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Die Quadragesima-Homilien Leos des Großen

Eine hermeneutische und liturgiehistorische Untersuchung der Traktate 39-42

von Karl Wechtitsch (Autor:in)
©2020 Dissertation 404 Seiten

Zusammenfassung

Die Predigten Leos des Großen gehören nicht nur zu den schönsten der lateinischen Tradition, sondern stellen auch eine Schlüsselquelle für die Theologie- und Liturgiegeschichte dar. Die Untersuchung der Predigten zur österlichen Fastenzeit (Quadragesima) zeigt die Auswahl der sprachlichen und inhaltlichen Form auf, mit welcher der Bischof von Rom seine Adressaten prägen wollte. Bei dieser historischen Kontextualisierung werden außerdem Hinweise auf die Datierung und die liturgischen Lesungen analysiert, insbesondere die Bedeutung der Versuchungsperikope für Leos Theologie der Erlösung.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • I Einleitung
  • 1 Ziel und Begrenzung der Arbeit
  • 2 Arbeitsschritte und Aufbau
  • 3 Forschungsstand
  • 3.1 Forschungsstand zur Sprache Leos
  • 3.2 Forschungsstand zum zentralen Kerygma Leos
  • 3.2.1 Vom Kerygma zur Hermeneutik
  • 3.2.2 Von der Hermeneutik zur Soteriologie
  • 3.2.3 Von der Soteriologie zur christlichen Transformation Roms
  • 3.3 Forschungsstand zum liturgiehistorischen Rahmen der Quadragesima-Predigten
  • 3.3.1 Die Quadragesima in Rom zur Zeit Leos des Großen
  • 3.3.2 Der liturgische Rahmen der konkreten Quadragesima-Predigten
  • II Die Methode der Predigt
  • 1 Die Predigt als mündlicher Vortrag
  • 2 Die Form der Predigt
  • 3 Die Rolle der Rhetorik
  • 4 Der Predigtstil Leos des Großen
  • 4.1 Das christliche Latein
  • 4.2 Überblick über die Entwicklung des Prosarhythmus
  • 4.3 Leos Sprache
  • 4.4 Die von Leo häufig verwendeten Stilfiguren
  • 4.5 Das Verhältnis von Stil und Gehalt
  • 4.5.1 Die Übereinstimmung von Syntax, Rhythmus, Wortwahl, Stilfiguren und Inhalt
  • 4.5.2 Leos Sprache als Medium einer ästhetischen Theologie
  • 4.6 Schlussfolgerungen
  • 5 Der liturgische Kontext der Predigt
  • 5.1 Die Bedeutung des liturgischen Rahmens für die Hermeneutik der Predigten
  • 5.2 Die Verwendung der Bibel in der Liturgie
  • 5.2.1 Die Verwendung der biblischen Bücher
  • 5.2.2 Die Bedeutung der liturgischen Lesungen und deren Aktualisierung
  • 6 Dogmengeschichtliche Vorbemerkungen
  • 6.1 Die Abgrenzung von Nestorius
  • 6.2 Die Abgrenzung von Eutyches
  • 6.3 Leos Christologie
  • 6.4 Leos Soteriologie
  • 6.5 Leos theologische Deutung von Geschichte
  • III Die Auslegung der Quadragesima-Predigten Leos des Großen
  • 1 Analyse von tract. 39
  • 1.1 Historische Angaben
  • 1.2 Literarische Form
  • 1.2.1 Narratio: 1,1-13
  • 1.2.2 Der Hauptteil: Confirmatio
  • 1.2.3 Peroratio 5,139-6,214β
  • 1.2.4 Gliederung
  • 1.3 Rhetorischer Ausdruck des Inhalts
  • 1.3.1 Rhetorische Analyse der einleitenden Narratio: 1,1-13
  • 1.3.2 Rhetorische Analyse der Deutung der Versuchungsgeschichte: 3,69-78
  • 1.3.3 Analyse der Figuren in tract. 39
  • 1.4 Leos Bibelverwendung
  • 1.4.1 Der Befund der biblischen Bezugnahmen
  • 1.4.2 Sprachliche Adaptionen des biblischen Textes
  • 1.4.3 Die Bibel als Quelle für den Inhalt
  • 1.5 Anzeichen einer Interaktion zwischen Prediger und Versammlung
  • 1.5.1 Rhetorische Bezugnahme auf die Adressaten
  • 1.5.2 Rückschlüsse auf die Adressaten durch Sprache und Inhalt
  • 1.6 Theologische Grundgedanken
  • 2 Analyse von tract. 40
  • 2.1 Historische Angaben
  • 2.2 Literarische Form
  • 2.2.1 Exordium: 1,1-8
  • 2.2.2 Der Hauptteil: Confirmatio, Transitus, Narratio, Confutatio
  • 2.2.3 Peroratio: 4,89-5,158β
  • 2.2.4 Gliederung
  • 2.3 Rhetorischer Ausdruck des Inhalts
  • 2.3.1 Rhetorische Analyse des Transitus: 2,23-31
  • 2.3.2 Rhetorische Analyse der Deutung der Versuchungsgeschichte: 3,47-88α
  • 2.3.3 Analyse der Figuren in tract. 40
  • 2.4 Leos Bibelverwendung
  • 2.4.1 Der Befund der biblischen Bezugnahmen
  • 2.4.2 Sprachliche Adaptionen des biblischen Textes
  • 2.4.3 Die Bibel als Quelle für den Inhalt
  • 2.5 Anzeichen einer Interaktion zwischen Prediger und Versammlung
  • 2.5.1 Rhetorische Bezugnahme auf die Adressaten
  • 2.5.2 Rückschlüsse auf die Adressaten durch Sprache und Inhalt
  • 2.6 Theologische Grundgedanken
  • 3 Analyse von tract. 41
  • 3.1 Historische Angaben
  • 3.2 Literarische Form
  • 3.2.1 Exordium: 1,1-9
  • 3.2.2 Der Hauptteil: Confirmatio, Transitus, Narratio
  • 3.2.3 Peroratio: 3,69-99
  • 3.2.4 Gliederung
  • 3.3 Rhetorischer Ausdruck des Inhalts
  • 3.3.1 Rhetorische Analyse der Confirmatio: 1,10-20
  • 3.3.2 Rhetorische Analyse der Deutung der Versuchungsgeschichte: 2,45-58
  • 3.3.3 Analyse der Figuren in tract. 41
  • 3.4 Leos Bibelverwendung
  • 3.4.1 Der Befund der biblischen Bezugnahmen
  • 3.4.2 Sprachliche Adaptionen des biblischen Textes
  • 3.4.3 Die Bibel als Quelle für den Inhalt
  • 3.5 Anzeichen einer Interaktion zwischen Prediger und Versammlung
  • 3.5.1 Rhetorische Bezugnahme auf die Adressaten
  • 3.5.2 Rückschlüsse auf die Adressaten durch Sprache und Inhalt
  • 3.6 Theologische Grundgedanken
  • 4 Analyse von tract. 42
  • 4.1 Historische Angaben
  • 4.2 Literarische Form
  • 4.2.1 Exordium: 1,1-12
  • 4.2.2 Der Hauptteil: Confirmatio, Transitus, Narratio, Confutatio
  • 4.2.3 Peroratio: 6,220-261α
  • 4.2.4 Gliederung
  • 4.3 Rhetorischer Ausdruck des Inhalts
  • 4.3.1 Rhetorische Analyse der Deutung der Versuchungsgeschichte: 3,106-126α
  • 4.3.2 Rhetorische Analyse der Peroratio: 6,226α-254α
  • 4.3.3 Analyse der Figuren in tract. 42
  • 4.4 Leos Bibelverwendung
  • 4.4.1 Der Befund der wörtlichen Bezugnahmen auf die Bibel
  • 4.4.2 Sprachliche Adaptionen des biblischen Textes
  • 4.4.3 Die Bibel als Quelle für den Inhalt
  • 4.5 Anzeichen einer Interaktion zwischen Prediger und Versammlung
  • 4.5.1 Rhetorische Bezugnahme auf die Adressaten
  • 4.5.2 Rückschlüsse auf die Adressaten durch Sprache und Inhalt
  • 4.6 Theologische Grundgedanken
  • 5 Schlussfolgerungen
  • 5.1 Die Übereinstimmung von Stil und Gehalt
  • 5.2 Liturgiehistorische Erkenntnisse
  • 5.2.1 Datierung und liturgische Lesungen in den Predigen 39, 40, 41 und 42
  • 5.2.2 Datierung und liturgische Lesungen in Leos übrigen acht Quadragesima-Predigten
  • 5.2.3 Leos Adressaten
  • IV Der Vergleich der Auslegungen von Mt 4,1-11
  • 1 Grundlinien der Auslegung der Versuchungsperikope in der Alten Kirche
  • 2 Leos Auslegung der Versuchungsperikope
  • 2.1 Paraphrase der Auslegung in den vier Predigten Leos (tract. 39-42)
  • 2.2 Die in den drei Versuchungen enthaltenen dogmatischen Konzepte
  • 2.3 Die Verwendung der Bibel in der Auslegung von Mt 4,1-11
  • 2.4 Zusammenfassung
  • 3 Die Auslegung des Augustinus
  • 3.1 Äußere Umstände von serm. 208
  • 3.2 Inhalt von serm. 208
  • 3.3 Vergleich mit Leos Auslegung
  • 3.4 Zusammenfassung
  • 4 Die Auslegung des Maximus von Turin
  • 4.1 Äußere Umstände von serm. 51
  • 4.2 Inhalt von serm. 51
  • 4.3 Vergleich mit Leos Auslegung
  • 4.4 Zusammenfassung
  • 5 Die Auslegung des Petrus Chrysologus
  • 5.1 Äußere Umstände von serm. 13
  • 5.2 Inhalt von serm. 13
  • 5.3 Vergleich mit Leos Auslegung
  • 5.4 Zusammenfassung
  • 6 Schlussfolgerungen
  • 6.1 Liturgiehistorische Schlussfolgerungen
  • 6.1.1 Die Schriftlesungen am ersten Sonntag der Quadragesima
  • 6.1.2 Die Aktualisierung des vierzigtägigen Fastens
  • 6.2 Die Auslegung der drei Versuchungen
  • 6.2.1 Der Satan als getäuschter Täuscher
  • 6.2.2 Die Gegenüberstellung der Versuchungen von Adam und Christus
  • 6.2.3 Die Reaktionen Christi als Verhaltensmodell
  • 6.2.4 Die Aktualisierung der Versuchungen in den untersuchten Predigten
  • 6.2.5 Inhaltliche Quellen für Leo bei der Auslegung von Mt 4,1-11
  • 6.3 Bewertung von Leos Rückgriff auf verschiedene Auslegungstraditionen
  • V Zusammenfassung
  • Anhang
  • 1 Abkürzungsverzeichnis
  • 2 Bibliographie
  • 2.1 Primärliteratur
  • 2.2 Sekundärliteratur
  • 3 Register
  • 3.1 Schriftstellen
  • 3.2 Stellen bei antiken und mittelalterlichen Autoren
  • 3.3 Moderne Autoren
  • 3.4 Namen- und Sachregister
  • Reihenübersicht

←16 | 17→

I Einleitung

1 Ziel und Begrenzung der Arbeit

Leos zwölf Quadragesima-Predigten waren bisher noch nicht Gegenstand einer umfassenden Forschungsarbeit. Sie wurden zwar in allgemeinen Analysen von liturgischen Predigten, der altkirchlichen Quadragesima, von Leos Sprache und Theologie berücksichtigt, aber nicht eigens thematisiert. Zu nennen sind lediglich die liturgiehistorischen Artikel von Ignace Carton1 und Antoine Chavasse,2 der Aufsatz zur Christologie von Geoffrey Dunn3 und die Edition in der Reihe Bibliotheca Patristica,4 die eine allgemeine Einführung zu den Kollekten- und Quadragesima-Predigten bietet sowie einen sprachlich-analytischen und historischen Kommentar mit einzelnen Verweisen zu den Quellen.5

In der vorliegenden Untersuchung werden die Form der Predigten, das Verhältnis von Sprache und Inhalt sowie der liturgiehistorische Rahmen erschlossen. Die Ermittlung der sprachlichen Form soll nicht nur Leos Verwendung der Rhetorik und dadurch die zentralen Inhalte sichtbar machen, sondern auch Leos hermeneutische Grundsätze und die Bedeutung von Leos zentralem Kerygma der Doppelkonsubstantialität erfassen. Bei der Analyse der Entsprechung von Stil und Gehalt in den Quadragesima-Predigten ist der Ansatz von Marco Ronconi6 zu berücksichtigen, der Leos Rhetorik unter dem Aspekt der Ästhetik betrachtet. Da der Papst in allen Teilen der Predigt das Wahre, Gute und Schöne ←17 | 18→zusammensehe, gehe es ihm nicht nur um die Vermittlung von intellektuellen Inhalten oder um eine Übereinstimmung von Inhalt und Rhetorik, wie sie auch Augustinus forderte, sondern auch um die Kategorie der Schönheit, die an der Rhetorik selbst zum Medium werde.

Für die sprachliche Untersuchung der Quadragesima-Predigten ergeben sich daraus folgende Aufgaben: (1) In der Einleitung Leos Sprache und Stil in die Entwicklung des christlichen Lateins und der lateinischen Kunstprosa einzubetten und seine Aussagen über die Rhetorik darzustellen, um die Annahme einer ästhetischen Verkündigung bewerten zu können, (2) im Hauptteil die Entsprechung von Stil und Gehalt in den Quadragesima-Predigten zu untersuchen, nicht zuletzt an der Form von rhythmuskonformen Reformulierungen biblischer Zitate7 und (3) die durch Leos bevorzugte rhetorische Figuren (Alliteration, Assonanz, Antithese, Homoioteleuton, Isokolon) vorgegebenen Inhalte zu eruieren sowie in Beziehung zu Leos zentralem Kerygma vom Gottmenschen Jesus Christus zu setzen.

Um die Bedeutung des liturgiehistorischen Rahmens für das Verständnis der zwölf Quadragesima-Predigten angemessen zu berücksichtigen, sollen die traditionellen Annahmen bezüglich der Datierung auf den ersten Sonntag der Quadragesima und der für diese Liturgie bestimmten, biblischen Perikopen 2 Kor 6,1-10 und Mt 4,1-11 am textimmanenten Befund von primären und sekundären Hinweisen überprüft werden. Soweit wie möglich sollen auch Schlüsse auf die Zusammensetzung der Adressaten Leos gezogen werden.

Da in den ersten vier Predigten 39-42 zentrale Inhalte an der Versuchungsgeschichte Mt 4,1-11 entwickelt werden, wird diese Bibelstelle in ihrer Bedeutung für Leos Profilierung der Quadragesima und seiner theologischen Deutung von Geschichte sowie seiner Theologie der Erlösung untersucht. Dazu wird die Entwicklung der lateinischsprachigen Auslegung von Mt 4,1-11 bis hin zu Leos liturgischer Aktualisierung herausgearbeitet. In der vorliegenden Arbeit geht es also nicht um konkrete, historische Transformationsprozesse der Stadt Rom in eine christliche civitas Dei, sondern um die Erfassung der von Leo intendierten Grundlinien für die Entwicklung eines solchen Stadtkonzeptes, besonders im ←18 | 19→Bereich der Fürsorge für die Armen als Realisierung der christologisch begründeten Barmherzigkeit. Leos „exegetische“ Arbeit in den Quadragesima-Predigten wird daher als Theologie entfaltet, in der die ‒ besonders in der Liturgie vermittelte ‒ Aktualisierung des Evangeliums in der Gegenwart verdeutlicht wird.

Der Vergleich mit den Auslegungen der Versuchungsgeschichte von je einer Predigt von Augustinus, Maximus von Turin und Petrus Chrysologus soll zur weiteren Klärung der Bedeutung der Versuchungsperikope als Evangelium für die Quadragesima beitragen. Durch die Ergebnisse dieser Zusammenschau wird ein neues Licht auf Leos Profil als lateinischer Prediger geworfen.

Einige formale Bemerkungen zur vorliegenden Untersuchung sollen an dieser Stelle noch gemacht werden: Leos Predigten werden nach der Ausgabe von Chavasse zitiert und auch als tractatus („Abhandlung“, „Predigt“) bzw. durch die Abkürzung „tract.“ bezeichnet.8 Für die Textanalyse wird die Textvariante α herangezogen, die gemäß Chavasse die erste Sammlung durch Leo darstellt. Auf die Abweichungen der Variante β von Leos zweiter Predigt-Sammlung wird aber hingewiesen. Bibelstellen werden gemäß der Vulgata zitiert.

Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit wurde auf eine gendergerechte Sprache verzichtet.

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2 Arbeitsschritte und Aufbau

Auf dem Acker des Herrn, Geliebteste, dessen Arbeiter wir sind, müssen wir klug und wachsam einer geistigen Bewirtschaftung nachgehen, damit wir uns mit beharrlicher Ruhelosigkeit darum sorgen, was zu den angemessenen Zeiten zu tun ist, und uns über die Frucht der heiligen Werke freuen können.9

Leo der Große

Die Einleitung erschließt Form, Sprache und zentrales kerygmatisches Anliegen von Leos Predigten. Dabei werden die zu Leos Zeiten typischen Anknüpfungspunkte an die pagane Tradition der Rede und der Rhetorik skizziert (→ II 1 ‒ 3). Besondere Rücksicht wird auf die Darstellung von Leos Predigtstil, der Entwicklung des christlichen Lateins, des Prosarhythmus und der Übereinstimmung von Form und Inhalt genommen, um Hinweise auf eine liturgische Ästhetik sowie auf eine ästhetische Theologie10 erfassen und bewerten zu können (→ II 4).

←20 | 21→

Da die spezifischen Quellen für Leos Quadragesima-Predigten nicht Gegenstand dieser Arbeit sind, sondern vielmehr das Zueinander von Sprache und Inhalt und die Wirkung auf die Adressaten des 5. Jh., wird die Kontinuität zu lateinischen Predigern und Autoren in diesem Durchgang nur prinzipiell erschlossen, um auf die in der Forschung bereits festgehaltene Anknüpfung an Augustinus, Hilarius, Tertullian und andere Prediger bzw. Autoren11 hinzuweisen. In der Analyse der Predigten sind die Verweise auf Parallelen und mögliche Quellen daher nicht auf Vollständigkeit angelegt, sondern dienen der Erläuterung von Motiven und Sprachstrukturen, wo dies m. E. hilfreich ist.

Ein Überblick über Leos Bibelverwendung ergänzt das Bild von Leos Sprache, die von biblischen Formulierungen und Inhalten geprägt ist, und schlägt auch eine Brücke zu seiner inhaltlichen Botschaft und seinem Verständnis der verlesenen Texte in der Liturgie und deren Aktualisierung, die bei Leo stets mit der effizienten Prägung der Menschen und damit der Kultur verbunden ist (→ II 5). Den Einleitungsteil beschließen dogmengeschichtliche Vorbemerkungen über Leos zentrale christologische und soteriologische Grundsätze sowie wesentliche Hinweise auf Leos theologische Deutung von Geschichte (→ II 6).

Im Hauptteil (→ III) werden zunächst nur die ersten vier Quadragesima-Predigten (von insgesamt zwölf) detailliert analysiert. Zu dieser Eingrenzung führt die Tatsache, dass Leo nur in diesen Predigten (tract. 39-42) explizit auf die Versuchungsperikope (Mt 4,1-11) Bezug nimmt und die Klärung der liturgiehistorischen Fragen nach den Lesungen und dem Datum der Predigt ihren Ausgang von textimmanenten Belegen nehmen soll. Torsten Krannichs Lokalisierung erwähnenswerter christologischer Formulierungen in diesen vier Traktaten12 schien außerdem vielversprechend für die Profilierung von Mt 4,1-11 als zentrales Narrativ (narratio) von Leos soteriologischen Grundgedanken für seine Zeit.

Die Analyse erfolgt nun nach sechs Kriterien: (1) Historische Angaben zur Predigt, (2) Literarische Form, (3) Rhetorischer Ausdruck des Inhalts, (4) Die ←21 | 22→Verwendung der Bibel, (5) Anzeichen einer Interaktion zwischen Prediger und Versammlung. (6) Abschließend werden die theologischen Grundgedanken als Aktualisierung von Mt 4,1-11 ausgedrückt.

Unter den historischen Angaben zur Predigt (1) wird die von Chavasse vorgenommene Datierung auf ein bestimmtes Jahr erläutert. Gegebenenfalls gehören dazu auch die Datierung der zweiten Sammlung und der Hinweis auf deren abweichenden Textbestand bzw. die Erläuterung für mögliche Ursachen einer späteren Textrevision. An dieser Stelle werden auch mögliche Hinweise auf die Bestimmung der Predigt für den ersten Sonntag der Quadragesima angeführt. Schließlich werden in den Predigten auch mögliche Anspielungen an historische Umstände und Texte berücksichtigt. Im zweiten Schritt (2) wird die literarische Form untersucht, die abschließend zur Darstellung der Gliederung der Predigt führt. Um der Frage nachzugehen, ob und inwiefern Stil (Figuren, Tropen und Klauseln) und Gehalt sich in neuralgischen Passagen von dogmatischen Wendungen intensiver entsprechen als an anderen Stellen, werden im Untersuchungsgang „Rhetorischer Ausdruck des Inhalts“ (3) neben den jeweiligen konkreten Auslegungen von Mt 4,1-11 (die eine Fülle von dogmatischen Wendungen enthalten und i. d. Regel der Narratio entsprechen), auch jeweils eine zweite Stelle auf diese Entsprechung hin untersucht, die keine oder kaum christologische Erläuterungen enthalten. Um bei der Auswahl dieser jeweils zweiten Stelle eine größere Bandbreite abzudecken, werden sie der Einleitung (Exordium), dem Schluss (Peroratio) oder dem Mittelteil (Argumentatio, Confirmatio) entnommen. Die Erhebung der Inhalte, die darüber hinaus in den gesamten Predigten durch die sprachlichen Strukturen zum Ausdruck kommen, erfolgt über die Filter jener Stilmittel, die Leo bevorzugt verwendet: Alliteration, Assonanz, Antithese, Homoioteleuton und Isokolon (Parallelismus und Chiasmus).

Der vierte Schritt (4) untersucht die Hinweise auf vorausgehende Schriftlesungen, um die traditionelle Annahme, dass es sich dabei um 2 Kor 6,1-10 und Mt 4,1-11 handle, bewerten zu können. Ausgegangen wird dabei von Leos allgemeiner Bibelverwendung in der jeweiligen Predigt, indem der Befund der verwendeten biblischen Bücher sowie der verschiedenen Formen von Zitaten erhoben wird (vollständige Zitate, Teilzitate, wörtliche Anspielungen), die mögliche, sprachliche Adaption des biblischen Ausdrucks im Sinne einer rhythmuskonformen Reformulierung sondiert und die Verwendung von biblischen Inhalten ermittelt wird.

An fünfter Stelle (5) werden Form und Häufigkeit der Einbeziehung des Publikums untersucht, um dessen Einfluss auf die Gestalt der Predigt zu bewerten und mögliche Schlüsse auf die Zusammensetzung der Adressaten zu ziehen. Schließlich (6) werden die theologischen Grundgedanken auf Basis der vorausgehenden, vor allem rhetorischen Analyse dargestellt.

In den Schlussfolgerungen nach der Analyse der vier Predigten werden die Erkenntnisse über die Übereinstimmung von Stil und Gehalt und über den ←22 | 23→liturgiehistorischen Rahmen (Lesungen, Datierung der Predigt, Adressaten) dargeboten und in Beziehung zu Leos übrigen acht Quadragesima-Predigten (tract. 43-50) gesetzt, indem sprachliche und inhaltliche Kontinuitäten oder Diskontinuitäten aufgezeigt werden.

Im zweiten Hauptteil (→ IV) wird eine Fallstudie anhand des Vergleichs von Leos konkreter Auslegung der Versuchungsperikope Mt 4,1-11 mit jener von anderen, lateinischen Autoren und Predigern erstellt. Das Ziel dieser Studie besteht einerseits in der Einordnung von Leos inhaltlicher Arbeit und besonders der dogmatischen Formulierungen in die frühkirchliche Auslegungstradition13 und andererseits in der Untersuchung der Bedeutung der Schriftstelle Mt 4,1-11 für die Liturgie, für das Verständnis der Quadragesima und für die theologische Deutung von Geschichte.

Einleitend werden zunächst Grundlinien der Auslegung von Mt 4,1-11 in der frühen Kirche vorgestellt sowie die in diesem Untersuchungsgang zitierten Autoren genannt (→ IV 1). Als Ausgangspunkt für die Profilierung Leos als Prediger seiner Zeit dient die darauf folgende Zusammenschau der entsprechenden Stellen der vier Predigten Leos (→ IV 2). Für den konkreten Vollzug des Vergleichs wurde je eine Predigt von Augustinus, Maximus von Turin und Petrus Chrysologus ausgewählt (→ IV 3 ‒ 5),14 um auch den liturgiehistorischen Rahmen dieser Predigten (Zeit, Schriftlesungen) berücksichtigen zu können. Die Aktualisierungen und die dogmatischen Formulierungen der drei Predigten werden größtenteils in den Fußnoten mit den wichtigsten Traditionslinien der altkirchlichen Auslegung der Versuchungsperikope in Beziehung gesetzt, um in den Schlussfolgerungen (→ IV 6) auf diese Verweise zurückgreifen zu können. In der Zusammenfassung (→ V) werden schließlich alle Erkenntnisse dargestellt.

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Daraus ergibt sich folgender Aufbau: (II) Die Methode der Predigt (Form, Sprache, Liturgie, Dogmengeschichtliche Vorbemerkungen), (III) Die Auslegung der Quadragesima-Predigten Leos des Großen (Traktate 39 ‒ 42), (IV) Die Auslegung der Versuchungsperikope (Mt 4,1-11) im Vergleich, (V) Zusammenfassung und Synthese der liturgisch-exegetischen Aspekte der Quadragesima-Predigten, der Bewertung der Souveränität Leos im Umgang mit der Bibel, der lateinischen Sprache sowie der Tradition der Auslegung von Mt 4,1-11 und der Bedeutung der Quadragesima in Leos Theologie der Erlösung.

Präliminaria zur Kolometrie und zu den Klauseln

Bezüglich der Kolometrie und der Kennzeichnung der Klauseln im dritten Arbeitsschritt der Predigtanalyse („Rhetorischer Ausdruck des Inhalts“) folge ich den Grundsätzen von Blümer:15 (1) Die Unterteilung in Kola darf sich nicht rein an den Klauselrhythmen orientieren. (2) Die für Leo typischen Klauseln dürfen jedoch herangezogen werden, um mit der Kolongrenze eine eventuelle Absicht des Autors zu benennen. (3) Eine Zerlegung in grammatikalische Bestandteile ist zu wenig, sie müssen in Sinneinheiten zusammengefasst werden. (4) Rhetorische Stilmittel (Parallelismus, Antithese…) haben eine gliedernde Funktion und sollten die Binnenstruktur deutlich werden lassen.

Blümer gibt nun folgende Klauseln als von Leo bevorzugt und somit als „schlussstark“ an:

P 1 γ und 1 γ;

T 2 γ und 2 γ; T 13 γ und 13 γ;

V 3 δ, 3 δ und V δ;

TT 12 γ und 12 γ.

Die Großbuchstaben stehen für die akzentuierenden Kursusformen: P = cursus planus (x́x xx́x), T = cursus tardus: (x́xx x́xx), V = cursus velox: (x́xx xxx́x) und TT = cursus trispondaicus: (x́x xxx́x); die Zahlen für die quantitierenden Formen: 1 = Kretikus und Trochäus (‒◡‒ ‒◡: mórte vìcérunt), 2 = Dikretikus (‒◡‒ ‒◡‒: céssit aùdáciae), 3 = Kretikus und Ditrochäus (‒◡‒ ‒◡ ‒◡: glóriàm consecúti) und 12 = Tritrochaicus (‒◡ ‒◡ ‒◡: ésse vìdeátur).

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Akzentuierende Klauseln können also gleich bedeutsam sein wie quantitierende und sind in der Anwendung eher als Einheit zu betrachten.16 Die durch einen Akut (´) angegebenen Betonungen fallen in den entsprechenden Fällen mit der ersten und der vorletzten Länge bzw. im Dikretikus mit der vorvorletzten Länge zusammen. In der akzentuierenden Form kann die Betonung aber auch auf eine Kürze fallen, sodass etwa auch die fünf Silben ◡◡◡‒◡ als cursus planus (x́x/xx́x) gelten können. Der Gravis (`) für die unbetonten Längen wird bei der Textanalyse um der Übersicht willen nicht angegeben. Die hochgestellte Zahl bezieht sich auf die jeweilige Länge, um ihre Auflösung in zwei Kürzen anzugeben: der Exponent in T 13 γ bezieht sich z. B. auf die dritte Länge der Hauptform 1, sodass ‒◡‒ ◡◡◡ statt ‒◡‒ ‒◡ gilt. Mit den griechischen Buchstaben werden die Zäsuren (Sprechpausen) angegeben, die in der Regel mit den Wortgrenzen zusammenfallen: In P 1 γ erfolgt die Zäsur vor der dritten Silbe, im folgenden Beispiel also nach morte: mórte vìcérunt (‒◡/ ‒ ‒◡).

Der Unterschied zwischen V 3 δ und V δ besteht darin, dass im ersten Fall die akzentuierende Form (V) mit der quantitierenden übereinstimmt, während im zweiten Fall die nach den metrischen Regeln gemessenen Quantitäten nicht mehr mit den Akzenten des cursus velox zusammenfallen, wie an folgenden Beispielen deutlich wird: abstinéntiàm dèvovéntes (V 3 δ) entspricht dem cursus velox (x́xx/xxx́x) und der quantitierenden Hauptform 3 (‒◡‒/ ‒◡ ‒◡) und weist vor der vierten Silber eine Zäsur auf (δ). Dahingegen ist matéria querèlárum (V δ) nur der akzentuierenden Form des cursus velox zuzuordnen, da die Quantitäten (◡◡◡/ ◡‒ ‒◡) nicht mit der Hauptform 3 übereinstimmen.

Um der Autorenintention möglichst gerecht zu werden sollen nur jene von Blümer benannten Klauseln als bewusst verwendet in Frage kommen, die Leo ‒ praktisch in Einklang mit der Tradition ‒ bevorzugt verwendet.17 Alle anderen Rhythmen werden um der Tranzparenz willen dennoch an den Kola-Enden angegeben, wie z. B. temporáliùm varietátes (33 δ). Hier ist die dritte Länge der Hauptform 3 in zwei Kürzen aufgelöst, sodass die Anzahl der Silben nicht mehr dem cursus velox entspricht (‒◡‒/ ◡◡◡‒◡). Alle Rhythmen, die keinem dieser Schemata entsprechen, werden als unrhythmisch (unrhythm.) gekennzeichnet.

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3 Forschungsstand

3.1 Forschungsstand zur Sprache Leos

Die sprachliche Analyse der Predigten knüpft abseits von der Frage nach ihrer Abhängigkeit von anderen Quellen18 vor allem bei den Arbeiten von Francesco di Capua, Theodor Steeger, William J. Halliwell, Herbert Arens und Wilhelm Blümer an.19 Steeger20 analysierte und kategorisierte Leos Klauseltechnik in den Predigten. Di Capua21 wies bei der Analyse der Klauseltechnik in Leos Briefen darauf hin, dass diese rhythmisierte Sprache sich nicht wesentlich von Leos Predigtstil ←26 | 27→unterscheidet. Halliwell22 stellte fest, dass Leo (neben den Klangfiguren Alliteration und Assonanz23) die Antithese, das Homoioteleuton und das Iskolon (Parallelismus, Chiasmus) besonders häufig, rhetorisch effizient und gemäß der Logik des Inhalts verwendet. Arens24 führte die Überlegungen zum Verhältnis von Sprache und Inhalt in seiner Untersuchung des Einflusses von Rhetorik und Syntax auf die Gestalt des Textes des Tomus ad Flavianum „bis hin zur Wortwahl“25 weiter. Während Murphy26 Leos Stil mitunter als gegenüber dem Inhalt verselbstständigt beschrieb, konstatierte Blümer27, dass die Arbeit von Arens in der Darstellung der Entsprechung von Leos Stil und Gehalt noch „viel zu kurz kommt“28, da dieser der Rhetorik lediglich eine inhaltliche Qualität zuschrieb.29 Die äußere Form von Leos Sprache erschließe sich jedoch aus dem Inhalt und umgekehrt, sodass der Inhalt selbst „spreche“30. Diese Prävalenz des Inhalts, also des christlichen Kerygmas, das sich auch bei anderen Autoren, bevorzugt durch einen biblisch verbürgten, ←27 | 28→kunstvollen Antithesenbau manifestiere,31 sei in allen Teilen von den untersuchten Predigten Leos nachzuweisen, obgleich das antithetische Isokolon, das oft in Verbindung mit Homoioteleuta und gleichen Klauseln auftrete besonders häufig bei der Darstellung des Mysteriums der Gottmenschheit Christi zur Anwendung komme.

3.2 Forschungsstand zum zentralen Kerygma Leos

3.2.1 Vom Kerygma zur Hermeneutik

Basil Studer32 arbeitete als zentrales, kerygmatisches Anliegen Leos die Doppelkonsubstantialität heraus, nach der Christus an der göttlichen und der menschlichen Natur Anteil habe und daher consubstantialis Patri33 („gleich beschaffen wie der Vater“) und consubstantialis Matri34 („gleich beschaffen wie die Mutter“) sei.35 Dass Leo ohnehin weniger an spekulativer Theologie und philosophisch-theologischer Begriffsdefinition interessiert ist, verdeutlicht auch seine Schriftauslegung, die von der bei frühchristlichen Autoren häufig zu findenden ←28 | 29→„two-nature exegesis“36 bestimmt ist. Maria-Barbara von Stritzky37 zeigte, dass Leo im Sinn einer altkirchlichen Exegese eine Brücke zwischen Hermeneutik und Schriftaktualisierung schlägt, um den Kriterien der regula fidei und der Erbauung der Adressaten gerecht zu werden. Leo konkretisiere die Christologie am biblischen Text näher, um die Voraussetzungen für ein christliches Leben aus soteriologischer Hinsicht verstehbarer zu machen.38 Für den Papst sei das Mysterium der Einheit der Person Jesu letztlich also nicht intellektuell erschöpfend zugänglich,39 sondern müsse in der Weggemeinschaft im Glauben angenommen werden. Indem die Glaubenden Christus als exemplum imitationis nachfolgen, aktualisieren sie ihrerseits nicht nur das Mysterium in der lebendigen Kirche, sondern begreifen auch die heilsgeschichtliche Wahrheit über Christus.40

3.2.2 Von der Hermeneutik zur Soteriologie

J. Mark Armitage41 arbeitete die Verknüpfung von Hermeneutik und Soteriologie im Denken Leos noch deutlicher heraus. Er legte dar, dass die Lehre der ←29 | 30→Doppelkonsubstantialität als Voraussetzung für das soteriologische Konzept der pax christiana („auszudehnender Friede Christi“) und der salus imperii („Rettung des Imperiums“) zu verstehen sei. Leos erstes Anliegen sei der Schutz des Kerygmas von den beiden Naturen Jesu, das zeige, wer Christus sei und worin sein Sieg bestehe. Die menschliche Natur Jesu sei die Bedingung dafür, dass die Schrift und der Sieg Christi sich in der Gegenwart erfüllen, da die Fortsetzung des Sieges Christi im Leib der Kirche in Form der participatio („Teilhabe“) und der imitatio („Nachahmung“) der Barmherzigkeit geschehe. Nur die ‒ aus Leos Sicht ‒ orthodoxe Christologie anerkenne die Solidarität Christi mit den Menschen und besonders mit den Armen und ermöglichte so das auf die Almosen und damit auf die Gottes- und Nächstenliebe ausgerichtete, vernunftgemäße Fasten (rationabile ieiunium42). Diese Weggemeinschaft mit Christus garantiere den Frieden im inneren des Menschen sowie in der Gesellschaft, da mit dem Sieg über die geistigen letztlich auch die zeitlichen, das gegenwärtige Rom bedrohenden Feinde weichen müssten. Die dem Papst und dem Kaiser unterstellte Hauptstadt habe die heilsgeschichtliche Aufgabe, die christliche Lehre vom Irrtum zu befreien und das Licht des Evangeliums in die Welt zu verbreiten, um die Völker in das wahre Israel zu rufen.43 Diesen Zusammenhang von Erlösung und Bekenntnis zeigte auch Torsten Krannich44 in seiner Studie zur Entwicklung der lateinischen Christologie auf.

Laurent Pidolle45 hob die zentrale Bedeutung von 1 Tim 3,16 und Phil 2,6-11 für die Entwicklung von Leos Christologie hervor, während er Mt 5,17 als Schlüssel des biblisch-historischen Aspekts der Christologie und Joh 12,32 als deren Höhepunkt auswies.46 Wie der zunächst in die Welt eingetretene und schließlich erhöhte Christus die Geschichte an sich ziehe, so auch die nun eindeutig ←30 | 31→verstehbaren Vor-Bilder des AT (z. B. Melchisedek, vgl. Hebr 7) und die Menschen.47 Als Teil der Geschichte tragen die Menschen zur Inkorporation derselben in Christus bei, durch die zugrundeliegende Struktur von sacramentum und exemplum im Glauben, in der Taufe und in der Eucharistie.48 Gemäß dieser „Theologie der Erfüllung“ führe der Durchgang durch Christus zur eigentlichen Transformation der Geschichte.49 Die sakramentale Anteilnahme an Christus sei aber auch die hermeneutische Bedingung für das das gläubige Verstehen dieser Zusammenhänge,50 da dann der Schleier vom Herzen genommen werde und das Licht der Erkenntnis ans Ziel gelange.51 Allein die Glaubenden haben Zugang zu den zentralen Wahrheiten in den Quellen der Schrift und der sich in Christus erfüllenden, dynamischen Geschichte der Verheißung bzw. der sich in den konkreten Gegebenheiten der Gegenwart spezifisch lichtenden Offenbarung.52 Als hermeneutisches Prinzip könne daher die auch von Augustinus als Teil der ←31 | 32→regula fidei eingenommene Perspektive auf die forma servi bzw. auf die forma Dei der Person Christi gelten.53 Demnach werde eigentlich nicht die Schrift im exegetischen Sinn erklärt, sondern alles durch die sakramentale Zeichen enthaltende Schrift beleuchtet,54 die die Realität des Christusmysteriums in der Kirche der Gegenwart bezeichne und auf deren Fülle verweise. Leos „Christologie der Geschichte“ sei insofern vom historischen Kontext des 5.Jh. geprägt55 und gleichzeitig der Hintergrund für deren ontologische Bestimmung auf dem Konzil von Chalcedon, sodass sie als Ermutigung zu einer Theologie der Geschichte gewertet werden könne,56 die den historischen Jesus nicht von dem Christus des Glaubens trenne.57

3.2.3 Von der Soteriologie zur christlichen Transformation Roms

Während Bernard Green58 auf Basis der Datierungen von Chavasse die Entwicklung der Christologie in Leos frühen Predigten nachzeichnet59 und dabei auch die oben ausgeführten Überlegungen von Armitage zur christlichen Transformation ←32 | 33→des Imperium Romanum aufgreift,60 konzentriert Susan Wessel61 sich stärker auf die konkreten Auswirkungen von Leos Christologie auf das Verständnis der Rom-Idee und der praktischen Kirchenpolitik auf. Unter den Vorzeichen des bedrohlichen Vordringens der Barbaren verbinde Leo Rom mit einem Konzept von der civitas Dei, das einen besonderen Auftrag für die Gegenwart beinhalte. Im Hinblick auf Leos Soteriologie sei der auf die Nachfolge in der Barmherzigkeit und Fürsorge für die Armen ausgerichtete Fokus auf die menschliche Natur Christi kaum einmal vor ihm so klar zu Tage gekommen. Leos Bestrebungen, diese lateinische Christologie durchzusetzen seien außerdem aufs engste mit seinem kirchenpolitischen Handeln verbunden. Als markante Wegmarken seien dabei die Anerkennung seiner Autorität im Westen, sein kontinuierlicher Einsatz um ein neues Konzil nach der sogenannten Räubersynode und seine Ablehnung des Kanon 28 des Konzils von Chalcedon zu nennen, der den Ehrenvorrang Roms vor Konstantinopel abschaffen sollte. In Zeiten der Instabilität vermittelte Leos Soteriologie auf diese Weise eine neue Vision für Rom.62

←33 | 34→

Almosen als Parameter der Transformation des städtischen Zusammenlebens

Im Gefolge von Peter Brown stellte Robert Markus63 fest, dass die augustinische Alternative zum verabsolutierten, asketischen Modell des Christentums mit dem Tod des Bischofs von Hippo aus der Großkirche nach und nach verschwinde. Leos päpstlichen Maßnahmen und die repressiven Maßnahmen des Staates wirkten darauf hin, dass die „trichotomy…‒ of Christian (or sacred), secular (neutral, civic), pagan (profane) ‒ vanished to be replaced by a simpler dichotomy: sacred and profane, or simply, ‘Christian’ and ‘pagan’“64. Mit Évelyne Patlagean65 ging Markus außerdem davon aus, dass Leo mit seinen Predigten die Ablösung des antiken Modells der munificentia („Mildtätigkeit zum Wohlergehen des Volkes“) durch die öffentliche und anonyme Form der Gabe von Almosen beförderte und dadurch die Trennung zwischen Bürger und Nicht-Bürger zugunsten der Unterscheidung Arm und Reich aufhob:

„Here is one facet of Leo’s programme of turning Rome into a new and radically Christian civic community. His determined effort to rid Rome of Manichees and other heretics also, perhaps formed part of a programme of establishing the City as a theopolis66.

Einen solchen Wandel unterstreicht auch Neil Bronwen.67 Sie sieht jedoch in der Annahme einer sozialen und wirtschaftlichen Verbesserung der Lage der Armen einen Trugschluss. Die Althistorikerin betrachtet die reine absichtslose Gabe der Almosen im Anschluss an Jaques Derrida68 aus philosophischer Sicht als prinzipiell fast unmöglich und sieht im römischen Patronatswesen eine Option, die diesem Umstand gerecht zu werden versuchte. Da ein solches soziales Netzwerk der menschlichen Logik des Austausches entsprochen habe, habe man zugleich ein Band entwickelt, dass die Gesellschaft zusammenhielt. Als die Armen unter ←34 | 35→anderem durch die Predigten der Bischöfe immer mehr als einheitliche Masse ins Bewusstsein traten, der jeglicher Rechtsstatus fehlte, zumal sie praktisch keine Gegenleistung z. B. im Sinne einer öffentlichen Ehrung erbringen konnten, habe Leo aufgrund der allzu stark verankerten Tradition des Patronatswesens ein entsprechendes Äquivalent formulieren müssen, wobei christliche Bischöfe bei den Almosen auf jüdische sowie stoische Modelle zurückgreifen konnten.69 So habe Leo Gott als den eigentlichen Patron vorgestellt, der zugleich der Klient der Reichen werden solle. Einerseits schulde man ihm evangeliumsgemäß in den Armen die Zuwendung und andererseits gelte es, ihm die Almosen-Spenden zu leihen, um im Austausch dafür den Lohn der ewigen Glückseligkeit zu erhalten.70 Dazu sollte auch das von den Armen einzig geforderte Gebet für deren Wohltäter beitragen. In der Akzeptanz des Selbstinteresses der Reichen sei man der moralischen Bedingtheit des Menschen entgegengekommen, sodass die Almosen-Bezieher und ihre Personenwürde umso mehr zugunsten des Seelenheils der Spender aus aus dem Blickfeld geraten seien. Die Beziehung zwischen Spender und Empfänger sei aber nicht nur durch Gott, sondern auch durch dessen Vertreter, den Bischof erweitert worden, der die Almosen in der Regel einsammeln ließ, um sie durch Diakone anonym an die Bedürftigen weiter zu verteilen. Durch diese Adaptierung habe Leo die Beibehaltung des Status quo der sozialen Schichten Roms unterstützt und zugleich ein unmögliches Ideal der Gerechtigkeit für die Armen gepredigt.

←35 | 36→

Zusammenfassend stellt Bronwen fest, dass es einem Armen zu diesen christlichen Zeiten aus genannten Gründen womöglich sogar schlechter und nur in speziellen Fällen besser ergangen sei, sofern man etwa auf entsprechenden Armen-Listen eingetragen oder in das Gefolge von reichen Asketen aufgenommen wurde, die freiwillig ein bedürfnisloses Leben suchten.

←36 |
 37→

3.3 Forschungsstand zum liturgiehistorischen Rahmen der Quadragesima-Predigten

3.3.1 Die Quadragesima in Rom zur Zeit Leos des Großen

Liegt die Herkunft der Quadragesima nach Hansjörg Auf der Maur und Harald Buchinger letztlich „im Dunkeln“71, so kann für Rom zur Zeit Leos bereits ein deutlicher Rahmen für diese liturgische Zeit erfasst werden. Nach Winfried Böhne72 zeichnen die verwertbaren Angaben Leos folgendes Bild: Die Quadragesima beginne mit dem Sonntag sechs Wochen vor Ostern und zähle 40 Tage.73 Das Vorbild des vierzigtägigen Fastens Jesu habe dabei lediglich symbolischen Charakter, da für Rom anzunehmen sei, dass jedenfalls an Sonntagen nicht gefastet wurde. Mit dem Donnerstag vor Ostern, an dem auch die Versöhnungsfeier für ←37 | 38→öffentliche Büßer stattfand,74 endete die Quadragesima.75 Auf die 40 Tage folgten noch zwei Tage Paschafasten, bevor in der Nacht von Samstag auf Sonntag die österliche Vigil gefeiert wurde.76 Für den Sonntag ist bei Leo keine von dieser Vigil unabhängige Feier bezeugt.77

Die in Leos Predigten erwähnten Wochentage in der Quadragesima

Über die konkrete, liturgische Prägung der Wochentage und die entsprechende Qualität des Fastens gibt es keine hinreichenden Hinweise bei Leo.78 Lediglich in ←38 | 39→der Quadragesima-Predigt tract. 4279 findet sich ein Passus, nach dem nicht nur der traditionelle Mittwoch und Freitag Fasttage seien, sondern auch der Montag.80 Diese Angabe bezieht sich nach Jungmann aber aus zwei Gründen nur auf die erste Woche der Quadragesima:81 Sie ist erstens analog zu den anderen ←39 | 40→Ankündigungen der Quatember formuliert,82 wobei die hier angekündigte Quatember eben mit der ersten Woche der Quadragesima zusammenfiel.83 Zweitens habe an jenem Montag die Zeit für die Büßer begonnen.84

Details

Seiten
404
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631825297
ISBN (ePUB)
9783631825303
ISBN (MOBI)
9783631825310
ISBN (Hardcover)
9783631818206
DOI
10.3726/b17094
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (August)
Schlagworte
Rhetorik Spätantike Versuchungsperikope Papst Zweinaturenlehre Predigt Fastenzeit
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 404 S., 56 Tab.

Biographische Angaben

Karl Wechtitsch (Autor:in)

Karl Wechtitsch studierte Latein und Katholische Theologie an der Karl-Franzens-Universität Graz, wo er auch am Institut für Ökumene, Ostkirchliche Orthodoxie und Patrologie promovierte.

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Titel: Die Quadragesima-Homilien Leos des Großen
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