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Deutsches und polnisches Arbeitsrecht unter europarechtlichem Einfluss

Eine rechtsvergleichende Betrachtung des ersten polnischen Gesetzes vom 10.06.2016 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen

von Sonia Cloppenburg (Autor:in)
©2020 Dissertation 242 Seiten

Zusammenfassung

Polen hat sich mittlerweile zu einem der stärksten Länder in Hinblick auf die grenzüberschreitende Entsendung von Arbeitnehmern entwickelt, mit besonderem Fokus auf die Entsendung in den Nachbarstaat Deutschland. Ein neues polnisches Gesetz aus dem Jahr 2016 betreffend die grenzüberschreitende Arbeitnehmerentsendung nimmt die Autorin zum Anlass, die Entsendesituationen in den Ländern Polen und Deutschland zu untersuchen und die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der jeweiligen gesetzlichen Regelungen herauszuarbeiten. Sie zeigt dabei die unterschiedlichen Rechtsstrukturen des teils noch immer sozialistisch geprägten Polens auf und stellt diese dem deutschen Rechtssystem gegenüber. Dadurch verschafft sie dem Leser auch einen wertvollen Überblick über das polnische Wirtschafts- und Rechtssystem.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Teil 1: Einleitung
  • A. Ziel der Arbeit und Gang der Darstellung
  • B. Begriff der Arbeitnehmerentsendung
  • C. Zahlen und Fakten zur Arbeitnehmerentsendung
  • I. Allgemeines
  • II. Deutschland
  • III. Polen
  • 1. Vor dem EU-Beitritt
  • 2. Nach dem EU-Beitritt
  • a) Übergangsvorschriften
  • b) Vollständige Dienstleistungsfreiheit erst ab dem 01.05.2011
  • IV. Zusammenfassung
  • D. Rechtliche Grundlagen der grenzüberschreitenden Arbeitnehmerentsendung
  • Teil 2: Grundlagen
  • A. Länderbericht Polen
  • I. Wirtschaft
  • 1. Aktuelle Situation
  • 2. Arbeitsmarkt
  • 3. Migration
  • II. Rechtssystem
  • 1. Allgemein
  • 2. Das polnische Arbeitsrecht
  • a) Einleitung
  • b) Sozialistisches Arbeitsrecht
  • c) Umwandlung
  • d) Anpassung an EU-Recht
  • e) Quellen des polnischen Arbeitsrechts
  • B. Die rechtlichen Grundlagen der Entsendung
  • I. Die europäischen Entsende-Richtlinien
  • 1. Die Richtlinie 96/71/EG
  • a) Entstehungsgeschichte und Ziele
  • b) Inhalt
  • aa) Persönlicher Anwendungsbereich
  • bb) Sachlicher Anwendungsbereich
  • cc) „Harter Kern“ an Arbeitsbedingungen
  • 2. Die Richtlinie 2014/67/EU
  • a) Entstehungsgeschichte und Ziele
  • b) Inhalt
  • aa) Verhinderung von Umgehung im Rahmen der Arbeitnehmer-Entsendung
  • bb) Information
  • cc) Überwachung der Entsendungen
  • dd) Durchsetzung der Entsende-Vorschriften
  • 3. Geplante Reform der Richtlinie 96/71/EG
  • II. Umsetzung der Richtlinien in Deutschland und Polen
  • 1. Das deutsche Arbeitnehmerentsendegesetz
  • a) Entstehungsgeschichte und Entwicklung
  • b) Eingriff in Dienstleistungsfreiheit?
  • c) Inhalt
  • aa) Abschnitt 1, Zielsetzung
  • bb) Abschnitt 2, Allgemeine Arbeitsbedingungen
  • cc) Abschnitt 3, Tarifvertragliche Arbeitsbedingungen
  • dd) Abschnitt 4, Arbeitsbedingungen in der Pflegebranche
  • ee) Abschnitt 5, Zivilrechtliche Durchsetzung
  • ff) Abschnitt 6, Kontrolle und Durchsetzung durch staatliche Behörden
  • 2. Das polnische Arbeitnehmerentsendegesetz
  • a) Schwierigkeiten bei der Umsetzung
  • aa) Politisch
  • bb) Zeitlich
  • cc) Wirtschaftlich
  • b) Erste Umsetzung der Richtlinie 96/71/EG
  • aa) Inhalt
  • bb) Unzulänglichkeiten der Umsetzung
  • c) Zweite Umsetzung
  • aa) Abschnitt 1, Allgemeine Vorschriften
  • bb) Abschnitt 2, Arbeitsbedingungen der nach Polen entsandten Arbeitnehmer
  • cc) Abschnitt 3, Solidarische Haftung des Auftraggebers
  • dd) Abschnitt 4, Aufgaben und Befugnisse der polnischen Arbeitsinspektion
  • ee) Abschnitt 5, Pflichten der entsendenden Arbeitgeber
  • ff) Abschnitt 6, Anwendbarkeit der Vorschriften auf Arbeitgeber aus Drittstaaten
  • gg) Abschnitt 7, Strafvorschriften
  • hh) Abschnitt 8, Änderung in den geltenden Vorschriften
  • ii) Abschnitt 9, Übergangs- und Schlussvorschriften
  • Teil 3: Vergleich und Analyse der beiden Entsende-Gesetze
  • A. Ziele der Gesetze
  • I. Europarechtliche Vorgaben
  • 1. Richtlinie 96/71/EU
  • 2. Richtlinie 2014/67/EU
  • II. Deutschland
  • 1. Arbeitnehmerschutz
  • 2. Wettbewerbsschutz
  • a) Legitimation des Zieles Wettbewerbsschutz
  • b) Hintergrund der Zielsetzung Wettbewerbsschutz
  • aa) Lohn-/Sozialdumping durch entsandte Arbeitnehmer aus Niedriglohnländern
  • bb) Lohndumping im EU-Recht
  • c) Definition des Wettbewerbs
  • aa) Deutschland
  • (1) Begriff „Wettbewerb“
  • (2) „Faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen“
  • bb) EU-rechtlicher Wettbewerbsbegriff
  • (1) Begriff
  • (2) Fairer Wettbewerb
  • d) Bewertung
  • 3. Erhalt sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung
  • 4. Schutz der Ordnungs- und Befriedungsfunktion der Tarifautonomie
  • 5. Bewertung
  • III. Polen
  • 1.
  • a) Arbeitnehmerschutz
  • aa) Ausländische Arbeitnehmer auf dem polnischen Arbeitsmarkt seit der Zeit des Sozialismus
  • bb) Ausländische Arbeitnehmer auf dem polnischen Arbeitsmarkt nach dem EU-Beitritt
  • b) Ausweitung der Kompetenzen und Aufgaben der PIP
  • c) Wettbewerbsschutz kein Ziel des DelPracU
  • IV. Vergleich und Analyse
  • B. Der Anwendungsbereich der Gesetze
  • I. Deutschland
  • 1. Erstreckung auf Inlandssachverhalte
  • 2. Erfasste Branchen
  • II. Polen
  • 1. Anwendungsbereich
  • a) Bereichsausnahmen
  • aa) Zwingend
  • bb) Fakultativ
  • b) Keine Anwendung auf Inlandssachverhalte
  • 2. Begriff der Entsendung als praktisches Problem
  • a) Schwierigkeiten bei Bestimmung des Arbeitnehmerbegriffes
  • aa) Definition des Arbeitnehmers
  • bb) Scheinselbständigkeit
  • cc) Fehlen eines europäischen Arbeitnehmerbegriffes im Entsende-Recht
  • b) Briefkastenfirmen
  • aa) Hintergrund
  • bb) EU-rechtliche Vorgaben
  • cc) Abgrenzungskriterien des DelPracU
  • III. Vergleich und Analyse
  • 1. Engerer Anwendungsbereich des DelPracU
  • 2. Erleichterte Möglichkeit der Einordnung nach DelPracU
  • 3. Notwendigkeit eines europäischen Arbeitnehmerbegriffes?
  • C. Die Regulierungsinstrumente der Entsendegesetze
  • I. Deutschland
  • 1. Das deutsche Tarifsystem
  • a) Allgemeines
  • b) Stellung der Tarifpartner
  • c) Bedeutung der Tarifbindung in Deutschland
  • 2. Die Allgemeinverbindlicherklärung nach dem AEntG
  • a) Voraussetzungen
  • b) Wirkungen
  • aa) Tarifbindung von Außenseitern
  • bb) Wettbewerbsbeschränkung
  • cc) Eingriff in Koalitions- und Berufsfreiheit von Unternehmern
  • c) Bedeutung der Allgemeinverbindlicherklärung heute
  • 3. Die Rechtsverordnung nach §§ 7, 7a AEntG als weiteres Regulierungsinstrument des AEntG
  • 4. Zusammenfassung
  • II. Polen
  • 1. Rechtsquellen des polnischen Arbeitsrechts
  • a) Allgemeines
  • b) Gesetzliche Rechtsquellen
  • aa) Verfassungsrecht
  • bb) Einfaches Recht
  • c) Andere Rechtsquellen
  • 2. Regulierungsinstrumente des DelPracU
  • a) Gesetz als Haupt-Regulierungsinstrument
  • b) Das polnische Tarifsystem
  • aa) Rechtliche Grundlagen
  • bb) Entwicklung
  • (1) Spuren des Sozialismus
  • (2) Bedeutung des Tarifrechts heute
  • cc) Gewerkschaften
  • (1) Geschichte
  • (2) Stand heute
  • dd) Arbeitgeberorganisationen
  • ee) Tarifverträge
  • (1) Tarifverträge zur Zeit des Sozialismus
  • (2) Nach dem Umbruch
  • (3) Zahlen und Fakten
  • (4) Anwendungsbereich
  • (5) Erstreckung tarifvertraglicher Normen auf Außenseiter
  • (a) Tarifbindung
  • (b) Allgemeinverbindlicherklärung in Polen
  • (6) Entgeltordnungen als zusätzliche Rechtsquelle
  • c) Zusammenfassung
  • III. Vergleich und Analyse
  • D. Inhalt der Normen der Entsende-Gesetze
  • I. Allgemeines
  • 1. Kern der Arbeitsbedingungen
  • 2. Schwierigkeiten bei Anwendung des Günstigkeitsprinzips
  • a) Deutschland
  • aa) Objektive Beurteilung
  • bb) Relevante Vergleichsgruppen
  • (1) Gesamtvergleich
  • (2) Einzelvergleich
  • (3) Sachgruppenvergleich
  • b) Polen
  • c) Zusammenfassung
  • II. Mindestlohnbestimmungen
  • 1. Europäischer Rahmen
  • a) Europarechtliche Vorgaben
  • b) Völkerrechtliche Bestimmungen
  • 2. Deutschland
  • a) Funktion des Mindestlohns in Deutschland
  • aa) Schutz der Arbeitnehmer
  • bb) Schutz des Wettbewerbs
  • cc) Schutz der sozialen Sicherungssysteme
  • b) Regelungssystematik
  • aa) Tarifrechtliche Mindestlohnregelungen
  • bb) Gesetzliche Mindestlohnregelungen (MiLoG)
  • (1) Hintergrund der Entstehung des MiLoG
  • (2) Verfassungsmäßigkeit
  • (a) Eingriff in Tarifautonomie?
  • (b) Eingriff in Berufsfreiheit der Unternehmer?
  • (3) Weitere Probleme
  • cc) Zusammenfassung
  • c) Lohnbildungsfaktoren
  • 3. Polen
  • a) Zahlen und Fakten
  • b) Rechtliche Grundlagen des Mindestlohns
  • aa) Erste Regelungen
  • bb) Nach dem Wandel
  • cc) Mindestlohnrelevante Regelungen heute
  • (1) Verfassungsrechtliche Vorgaben
  • (2) Regelungen im polnischen Arbeitsgesetzbuch
  • (3) Das polnische Mindestlohngesetz
  • c) Definition und Funktion des Mindestlohns in Polen
  • aa) Funktion
  • bb) Definition
  • d) Lohnfestsetzungsverfahren
  • aa) Verfahren
  • bb) Kriterien
  • e) Zusammenfassung
  • 4. Vergleich und Analyse
  • III. Anwendung von Urlaubskassenbeitragssystemen der Aufnahmestaaten auf Entsendeunternehmen
  • 1. Deutschland
  • a) Hintergrund
  • b) Die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft (ULAK)
  • c) Bewertung
  • 2. Polen
  • E. Durchsetzung der entsenderelevanten Regelungen
  • I. EU-rechtliche Vorgaben
  • 1. Zusätzlicher Gerichtsstand für entsandte Arbeitnehmer im Aufnahmestaat
  • 2. Information von Entsendeunternehmen und Arbeitnehmern
  • 3. Zusammenarbeit zwischen Behörden
  • 4. Melde- und Dokumentationspflichten für Arbeitgeber
  • 5. Subunternehmerhaftung
  • 6. Möglichkeit der Prozessstandschaft
  • II. Deutschland
  • 1. Durchsetzung durch Arbeitnehmer
  • 2. Durchsetzung durch Staat
  • 3. Zusammenfassung
  • III. Polen
  • 1. Durchsetzung durch Arbeitnehmer
  • 2. Durchsetzung durch Staat
  • 3. Zusammenfassung
  • IV. Vergleich und Analyse
  • Teil 4: Ergebnisse
  • A. Orientierung des nationalen Gesetzgebers im Gesetzgebungsverfahren
  • B. Schwächen der europäischen Regelungen im Rahmen der Arbeitnehmer-Entsendung
  • C. Grundlage des polnischen Arbeitsrechtes ist das Gesetz
  • D. Umsetzungsmängel des AEntG
  • E. Entwicklungsschwierigkeiten Polens
  • F. Geplante Änderungen durch Richtlinienreform
  • Anhang: Das polnische Arbeitnehmer-Entsendegesetz (Auszug)
  • Literaturverzeichnis

Teil 1: Einleitung

A. Ziel der Arbeit und Gang der Darstellung

Die Republik Polen ist zwar seit nunmehr über zehn Jahren Mitglied der Europäischen Union. In den letzten 20 bis 30 Jahren hat das Land eine tiefgreifende Entwicklung durchschritten, die noch nicht abgeschlossen ist. Im Zuge der zunehmenden Globalisierung kann man beobachten, dass die Staaten immer mehr zusammenrücken und ein reger Austausch stattfindet. Die vollständige Freizügigkeit hinsichtlich der grenzüberschreitenden Erbringung von Dienstleistungen in den Ländern Deutschland und Österreich erlangte Polen aber erst im Jahr 2011, weshalb das Thema der Arbeitnehmerentsendung mit allen damit verbundenen tatsächlichen und rechtlichen Problemen noch sehr aktuell ist.

Die Öffnung der europäischen Grenzen haben zahlreiche polnische Unternehmer zum Anlass genommen, ihre eher schwache wirtschaftliche Position in Polen, bedingt durch die noch schwache wirtschaftliche Struktur des Landes, durch Ausweitung ihrer Tätigkeit im Ausland zu stärken, und hierfür ihre Arbeitnehmer für eine begrenzte Zeit ins EU-Ausland zu entsenden. Polen hat sich so in den letzten Jahren zu einem der stärksten Länder in Hinblick auf die grenzüberschreitende Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen entwickelt, mit besonderem Fokus auf die Entsendung in den Nachbarstaat Deutschland.

Ein neues polnisches Gesetz aus dem Jahr 2016 betreffend die grenzüberschreitende Arbeitnehmerentsendung soll nun zum Anlass genommen werden, die Entsendesituationen in den Ländern Polen und Deutschland sowohl in tatsächlicher, als auch in rechtlicher Hinsicht genauer unter die Lupe zu nehmen und die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der jeweiligen gesetzlichen Regelungen, die auf einer europarechtlichen Grundlage, der Richtlinie 96/71/EG beruhen, näher zu beleuchten.

Mit der vorliegenden Arbeit wird auch gezeigt werden, wie schwierig es ist, einheitliche Regelungen für verschiedene EU-Mitgliedsstaaten zu schaffen, die jedem Land gerecht werden. Polen als klassisches Entsendeland im Rahmen der grenzüberschreitenden Erbringung von Dienstleistungen, und Deutschland als klassisches Empfangsland dienen hierbei als gutes Beispiel, da beide Staaten hinsichtlich ihrer Entwicklung noch stark auseinander driften, und noch von ihren unterschiedlichen Ausgangspositionen geprägt sind. Insofern sollen auch die unterschiedlichen Rechtsstrukturen des immer noch sozialistisch geprägten Polens herausgearbeitet und den Rechtsstrukturen unseres deutschen Rechtssystems gegenübergestellt werden.

Die Arbeit soll ferner einen Überblick verschaffen über unser Nachbarland Polen. Neben der Darstellung der praktischen und rechtlichen Probleme im Rahmen der grenzüberschreitenden Arbeitnehmerentsendung soll es vor allem darum gehen, die Hintergründe genauer zu beleuchten und anschließend Lösungsmöglichkeiten herauszuarbeiten, darzustellen und zu analysieren. Dabei soll ebenfalls ein Einblick in das Rechtssystem Polens geboten, sowie die europarechtlichen Regelungen genauer betrachtet werden.

Arbeitsgrundlage sind die beiden nationalen Arbeitnehmerentsendegesetze, das deutsche AEntG1, das bereits im Jahr 1996 in Kraft getreten ist, sowie das polnische DelPracU2, das am 18. Juni 2016 in Kraft getreten ist. Beide Gesetze dienen der Umsetzung zweier EU-Richtlinien, der RL 96/71/EG3 über die grenzüberschreitende Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, sowie der RL 2014/67/EU4 zur Durchsetzung der Richtlinie über die grenzüberschreitende Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen.

Die beiden nationalen Gesetze sollen im Folgenden miteinander verglichen und deren Unterschiede herausgearbeitet, sowie die damit verbundenen Probleme und Hintergründe näher beleuchtet werden.

B. Begriff der Arbeitnehmerentsendung

Nach Art. 2 Abs. 1 RL 96/71/EG gilt als entsandter Arbeitnehmer jeder Arbeitnehmer, der während eines begrenzten Zeitraums seine Arbeitsleistung im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedsstaats als demjenigen erbringt, in dessen Hoheitsgebiet er normalerweise arbeitet. Erfasst werden mithin nur Arbeitnehmer und keine selbständig tätigen Personen, wobei der Begriff des Arbeitnehmers gemäß Art. 2 Abs. 2 RL 96/71/EG nach dem Recht des Empfangsstaats bestimmt wird. Die Richtlinie unterscheidet drei Fälle der Entsendung: Gemäß Art. 1 Abs. 3 RL 96/71/EG findet sie Anwendung, wenn Unternehmer einen Arbeitnehmer in ihrem Namen und unter ihrer Leitung in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaats im Rahmen eines Vertrags entsenden, der zwischen dem Entsendeunternehmen und dem im Empfangsstaat tätigen Dienstleistungsempfänger geschlossen wurde, sofern für die Dauer der Entsendung ein Arbeitsverhältnis zwischen dem Entsendeunternehmen und dem Arbeitnehmer besteht; ferner in dem Fall, dass Unternehmen einen Arbeitnehmer in eine Niederlassung oder ein der Unternehmensgruppe angehörendes Unternehmen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaats entsenden, sofern auch hier für die Dauer der Entsendung ein Arbeitsverhältnis zwischen dem Entsendeunternehmen und dem Arbeitnehmer besteht; schließlich auch, wenn Unternehmer als Leiharbeitsunternehmen einen Arbeitnehmer in ein verwendendes Unternehmen entsenden, das seinen Sitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaats hat oder dort seine Tätigkeit ausübt, sofern auch hier für die Dauer der Entsendung ein Arbeitsverhältnis zwischen dem Leiharbeitsunternehmen und dem Arbeitnehmer besteht.5

Abzugrenzen ist die nur kurzfristige Arbeitnehmerentsendung von der dauerhaften Niederlassung eines Arbeitnehmers in einem EU-Mitgliedsstaat. Spricht man ganz allgemein von grenzüberschreitender Arbeitnehmermobilität, so kommen grundsätzlich zwei Konstellationen in Frage: ein Arbeitnehmer kann zum einen seinen Herkunftsstaat verlassen und in einem anderen Staat dauerhaft eine Beschäftigung aufnehmen. Hierbei erfolgt eine vollständige Integration in das dortige Arbeitsrechtssystem. Bei diesem Fall handelt es sich um einen klassischen Anwendungsfall der Arbeitnehmerfreizügigkeit gem. Art. 45 AEUV, die jedem Arbeitnehmer innerhalb der EU die Möglichkeit der Aufnahme einer Beschäftigung garantiert und eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbietet.

Zum anderen ist es möglich und denkbar, dass ein Unternehmen für einen ausländischen Auftrag seine eigenen Arbeitnehmer schickt oder ein Zeitarbeitsunternehmen Arbeitnehmer an ausländische Unternehmen verleiht. In diesen Fällen spricht man von Arbeitnehmerentsendung.6 Möglich wäre in diesem Fall zwar auch, dass ein Arbeitgeber für die Ausführung seines Arbeitsauftrages Arbeitnehmer des Empfangslandes einstellt, dies wäre aber mit einem erhöhten Zeit-, Arbeits- und Kostenaufwand für den Arbeitgeber verbunden, da er hierzu vor Ort geeignetes Personal suchen müsste.

Die nur kurzfristige Entsendung von Arbeitnehmern in einen anderen Staat im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, die Gegenstand der hier vorliegenden Arbeit sein soll, ist mithin zu unterscheiden von der dauerhaften Niederlassung eines Arbeitnehmers in einem anderen Staat mit dem Ziel, dort zu arbeiten. Denn bei einer grenzüberschreitenden Arbeitnehmerentsendung bleibt der entsandte Arbeitnehmer in einem Arbeitsverhältnis zum Arbeitgeber des Entsendestaates, wie sich explizit aus der Richtlinie 96/71/EG ergibt, wohingegen bei einer dauerhaften Tätigkeit im Ausland ein Arbeitsvertrag mit einem Arbeitgeber im Empfangsstaat geschlossen wird.7 Dieser Fall wird von der Richtlinie 96/71/EG nicht erfasst.

Die Freiheit eines Unternehmers, seine Arbeitnehmer zur Ausführung eines Projektes über die Landesgrenzen hinweg zu entsenden, ist ebenfalls durch die europarechtlichen Grundfreiheiten des AEUV geschützt und darf grundsätzlich nicht eingeschränkt werden. Die Arbeitnehmerentsendung unterfällt jedoch nicht dem Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit, sondern der Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 56 AEUV, die Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Europäischen Union verbietet, da die entsandten Arbeitnehmer sich nicht dauerhaft im Empfangsstaat niederlassen.8 Aus diesem Grund ist auch die europäische Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV nicht betroffen.9 Wie der EuGH bereits in den Neunziger Jahren entschieden hat, gehört zur Dienstleistungsfreiheit eines Unternehmers eben auch die Freiheit, zur Ausführung der Dienstleistung eigene Arbeitnehmer in den Aufnahmestaat zu entsenden. Bei einer solchen Entsendung wird aber der Arbeitnehmer gerade nicht dauerhaft in den fremden Arbeitsmarkt des Empfangsstaates integriert, weshalb kein Fall der Arbeitnehmerfreizügigkeit gegeben ist. Die Entsendung an sich darf daher grundsätzlich nicht durch Auflagen oder Genehmigungserfordernisse eingeschränkt werden, da dies eine Einschränkung der europäischen Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 AEUV darstellen würde.10 Indem die Richtlinien 96/71/EG sowie 2014/67/EU aber gerade den Entsendeunternehmen Vorgaben machen, wird deren Dienstleistungsfreiheit tangiert. Diese Problematik wird ebenfalls Gegenstand der vorliegenden Arbeit sein.11

C. Zahlen und Fakten zur Arbeitnehmerentsendung

I. Allgemeines

Die hier aufgeführten maßgeblichen Zahlen zur Arbeitnehmerentsendung entstammen dem jährlichen Bericht der EU-Kommission über die Verteilung der so genannten A1-Dokumente, der gegenwärtig die einzige öffentliche Informationsquelle hierzu auf europäischer Ebene darstellt.12

Mit dem A1-Dokument wird das für entsandte Arbeitnehmer sozialrechtlich relevante Recht festgestellt. Für entsandte Arbeitnehmer bleibt nämlich gemäß Artt. 12, 13 VO 883/200413 auch während der Entsendung für gewöhnlich das Sozialversicherungsrecht des Entsendestaates bestehen, sie fallen also nicht unter das Sozialversicherungsrecht des Aufnahmestaates, solange eine Entsendedauer von 24 Monaten nicht überschritten wird.14 Die A1-Bescheinigungen, die dies dokumentieren, werden von den jeweiligen nationalen Sozialversicherungsträgern ausgestellt.15

Anzumerken ist jedoch, dass der hier vorgestellte EU-Bericht über die ausgestellten A1-Dokumente nicht 1:1 die tatsächliche Entsendesituation widerspiegeln kann. Unter anderem ist hervorzuheben, dass durch den Bericht Arbeitnehmer bei mehrmaliger Entsendung während eines Jahres auch mehrfach erfasst werden, weshalb mehr entsandte Arbeitnehmer erfasst werden können, als tatsächlich entsandt wurden.16 Zum anderen erfasst die VO 883/2004, die die Rechtsgrundlage für Herausgabe der A1-Bescheinigungen bildet, auch selbständige Personen, die im Ausland tätig werden. Wie aber bereits ausgeführt wurde17, werden von der RL 96/71/EG nur unselbständige Personen, also Arbeitnehmer, erfasst.18 Schließlich werden naturgemäß auch diejenigen Entsendungen vom A1-Report nicht erfasst, die nicht ordnungsgemäß von den Entsendeunternehmen angemeldet wurden.19

Betrachtet man zunächst die Zahl der Arbeitnehmerentsendungen EU-weit, so wurden im Jahr 2015 2,05 Millionen A1-Dokumente herausgegeben. Im Vergleich zum Vorjahr bedeutet dies eine Steigerung um 7%.20

Die drei Hauptentsendestaaten waren die Republik Polen (463.174 A1-Dokumente), die Bundesrepublik Deutschland (240.862 A1-Dokumente) und die Französische Republik (130.040 A1-Dokumente). Polen führt damit 23% aller Entsendungen innerhalb der EU aus, also fast ¼ aller Entsendungen EU-weit.21 Im Jahr 2015 hat es fast doppelt so viele Entsendungen von Polen aus gegeben, wie aus Deutschland.

Die drei Hauptempfangsstaaten waren Deutschland (418.908 Entsendungen), Frankreich (177.674 Entsendungen) und Belgien (156.556 Entsendungen). Damit empfängt Deutschland fast 30% aller Entsendungen EU-weit.22 Bei Polen waren es lediglich 17.897.23

Insofern lässt sich vorab feststellen, dass Polen derzeit der stärkste Entsendestaat innerhalb der EU ist, Deutschland der stärkste Empfangsstaat.

Insgesamt wurden ca. 85% aller Entsendungen in die EU-15-Staaten durchgeführt, zu denen alle Mitgliedsstaaten der EU vor der so genannten Osterweiterung zählen.24 Mehr als 90% aller Entsendungen aus Polen wurden in die EU-15-Staaten durchgeführt.25

41,5% aller A1-Dokumente wurden im Bau-Sektor erlassen, 32,7% im Dienstleistungs-Sektor, und 25,45% im Industrie-Sektor. Die aus Polen entsandten Arbeitnehmer entstammen hauptsächlich dem Bau-Sektor.26

II. Deutschland

Deutschland hat im Jahr 2015 insgesamt 240.862 Arbeitnehmer ins Ausland entsandt, was 0,6% der beschäftigten Arbeitnehmer in Deutschland entspricht.27 Im Vergleich zu den Vorjahren ist die Zahl relativ konstant, im Jahr 2014 waren es 255.724 A1-Bescheinigungen28, im Jahr 2013 227.008 A1-Bescheinigungen, und im Jahr 2012 221.650 A1-Bescheinigungen.29

Deutschland hat im Jahr 418.908 A1-Dokumente erhalten, was 28% aller A1-Dokumente entspricht, demnach fast 1/3 aller Entsendungen.30 Im Jahr 2014 wurden ähnlich viele Entsendungen nach Deutschland registriert, laut Bericht der EU-Kommission waren es 414.220.31 In den Jahren davor hingegen war die Zahl der Entsendungen kleiner, im Jahr 2013 waren es 373.666, im Jahr 2012 335.862.32

Die Hauptströme erfolgten aus Polen (130.893 A1-Dokumente, entspricht 31,2%), Slowenien (60.976, entspricht 14,6%) und der Slowakei (35.522, entspricht 8,5%).33 44,5% aller Entsendungen nach Deutschland entstammen dem Bausektor.34

III. Polen

1. Vor dem EU-Beitritt

Bereits ab dem Jahr 1989 schloss Deutschland mit den mittel- und osteuropäischen Staaten (MOE-Staaten), unter anderem auch mit Polen, so genannte Werkvertragsabkommen in Form von bilateralen völkerrechtlichen Verträgen ab.35 In diesen Abkommen wurden jährlich vertraglich bestimmte Kontingente festgelegt, und so die Anzahl der zur Erwerbstätigkeit zugelassenen Arbeitnehmer aus dem Ausland verbindlich festgesetzt. Voraussetzung war, dass ein wirksamer Werkvertrag zwischen einem Unternehmer aus den MOE-Staaten und einem Unternehmer aus Deutschland vorlag.36 Für die Vergabe der Kontingente waren die Arbeitsministerien der jeweiligen MOE-Staaten zuständig.37 Zur näheren Ausgestaltung dieser Verbindungen war eine Reihe an aufenthalts-, arbeits- und sozialrechtlichen Sondervorschriften nötig.38 Die Tätigkeit in Deutschland erforderte eine Arbeitserlaubnis, die wiederum Grundlage für eine Aufenthaltserlaubnis war. Die Genehmigungen wurden in der Regel für die Zeit des Werkvertrages erteilt.39

Ziel dieser Abkommen war damals vor allem die wirtschaftliche Unterstützung der osteuropäischen Staaten bei ihrer Restrukturierung, aber auch die Beschaffung neuer Arbeitskräfte für den deutschen Arbeitsmarkt. Denn aufgrund der vereinigungsbedingt wachsenden deutschen Wirtschaft war Anfang der 90er Jahre besonders in der Baubranche ein erhöhter Arbeitskräftebedarf entstanden.40 Im Fall von Polen lagen die Kontingente bis zum Jahr 1992 bei durchschnittlich ca. 35.000 Arbeitnehmern pro Jahr, wovon über die Hälfte im Baugewerbe beschäftigt waren. Ab dem Jahr 1995 wurden sie auf etwa 20.000 Arbeitnehmer pro Jahr verringert, im Jahr 2004 waren es nur noch ca. 13.000.41

2. Nach dem EU-Beitritt

a) Übergangsvorschriften

Auch wenn die Republik Polen am 1. Mai 2004 zusammen mit neun weiteren Staaten Mitglied der Europäischen Union wurde, war die Dienstleistungsfreiheit polnischer Unternehmer in Bezug auf Deutschland und Österreich zunächst noch nicht in vollem Umfang gegeben.

Aus Angst vor einer Überschwemmung der westlichen Arbeitsmärkte mit Arbeitskräften aus dem Osten, wurden im Beitrittsvertrag für die MOE-Staaten spezielle Übergangsregelungen geschaffen, die die Arbeitnehmerfreizügigkeit der polnischen Unternehmer ab dem Beitritt Polens zur EU am 01.05.2004 für einen Übergangszeitraum von bis zu sieben Jahren einschränkten. Solche Übergangsregelungen in Form eines so genannten 2+3+2-Modells wurden in Deutschland und Österreich neben dem Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit zusätzlich im Bereich der Dienstleistungsfreiheit für das Baugewerbe und Teilbereiche des Handwerks beschlossen, weil diese Länder direkt an die neuen Beitrittsländer angrenzten und man glaubte, eine besondere Anziehungskraft auszulösen. In den übrigen Bereichen galt die Dienstleistungsfreiheit unbeschränkt.42 Nach dem 2+3+2-Modell galten die nationalen und bilateralen Regelungen des Arbeitsmarktzugangs fort, so dass die Mitgliedsstaaten selbst entscheiden konnten, inwieweit sie ihren Arbeitsmarkt für die Beitrittsländer öffneten.43

b) Vollständige Dienstleistungsfreiheit erst ab dem 01.05.2011

Details

Seiten
242
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631802427
ISBN (ePUB)
9783631802434
ISBN (MOBI)
9783631802441
ISBN (Paperback)
9783631791813
DOI
10.3726/b16153
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (November)
Schlagworte
Lohndumping Sozialdumping Entsendestaat Umsetzung EU-Recht MOE-Staaten Entsende-Richtlinie Sozialismus Empfangsstaat Tarifrecht Europäische Dienstleistungsfreiheit Wettbewerbsschutz
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 242 S.

Biographische Angaben

Sonia Cloppenburg (Autor:in)

Sonia Cloppenburg wurde in Polen geboren und studierte Rechtswissenschaften an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Sie war als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Arbeits- und Sozialrecht der Universität Erlangen tätig, wo auch ihre Promotion erfolgte.

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