTOF KŁOSOWICZ (Katowice) im Umriss den im Arnold-Zweig-Archiv bei der Deutschen Akademie der Künste in Berlin befindlichen Nachlass des Schriftstellers dar. Er klassifiziert die Bestände nach entsprechenden Kategorien und macht auf Dinge aufmerksam, die für einen Zweig-Forscher von Bedeutung sein können. In einem separaten Abschnitt behandelt er die umfangreiche Briefsammlung Zweigs. Anschließend erfolgt eine Darstellung der Kattowitzer Arnold-Zweig-Bestände der Schlesischen Bibliothek.

Ziel dieses Bandes ist es, einerseits Zweigs fünfzigsten Todestages zu gedenken, zum anderen vor allem sein Werk neu zu beleuchten, sowohl aus literatur- bzw. kulturwissenschaftlicher sowie komparatistischer Sicht. Die Beiträge geben einen Einblick in den aktuellen Forschungsstand, aber auch neue Forschungsanstöße. Sie sind vor allem an den internationalen Forscherkreis adressiert.

Krzysztof Kłosowicz

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Karol Sauerland
(Warszawa)

Die vielen Wenden im Leben Arnold Zweigs

Das Wirken und Werk Arnold Zweigs spiegeln wie kaum das eines anderen Zeitgenossen die vielen Möglichkeiten wider, die die deutsche Geschichte zwischen der Zeit kurz vor dem Ersten und der nach dem Zweiten Weltkrieg einem Intellektuellen jüdischer Herkunft boten. Die jüdische Herkunft ist hier wichtig, weil Zweig nicht versuchte, sie als belanglos anzusehen, obwohl er weder religiös war, noch einer jüdischen Gemeinde angehörte, aber er wusste bereits durch seinen Vater Adolf Zweig, was engagiertes Judentum bedeutet. Dieser war Mitbegründer der Kattowitzer Ortsgruppe der zionistischen Bewegung und Mitbegründer des jüdischen Handwerkvereins. Das unterschied Arnold Zweig von den meisten seiner deutschen Zeitgenossen jüdischer Herkunft, deren Eltern sich bereits emanzipiert hatten, wie es im damaligen Sprachgebrauch hieß. Nach dem Holocaust ist es üblich geworden, den Söhnen und Töchtern emanzipierter Juden fast den gleichen Status zuzuweisen wie denen, die aus einem Milieu stammen, in dem das Judentum noch von Bedeutung war, es gelebt wurde.

Arnold Zweig stellte in jungen Jahren mit einem gewissen Bedauern fest, dass es in Deutschland kaum noch inbrünstig gläubige und praktizierende Juden gibt, obwohl er selber, wie gesagt, kein solcher ist. Er schildert bereits 1909, als er 22 Jahre alt war, in den Aufzeichnungen über eine Familie Klopfer, wie die Klopfers seit ihrer Einwanderung aus Russland nach Preußen den jüdischen Sitten nur noch an den Feiertagen Folge leisten. Sie beten selten hebräisch, sondern zumeist deutsch. Ihre Bande zur jüdischen Gemeinde sind gering. Die letzten Klopfers werden zu Verfechtern des Zionismus. In ihrer Gesinnung sind sie allerdings freigeistig oder gar atheistisch. Aber niemand ist zum Protestantismus wie Heine ein dreiviertel Jahrhundert zuvor oder zum Katholizismus übergetreten. Es handelt sich bei den Klopfern um einfache Juden, denen bis zur Jahrhundertwende keine akademische oder sonstige Karriere vorschwebte. Bei der Besetzung von kleineren Ehrenämtern, wie Hauptmann der Feuerwehr, sehen sie sich keinerlei Beschränkungen unterworfen. Sie werden gern gewählt oder ernannt, wenn sie rechtschaffend und sozial aktiv, mithin nicht bieder, sind.

1912 nimmt Zweig an der sogenannten Kunstwart-Debatte teil. Moritz Goldstein hatte in seinem bis heute berühmten Artikel „Deutsch-jüdischer Parnaß“, erschienen am 1. März 1912 in der Halbjahreszeitschrift Der Kunstwart, erklärt, der Jude solle sich endlich

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laut und rücksichtslos, ich möchte beinahe sagen schamlos als Jude bekennen.1

Es gehe dabei nicht darum, dass er „nur für und über Juden“, sondern „überall und unbedingt als Jude schreiben, dichten und malen“ solle.2 Die Juden mögen zugleich aufhören, „den geistigen Besitz eines Volkes“ zu verwalten, das ihnen „die Berechtigung und die Fähigkeit dazu abspricht“.3

Zweig antwortet in der Debatte auf die Artikel von Julius Bab, der den Juden poetisches Talent absprach. Als Vertreter der neuen Generation verkündet er, dass Bab Recht haben mag, was die vergangene und jetzige Zeit betreffe, aber die Jungen, wir Jungen werden das Gegenteil beweisen, ohne dabei ins Hebräische überzuwechseln. In der Forschungsliteratur wird dies als Zweigs neuer Standpunkt dargestellt, den er Martin Buber zu verdanken habe. Tatsächlich beruft er sich auf ihn, aber es ist kaum oder gar nicht bemerkt worden, dass Zweig, was ihn von Buber unterscheidet, immer wieder nach den Ursachen des Zerfalls jüdischen Lebens seit einigen Jahrzehnten sucht. Zu Recht hatte er 1935 den ersten Teil der Aufzeichnungen über eine Familie Klopfer eine „abrissartige soziologische Gegenwartsdarstellung“ genannt, er meinte sogar, es sei die erste dieser Art gewesen.4 Buber geht diese Sicht ab, soweit ich das sehe. In dem Beitrag zu dem Sammelbuch der Bar-Kochba-Gruppe behandelt Zweig nicht nur die ökonomischen, sondern auch die familiären Gründe für den Zerfall des Judentums. Die klassische Mutterrolle der Frau nimmt dadurch ein Ende, dass sie berufstätig und gesellschaftlich aktiv wird. Es nimmt daher nicht Wunder, dass er einige Jahre später in seinem Ostjudenbuch von 1919 mit größter Begeisterung die jüdische Mutter schildert, obwohl er selber ein polygames Leben zu führen wünschte und es auch zeitweise verwirklichte. Aber für die Aufrechterhaltung des Judentums sei nun einmal absoluter Konservatismus vonnöten. Dieser ist bei den Juden im Osten gegeben. Sie werden dauern, weil sie nicht nur „eine unbändige Lebenskraft“5 an den Tag legen, sondern auch in Treue und Ehe zusammenleben (die „unpersönliche Art, mit der allgemein im Ostjudentum Ehen geschlossen werden, sei dem nationalen Sinn der Ehe in einem bedrohten Volkstum tief ←12 | 13→gemäß“),6 und die Kinder ihre Eltern achten. Das sei natürlich nicht ohne Resignation möglich, was insbesondere auf die Jüdin zutreffe. Ihr fehle

von Anfang an das Selbstvertrauen in die Bestehbarkeit jedes weiblichen Schicksals. Ihre Instinkte verlassen sie, die sonst sicheren, sobald sie liebt. Niemand ist so leicht zu hintergehen wie sie, die so grenzenlos vertraut; das weiß sie, und darum wird sie mißtrauisch, unsicher, ängstlich, ungeschickt. Kommt noch dazu eine tiefe, fluchbefangene Furcht vor dem Glück starker Sinne, ein an erotischen Umständen leicht in Schreck zu setzendes Nervensystem und die starkbetonte Neigung zur Intellektualität, zum Grübeln, der die Balance des Natürlichen, Körperfrohen, Harmlosen oft fehlt, so wird man sich nicht wundern, wenn an dieser Stelle gerade der Ostjüdin die schärfste Kurve ihres Lebens bestimmt ist, an der sie leicht aus den Gleisen springen kann: von Frigidität, Abscheu vor dem Mann, Rettung durch das Kind oder durch eine Idee bis zur seelischen und geistigen Störung.7

Details

Seiten
210
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631803332
ISBN (ePUB)
9783631803349
ISBN (MOBI)
9783631803356
ISBN (Hardcover)
9783631798904
DOI
10.3726/b16280
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (November)
Schlagworte
Zionismus Künstlerproblematik Männlichkeitsbilder Verdun Stefan Zweig Oberschlesien
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 210 S.

Biographische Angaben

Krzysztof Kłosowicz (Band-Herausgeber:in)

Krzysztof Kłosowicz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Schlesischen Universität (Katowice). Er promovierte mit der Dissertation über die Frauenporträts in den Romanen Arnold Zweigs. Seinen Forschungsbereich bildet die deutschsprachige Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

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Titel: Arnold Zweig zum fünfzigsten Todestag
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