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Translation 4.0

Dolmetschen und Übersetzen im Zeitalter der Digitalisierung

von Carsten Sinner (Band-Herausgeber:in) Christine Paasch-Kaiser (Band-Herausgeber:in) Johannes Härtel (Band-Herausgeber:in)
©2020 Konferenzband 380 Seiten

Zusammenfassung

Die Entwicklung digitaler Möglichkeiten führt zu neuen Translationsformen. Sie verlangt eine Überprüfung von Ansätzen und Theorien und schafft neue Möglichkeiten für (sprachvergleichende) theoretische und korpusbasierte Studien. Die Beiträge dieses Bandes gehen den Auswirkungen der technischen Veränderungen auf die Translation selbst sowie auf die sich stetig verändernden bzw. erweiternden Möglichkeiten der Translationsforschung im digitalen Zeitalter auf den Grund. Dabei decken sie Themenbereiche wie Übersetzung und Dolmetschen, Untertitelung und Synchronisierung sowie Ausbildung mit neuen Lehrwerken und Tools ab. Der Band geht auf den 10. Internationalen Kongress zu Grundfragen der Translatologie (LICTRA X) zum Thema Translation 4.0 – Translation im digitalen Zeitalter zurück.

Inhaltsverzeichnis

  • Titelseite
  • Titel
  • Impressum
  • Über das Buch
  • Autorenangaben
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • Ein Vorschlag für eine komplexe Translationstheorie: eine systematische Hinführung
  • Zur Übersetzung der fingierten defektiven Mündlichkeit
  • Translationsprozessforschung: Eine sprachvergleichende Untersuchung der Sprachenkombination Deutsch-Koreanisch mithilfe von Eye-Tracking
  • Schriftdolmetschen – eine neue Translationsform unter dem Einfluss der Entwicklung digitaler Technologien
  • Was Kunden wirklich wollen – und was wir tatsächlich leisten können: Dolmetschen im Spannungsfeld zwischen Anspruch und Wirklichkeit
  • Textualitätskriterien und digitale Ressourcen
  • Qualitätsbewertung im professionellen Übersetzungsumfeld – Im Spannungsfeld zwischen Zeit, Geld, Anforderungen, Humanressourcen und Akzeptanz
  • Der Nota-Trainer 2.2 – Ein Tool zum Verwalten und Lernen von Notationssymbolen
  • Lehrwerk Nonverbale Kommunikationskomponente im Dolmetschdiskurs
  • Die Ausbildung von Übersetzerinnen und Übersetzern in Chile im Zeitalter der Digitalisierung
  • Studentische Rollenbilder und ihr Wandel im Zusammenhang mit der europäischen Studienreform
  • „Das hintere Bein rollt weiter nach unten und vorne.“ Zur deutschen Synchronisation englischsprachiger Yogavideos
  • Höflichkeitspronomina in der Netflix-Serie Narcos: ein Vergleich der Originalversion mit den deutschen Untertiteln
  • Explizierung und Implizierung von Konsekutivmarkern in Übersetzungen im Europarl-Korpus
  • Die Übersetzung von Lehrbuchtexten ins Englische und Spanische
  • Zur Übersetzung von Phrasemen im zweisprachigen korpusbasierten Wörterbuch Deutsch-Russisch
  • Die juristische Fachphraseologie und ihre Transformationen als Übersetzungsproblem im Sprachenpaar Deutsch-Spanisch
  • Ein translatologischer Blick auf die deutschen und französischen Fassungen des Films All quiet on the Western front (Lewis Milestone 1930)
  • Bedeutungsrelationen zwischen Herta Müllers Herztier und seiner Übersetzung ins Tschechische am Beispiel der Metaphorik
  • Die Geschichte eines tiefbegabten Kindes. Herausforderungen der Übersetzung von Kinderliteratur. Ein korpusbasierter Übersetzungsvergleich
  • Gutachterinnen und Gutachter

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Carsten Sinner / Christine Paasch-Kaiser, Universität Leipzig, Leipzig

Einleitung

Dieser Band vereint eine Auswahl an Beiträgen, die in unterschiedlichen Formaten – als Vortrag, Plenarvortrag, Beitrag zu einem der Rundtischgespräche oder zu den verschiedenen thematischen Workshops – auf dem 10. Internationalen Kongress zu Grundfragen der Translatologie (LICTRA X) im März 2017 mit dem Rahmenthema Translation 4.0 – Translation im digitalen Zeitalter vorgestellt wurden. Die hier publizierten Fassungen berücksichtigen einerseits die Debatten und den Austausch während des Kongresses und wurden andererseits – zum Teil im Zuge der Evaluierung der Beiträge durch Doppelblindgutachten von Fachgutachtern und -gutachterinnen – für diese Publikation wesentlich überarbeitet oder erweitert.

Nachdem in den vorangegangenen LICTRA-Veranstaltungen Rahmenthemen wie Translationsdidaktik (1997), Translationskompetenz (2004), Translationsqualität (2007) und Translationsforschung – Internationale Synergien (2010) gewählt worden waren, lag der Fokus der zehnten Tagung der Reihe auf der Frage nach Translation und Translatologie im Zeitalter der Digitalisierung bzw. mittlerweile im Zeitalter von Industrie 4.0 bzw. Internet 4.0, wie die Anwendung von Internettechnologien zur Kommunikation zwischen Menschen, Maschinen und Produkten genannt wird. Technologische Grundlage von Industrie/Internet 4.0 sind cyber-physische Systeme und das so genannte „Internet der Dinge“. Damit wird beschrieben, dass der Computer als eigenständiges Gerät zunehmend an Bedeutung verliert und durch „intelligente“ Gegenstände verdrängt wird, also durch die Verknüpfung von eindeutig identifizierbaren physischen Objekten – die Dinge – mit einer virtuellen Repräsentation in einer dem Internet ähnelnden oder an es anschließenden Struktur.

Die kategorisierende Benennung Translation 4.0 ist als programmatisch zu verstehen: Auf der 10. LICTRA-Konferenz sollten wesentliche aktuelle bzw. neue Probleme der Translation analysiert sowie „klassische“ Fragestellungen im Hinblick auf neue Dynamiken und hinsichtlich der Auswirkungen der technischen Veränderungen auf die Translation selbst sowie auf die sich stetig verändernden bzw. erweiternden Möglichkeiten der Translationsforschung betrachtet werden.

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Zu den derzeit als besonders relevant anzusehenden Fragestellungen, die auf der Leipziger Tagung zur Debatte gestellt wurden und die sich nun in den daraus hervorgehenden Publikationen widerspiegeln, gehören die folgenden drei Themenkomplexe: An erster Stelle seien grundlegende Debatten um Terminologie und Umgang mit neuen Technologien in der Translation genannt, darunter Entwicklungen in der audiovisuellen Translation, Post-Edition und maschinelle Übersetzung im Spannungsfeld von Globalisierung und Lokalisierung ebenso wie die Ermittlung von Qualität bzw. Bewertung in der Translation und Neuerungen im Bereich des Schriftdolmetschens. Der zweite Themenkomplex behandelt theoretische und methodologische Fragestellungen aus dem Bereich der Translatologie, die Veränderung von Forschungsparadigmen, den vielerorts ausgerufenen Linguistic (Re)Turn, die Verschränkung von alten und neuen Ansätzen in der Translationswissenschaft, aktuelle Tendenzen der Dolmetschforschung zwischen kognitiver Linguistik und sozialwissenschaftlichen Ansätzen, die Auseinandersetzung mit dringenden Fragestellungen und aktuellen Möglichkeiten der sich weiter entwickelnden korpusbasierten Translatologie sowie aktuelle Analysemethoden und -ergebnisse, beispielsweise bezüglich der Bedeutungsrelationen zwischen Ausgangs- und Zieltexten, sowie Korrektur und Kritik als besonderes Problem oder Herausforderung der Translatologie. Der dritte Bereich behandelt Fragen und Tendenzen in der translationswissenschaftlichen Ausbildung.

Aufgrund der rasanten Entwicklung der digitalen Möglichkeiten, der sich stetig erweiternden Möglichkeiten der Korpuslinguistik, neuer Einblicke in die Konstitution von Bedeutung und die Rolle der Kognition, aufgrund neuer diskursanalytische Zugänge, der Erkenntnis, dass Perzeption eine größere Rolle in der Translatologie spielen muss (Sinner / Morales 2015), und angesichts der in den letzten Jahren lauter gewordenen Stimmen, die nach einer Jahrzehnte währenden Abkehr von linguistischen Herangehensweisen an Translation eine stärkere Berücksichtigung linguistischer Fragestellungen, Modelle und Lösungsansätze fordern (vgl. etwa House 2013 oder Sinner / Hernández / Hernández 2014 und die dort angegebenen Literaturverweise), lag das Ziel des 10. Internationalen Kongresses zu Grundfragen der Translatologie darin, als „klassisch“ geltende Standpunkte (Cronin 2012) zu überprüfen, Ansätze zu justieren und bereits etablierte Herangehensweisen mit den sich verändernden Prämissen abzugleichen.

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Die in der Translatologie bis in jüngere Zeit zu konstatierende weitgehende Trennung von einerseits kognitionswissenschaftlichen oder psycholinguistischen Zugängen und andererseits eher soziologischen Herangehensweisen wird langsam durch interdisziplinäre und methodenverschränkende Ansätze abgelöst. Zu den aktuellen Tendenzen der Verknüpfung unterschiedlicher Bereiche gehört die Auseinandersetzung mit Fragen nach der Relation zwischen Mensch und Computer und der sich dadurch wandelnden Rolle der Translatorinnen und Translatoren sowie der sich verändernden Einbindung der Handelnden in den Translationsprozess. Insbesondere geht es in diesem Zusammenhang auch um die sich kontinuierlich verändernden technischen Möglichkeiten (Computer-assistierte Übersetzungswerkzeuge, verbesserte Diktierfunktionen bzw. Spracherkennung usw.), die den Arbeitsalltag der Übersetzerinnen und Übersetzer permanent beeinflussen und die in diesem Arbeitsbereich Tätigen mehr als in der Vergangenheit zu ständigen Anpassungen und Weiterbildung zwingen. Durch die sich immer stärker diversifizierenden Möglichkeiten (oder, je nach Sicht, Zwänge) der Spezialisierung wird das Berufsbild der in der Branche Tätigen immer uneinheitlicher, was eine Berücksichtigung neuer Technologien und neuer Arbeitsweisen in der universitären Berufsausbildung im Bereich der Translation notwendig macht: Aufgrund der großen Diversifizierung bei gleichzeitig vom Umfang her nicht ausdehnbaren (oder gar gegenüber der Vergangenheit bereits eingeschränkten) Ausbildungszeiten bleiben allerdings auch die Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit den einzelnen Technologien oder Arbeitsabläufen in der Lehre vielfach auf wenige wesentliche Aspekte beschränkt.

Das steigende Interesse an prozessorientierten Zugängen zur Übersetzung spiegelt sich in der Frage nach Aspekten wie dem interface zwischen den kognitiven und situationellen Ebenen, der Übersetzung als dynamischem System, der Kooperation von Übersetzerinnen und Übersetzern mit Entwicklerinnen und Entwicklern von spezifischen Werkzeugen bzw. spezifischer Software, der Rolle ergonomischer Faktoren, der Revision als Teil des Workflows oder den Auswirkungen von neuen Werkzeugen und Technologien auf Produktivität wider.

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Im Bereich der audiovisuellen Translation – Synchronisierung, Untertitelung, Voiceover, Audiodeskription und dergleichen – stellen sich insbesondere angesichts des rasant steigenden Übersetzungsbedarfes, der sich permanent entwickelnden technischen Möglichkeiten und der parallel hierzu immer weiter zunehmenden Personalisierung der Arbeitsmittel und Spezialisierung der Tätigkeitsprofile Fragen nach der Veränderung der Translationsprozesse und der Rolle der Translatorinnen und Translatoren, nach den Möglichkeiten der Verzahnung von Praxis und Ausbildung und nach den zukünftig zu erwartenden Herausforderungen. Wie in der Dolmetschwissenschaft ergibt sich in diesem Bereich auch ein steigendes Interesse an der nicht beruflich (wohl aber oft sehr professionell) ausgeübten Übersetzung, der in einigen Bereichen zunehmend Bedeutung zukommt. Sichtbar wird dies etwa an den aktuellen Entwicklungen v. a. im Bereich der Neuen Medien, wie an Schlagwörtern wie Crowd translation oder Fan-Translation abzulesen ist, und an den Dynamiken im Hinblick auf das Gefüge von Translation und Adaptierung. Dank der Möglichkeiten des Internets und der Digitalisierung tritt der Beitrag der Laienübersetzung und der Laien-übersetzungskritik zur Übersetzungskultur immer stärker zum Vorschein. Mit den Möglichkeiten, sich in oftmals als anonym oder weitgehend anonym wahrgenommenen Schwärmen bzw. Crowds an Übersetzungsprojekten zu beteiligen, existierende Übersetzungen zu korrigieren oder im Übersetzungsprozess Verbesserungen einzubringen, verändert sich offenbar auch die Sicht auf Übersetzung. Hat man bisher allerdings schon relativ viel zu Aspekten wie beispielsweise der Motivation der an der Übersetzung freier Software beteiligten Personen und den ideologischen Hintergründen – wie Zugänglichbarmachung von Software z. B. zum Zweck der Demokratisierung des Wissens – erfahren (vgl. etwa Seiler 2013), so fehlen noch tiefer gehende Studien über die Sicht auf Übersetzung und das Verständnis von Qualität in diesen virtuellen „Gemeinschaften“ oder Gruppierungen. Für die Translatologie, die sich vor allem mit der Arbeit professioneller Translatologinnen und Translatologen, zum Teil auch manchmal weniger professionell arbeitender Literaturübersetzerinnen und -übersetzer, beschäftigt hat, stellen die Dynamiken und möglicherweise Regelmäßigkeiten dieser nicht professionellen Übersetzungskulturen ein noch weitgehend unbearbeitetes Feld dar. Die Bedeutung dieser Abläufe ist aber von steigender Relevanz und zunehmendem Interesse für die allgemeine Translatologie, beispielsweise aufgrund der (v. a. quantitativ) zunehmenden Bedeutung dieser Übersetzungen und der allmählichen Perfektionierung einzelner Prozesse in diesem Laienumfeld sowie angesichts der steigenden Nutzung der Kooperation im Schwarm auch in als anspruchsvoll oder seriös (als z. B. Fan-Translation oder Fanuntertitelung von Filmen oder von Videospielen) angesehenen Kontexten (Sinner 2020, im Druck). Die Frage des mehr oder weniger qualifizierten Feedbacks und der Möglichkeit der Berücksichtigung von Nutzerfeedback für die Textverbesserung spielt hier ebenfalls eine wesentliche Rolle.

Die kulturellen, sozialen und technologischen Veränderungen der letzten Jahre, insbesondere im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung, haben neue Bedürfnisse geschaffen, deren Auswirkungen auf die Translation zu untersuchen sind. Besondere Aufmerksamkeit sollte dabei Fragestellungen wie der Rolle und Art der audiovisuellen Translation in polyzentrischen Sprachen (wie etwa die mehrfache Synchronisation oder Untertitelung in unterschiedlichen Ländern der Franko- oder Hispanophonie), dem Thema der Barrierefreiheit (Audiodeskription, Schriftddolmetschen usw.), den Auswirkungen der technologischen Innovationen und dem Umgang mit der fingierten Oralität zukommen. Ebenfalls relevant sind in diesem Kontext die Überschneidungen mit den Studien zur intersemiotischen Translation bzw. Adaptation.

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Die starke Trennung zwischen eher soziologisch ausgerichteten Herangehensweisen auf der einen Seite und kognitions- und psycholinguistischen Ansätzen auf der anderen sowie die Annäherung beider Forschungsrichtungen in manchen Bereichen in jüngerer Zeit ist auch in der Auseinandersetzung mit dem Dolmetschen zu konstatieren. Die kognitionswissenschaftlich und psycholinguistisch ausgerichteten Herangehensweisen mit ihrer starken Orientierung auf mentale Prozesse beschäftigen sich mit dem im engeren Sinne „professionellen“ Dolmetschen – v. a. Konferenz- bzw. Simultandolmetschen –, während die Arbeiten aus eher soziologischen Perspektiven sich mit Aspekten wie Handlungseinbindung, Beteiligtenkonstellationen, Situationsdeterminierung, ethischen Fragen, Inklusion oder Exklusion usw. auseinandersetzen und dabei besonders die je nach theoretischer Ausrichtung als Community Interpreting, Public Service Interpreting, Mediation usw. bezeichneten, in den meisten Ländern aber nicht professionalisierten Dolmetschaktivitäten stärker fokussieren.

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Kognitive Prozesse beim Dolmetschen sind zwar schon seit längerer Zeit ein Thema der Dolmetschwissenschaft. Die ersten Arbeiten in diesem Bereich sind jedoch eher intuitiver Natur und es gibt bisher nur wenige experimentelle Studien, bei denen mit Hilfe moderner Technologien wie EEG, fMRI oder mit aus der Psycholinguistik bekannten Methoden wie Eye-Tracking neue Kenntnisse erlangt oder Theorien bestätigt oder widerlegt werden. Interessante Querverbindungen und Lösungsansätze ergeben sich hier für eine ganze Reihe bisher nur isoliert oder nur peripher betrachteter Bereiche, so etwa die Frage nach den Divergenzen zwischen der Performanz und den Hirnprozessen beim Dolmetschen in die Muttersprache(n) und in die Fremdsprache(n) oder zwischen verschiedenen Fremdsprachen. Besondere Aufmerksamkeit muss daher auch der korpusbasierten Dolmetschforschung zukommen. Korpusbasierte Untersuchungen zur gesprochenen Sprache sind auch zwei Jahrzehnte nach den ersten Anwendungen der Korpuslinguistik in der Translatologie weniger weit entwickelt als die entsprechenden Arbeiten zur geschriebenen Sprache, was insbesondere mit der sehr zeit- und ressourcenaufwändigen Arbeit der Datensammlung und Transkription zu tun hat; in besonderer Weise gilt dies für die Dolmetschforschung, da in diesem Bereich die Sammlung authentischer Daten u. a. aufgrund rechtlicher Probleme sehr schwierig ist (vgl. Bendazzoli/Sandrelli 2009). Sehr wichtig ist daher die Forschungskooperation mit den sowohl in der Praxis als auch in der translatologischen Forschung tätigen Dolmetscherinnen und Dolmetschern (so genannte practisearchers) (vgl. Bendazzoli/Sandrelli 2009). Ein in translationswissenschaftlichen Studien noch eher peripher berücksichtigter Bereich ist – wie das Gebärdendolmetschen – das Schriftdolmetschen. Durch die mit der Digitalisierung verbundenen Möglichkeiten und sich daraus ergebenen Innovationen technischer Art auch für die Umgebung von Gehörlosen und Hörgeschädigten erweitern sich die Anwendungsdomänen dieser Teilbereiche kontinuierlich. Daher werden aktuell nicht mehr nur die mit dem „klassischen“ Dolmetschen überlappenden Fragestellungen sondern auch spezifischere Aspekte, darunter ethische bzw. soziologische Fragen, etwa zu Inklusion bzw. Exklusion, aber auch zu Herausforderungen, Chancen und neuen Perspektiven dieser Teildisziplinen zu einem Fokus des Forschungsinteresses.

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Die grundlegenden Debatten um den Umgang mit neuen Technologien in der Translation erörtern auch Fragen über Lokalisierung, maschinelle Übersetzung und Post-Edition, deren Relevanz für die Translation aktuell sehr groß ist. Die im Umfang seit Jahren stetig wachsende Lokalisierung im Zusammenhang mit der Globalisierung und ihre Rolle im Spannungsfeld der Globalisierung bzw. Internationalisierung der Translation hat die Translationsbranche und im Anschluss die Translationsforschung in den letzten Jahren sehr beeinflusst und verändert. Erst seit Kurzem setzt man sich in der Translationswissenschaft mit den technologischen und sozioökonomischen Kontexten der Lokalisierungsleistung auseinander und analysiert auch, inwiefern die digitale Revolution das übersetzerische Berufsbild verändern wird bzw. schon verändert (hat) und die Zukunft des Übersetzens und im Anschluss auch die Ausbildung von Übersetzerinnen und Übersetzern transformieren wird. Dabei geht es auch um Aspekte, die in die Qualitätsforschung reichen, etwa das Problem der für die Nutzerinnen und Nutzer auffälligen erzwungenen Normverstöße, die entstehen können, wenn Übersetzerinnen und Übersetzer aufgrund der Entstehungszusammenhänge der Programmierungen sozusagen die Kontrolle über das Translat verlieren (Behrens 2016). Eng verwoben mit der Frage der Lokalisierung sind die maschinelle Übersetzung und, in diesem Zusammenhang, die Post-Edition. Maschinelle Übersetzung und Online-Ressourcen zur Übersetzung erobern stetig neue Domänen und konkurrieren in manchen Nutzungsbereichen bereits deutlich mit der Humanübersetzung bzw. sind mit ihr zum Teil wesentlich stärker verzahnt, als dies in der Vergangenheit für möglich gehalten wurde.1 Dringender Forschungsbedarf besteht insbesondere im Hinblick auf die Veränderungen der Arbeitsprozesse und der Bedeutung dieser Revolution der Übersetzungspraxis für die Entstehung der Translate und ihre Perzeption durch die jeweiligen Nutzer und Nutzerinnen. Ähnlich stellt sich dies für die Einbindung von maschineller Übersetzung und Postedition in die Ausbildung dar.

Ebenfalls eng mit den Themen der maschinellen Übersetzung und Lokalisierung verknüpft ist die Frage nach der Erforschung von Translaten im Rahmen der korpusbasierten Übersetzungswissenschaft. Neben der Berücksichtigung von Original- und Zieltexten in den Korpora ist auch der Einschluss von verschiedenen Zwischenstufen der Korrektur und Überarbeitung sowie neben den in der Translationswissenschaft fast immer analysierten druckreifen Endprodukten auch die Berücksichtigung von Rohübersetzungen, Arbeitsübersetzungen, Informationsübersetzungen usw. erforderlich, um Rückschlüsse auf den Elaborationsprozess, die Rolle der einzelnen Handelnden und die nicht mit der Übersetzung selbst zusammenhängenden Bearbeitungsschritte ziehen zu können. Somit verknüpft dieser Ansatz prozessorientierte Forschung und die Herangehensweisen aus der Perspektive der Handlungstheorien. Zudem geht es in diesem Zusammenhang auch um die Möglichkeit der Analyse der Sichtbarkeit bzw. Präsenz der Translatorinnen und Translatoren auf Grundlage von Untersuchungen von Massendaten (big data).

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Praktisch alle Bereiche der Translationswissenschaft sind zudem heute verschränkt zu betrachten mit den Perspektiven der v. a. aus den postkolonialen Ansätzen stammenden Analyse von sozialen Hierarchien bzw. Machtasymmetrien, wobei neben Fragen etwa nach Zugänglichkeit bzw. (auch in ihrer sozialen Dimension verstandenen) Barrierefreiheit, nach Zensur, Lenkung und Indoktrinierung, zur Funktion der als politisch korrekt verstandenen Sprache und der Evolution der Geschlechterrollen in der Translation immer auch die Rolle der Translation für diese Domänen zu untersuchen oder zu berücksichtigen ist. In den letzten Jahren lag das Augenmerk von translatologischen Arbeiten zu historischen Aspekten immer stärker auf der Bedeutung von Translation für ideologische Debatten, politische Entwicklungen, historische Machtgefüge oder gar auf ihrer Rolle im Zusammenhang mit kriegerischen Auseinandersetzungen, erleichtert durch die zunehmende Zugänglichmachung bzw. Nutzbarkeit historischer Texte für quellen- bzw. korpusbasierte translatologische Fragestellungen. Die Beschäftigung mit ideologischen Fragen und mit Translation in Konfliktsituationen ist in der öffentlichen Wahrnehmung aktuell in besonderer Weise mit der so genannten Flüchtlingskrise verknüpft; tatsächlich ist im 21. Jahrhundert die Arbeit mancher Translatorinnen und Translatoren, v. a. von Dolmetscherinnen und Dolmetschern, stark durch humanitäre Krisen beeinflusst. Damit ergeben sich thematisch weit gefächerte Debatten zur Translation „in humanitären Kontexten“ (cf. hierzu etwa das Symposium on Interpreter Training and Humanitarian Interpreting an der australischen Monash University im April 2016), die derzeit aber vor allem dadurch geprägt zu sein scheinen, dass verstärkt über die Bedingungen des so genannten community interpreting – das bisher vielerorts noch nicht professionalisiert, reglementiert oder gar staatlich koordiniert und finanziert wird – debattiert und über die Abgrenzung dieser zu anderen Dolmetscharten diskutiert wird. Gerade in diesem Zusammenhang werden zunehmend berufsethische Fragen in den Mittelpunkt der Debatten gerückt. Hierbei wird oft jedoch nicht ausreichend berücksichtigt, dass die in diesen Kontexten zu findenden Dolmetschaktivitäten weltweit überwiegend von nicht hierfür ausgebildeten und oft nicht wie staatlich zertifizierte Dolmetscherinnen und Dolmetscher oder Übersetzerinnen und Übersetzer bezahlten „Sprach- und Kulturmittlerinnen und -mittlern“ ausgeführt werden und dass die Zertifizierung und staatlich geregelte Entlohnung von im Bereich des community interpreting tätigen Sprachmittlerinnen und Sprachmittlern wie etwa in Australien Ausnahmen sind. Es wird somit deutlich, dass diese Debatten auch im Zusammenhang mit der Frage der Abgrenzung zu anderen Dolmetsch- und Übersetzungsdienstleisterinnen und -dienstleistern zu sehen sind, wie etwa die Debatten um die Berufsbezeichnungen und der Gebrauch euphemistischer Ausdrücke wie Kulturmittler zeigen.

Der vorliegende Band vereint die deutschsprachigen Beiträge der LICTRA 2017, die sich mit den zuvor beschriebenen Aspekten auseinandersetzen. Die englischsprachigen Artikel erscheinen in einem separaten Band (Sinner / Paasch-Kaiser / Härtel 2020), wie auch der aus der Werkstatt zu Übersetzung und Onomastik hervorgegangene mehrsprachige Band zur Übersetzung von Eigennamen (Bahr / Sinner im Druck) und einer der Plenarvorträge zur Einordnung von Translation 4.0 (Schmitt 2019).

Bibliographie

Bahr, Christian / Carsten Sinner (2020, im Druck): Die Übersetzung von Eigennamen. Hamburg: Baar-Verlag.

Behrens, Alexander (2016): Lokalisierbarkeit von User-Interface-Strings. Übersetzerische Aspekte der Internationalisierung und Lokalisierung von Software, untersucht anhand der Übersetzungsrichtungen Englisch-Deutsch und Englisch-Russisch. Frankfurt am Main etc.: Lang.

Bendazzoli, Claudio / Annalisa Sandrelli (2009): „Corpus-based Interpreting Studies: Early Work and Future Prospects“. Revista tradumàtica 7 (L’Aplicació dels corpus lingüístics a la traducció), <http://www.fti.uab.cat/tradumatica/revista>, besucht am 30.8.2019.

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Cronin, Michael (2003): Translation and Globalization. London: Routledge.

House, Juliane (2013): „Towards a new linguistic-cognitive orientation in Translation Studies“, Target 25, 1, 46–60.

Schmitt, Peter (2019): „Translation 4.0: Evolution, Revolution oder Disruption?“. Lebende Sprachen 64, 2, 193–229.

Details

Seiten
380
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631824214
ISBN (ePUB)
9783631824221
ISBN (MOBI)
9783631824238
ISBN (Hardcover)
9783631792193
DOI
10.3726/b17090
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (November)
Schlagworte
Translationstheorie Neue Translationsformen Korpusbasierte Studien Literaturübersetzung Synchronisation Untertitelung Ausbildung Übersetzungsprobleme Sprachvergleich
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 380 S., 43 s/w Abb., 20 Tab.

Biographische Angaben

Carsten Sinner (Band-Herausgeber:in) Christine Paasch-Kaiser (Band-Herausgeber:in) Johannes Härtel (Band-Herausgeber:in)

Carsten Sinner ist Professor für Iberoromanische Sprach- und Übersetzungswissenschaft an der Universität Leipzig. Christine Paasch-Kaiser ist wissenschaftliche Mitarbeiterin (Postdoc) an der Professur für Iberoromanische Sprach- und Übersetzungswissenschaft an der Universität Leipzig. Johannes Härtel ist ehemaliger Mitarbeiter des Instituts für Angewandte Linguistik und Translatologie und arbeitet gegenwärtig im Bereich der Softwaredokumentation und -lokalisierung sowie als freiberuflicher Konferenzdolmetscher.

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Titel: Translation 4.0
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