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Die Welt plausibel erzählen

Metamorphose und Entwicklung im literarischen Werk Christoph Ransmayrs

von Sabina Zieglgänsberger (Autor:in)
©2020 Dissertation 366 Seiten

Zusammenfassung

Im literarischen Werk Christoph Ransmayrs ist die Metamorphose als Motiv, Formstruktur und Metapher durchgehend präsent. Sie ist der rote Faden, der sich durch das Oeuvre zieht, und alle Texte in ihrer gemeinsamen Aussage im Kern zusammenhält. Die Verwandlung als zentrale Bildfigur in den Texten, die alle damit verbundenen Themenbereiche eint und so ein in sich geschlossenes Gesamtbild der fiktionalen Wirklichkeit entwirft, ist nicht nur aufgrund ihrer bereits in Mythos und Mythologie angelegten Implikationsmöglichkeiten für Ransmayr attraktiv, sondern auch aufgrund ihrer Offenheit zur Naturwissenschaft. Insbesondere Ransmayrs Orientierung an szientifischen Inhalten und Sprachmodi spiegelt die in seiner Poetik geforderte Ausrichtung auf eine literarische Abbildung der Wirklichkeit, die stets der Plausibilität verpflichtet sein soll.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhalt
  • Einleitung
  • 1. Zielsetzung und Erkenntnisinteresse
  • 2. Aufbau, Methode und Textauswahl
  • 3. Forschungslage zu Christoph Ransmayr
  • 3.1. Forschungslage zum literarischen Werk Christoph Ransmayrs
  • Strahlender Untergang. Ein Entwässerungsprojekt oder Die Entdeckung des Wesentlichen
  • Die Schrecken des Eises und der Finsternis
  • Die letzte Welt
  • Morbus Kitahara
  • Der Weg nach Surabaya
  • Die dritte Luft oder Eine Bühne am Meer
  • Die Unsichtbare. Tirade an drei Stränden
  • Der Ungeborene oder Die Himmelsareale des Anselm Kiefer
  • Die Verbeugung des Riesen. Vom Erzählen
  • Geständnisse eines Touristen. Ein Verhör
  • Der fliegende Berg
  • Damen & Herren unter Wasser. Eine Bildergeschichte nach 7 Farbtafeln von Manfred Wakolbinger
  • Odysseus, Verbrecher. Schauspiel einer Heimkehr
  • Wolfsjäger. Drei polnische Duette
  • Atlas eines ängstlichen Mannes
  • Gerede. Elf Ansprachen
  • Cox oder Der Lauf der Zeit
  • 3.2. Forschungslage zum Werk Christoph Ransmayrs im Kontext der Postmoderne-Diskussion
  • ERSTER TEIL: THEORIE DER METAMORPHOSE
  • 1. Mythos im 20. Jahrhundert: Stationen der Mythos-Debatte
  • 2. Mythos und Metamorphose in der Literaturwissenschaft
  • 2.1. Mythos in der Literaturwissenschaft
  • 2.2. Metamorphose in der Literaturwissenschaft
  • 2.2.1. Motive der Metamorphose
  • 2.2.2. Metamorphose als Metapher
  • 2.2.3. Metamorphose als Formstruktur
  • ZWEITER TEIL: METAMORPHOSEN IM LITERARISCHEN WERK VON CHRISTOPH RANSMAYR
  • I. Metamorphosen im literarischen Werk Christoph Ransmayrs
  • Strahlender Untergang. Ein Entwässerungsprojekt oder Die Entdeckung des Wesentlichen [SU]
  • Die Schrecken des Eises und der Finsternis [SEF]
  • Die letzte Welt [LW]
  • Morbus Kitahara [MK]
  • Der Weg nach Surabaya [WS]
  • Die dritte Luft oder Eine Bühne am Meer [DL]
  • Die Unsichtbare. Tirade an drei Stränden [U]
  • Der Ungeborene oder Die Himmelsareale des Anselm Kiefer [DU]
  • Verbeugung des Riesen. Vom Erzählen [VR]
  • Geständnisse eines Touristen. Ein Verhör [GT]
  • Der fliegende Berg [FB]
  • Damen & Herren unter Wasser. Eine Bildergeschichte nach 7 Farbtafeln von Manfred Wakolbinger [DH]
  • Odysseus, Verbrecher. Schauspiel einer Heimkehr [OV]
  • Der Wolfsjäger. Drei polnische Duette [W]
  • Atlas eines ängstlichen Mannes [AÄM]
  • Gerede. Elf Ansprachen [G]
  • Cox oder Der Lauf der Zeit [CZ]
  • II. Metamorphose der letzten Welten – Mythische Verwandlung und natürliche Entwicklungsprozesse im Chronotopos
  • 1. Gestaltungsprinzipien des Chronotopos
  • 2. Peripherie und Zentrum
  • 3. Berg und Meer
  • 4. Ou-Topos: Die Wüste
  • 5. Gefährdung des Subjekts im Chronotopos
  • III. Motive der Metamorphosen – Verwandlungen im Kontext von Natur, Kultur und Subjektkonstitution
  • 1. Metamorphosen auf individueller Ebene: Das Subjekt als Naturwesen
  • 1.1. Variation mythologischer Metamorphosen
  • 1.2. Identitätsgewinn durch Auflösung und Gestaltwandel
  • 2. Gegenpol der Metamorphose: Konstanten der menschlichen Kultur
  • 2.1. Menschliches Streben nach Beständigkeit
  • 2.2. Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen
  • EXKURS: Naturwissenschaft im Werk Christoph Ransmayrs
  • IV. Produktion und Rezeption – Metamorphose als Metapher
  • Zusammenfassung
  • Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

Einleitung

Ovids Metamorphosen1 sind in der abendländischen Literatur zwar nicht die erste poetische Auseinandersetzung mit der Metamorphose,2 sie stellen jedoch die entscheidende Quelle dar, auf die sich die literarische Rezeption der kommenden Jahrtausende stützen sollte. Zahlreiche Entwicklungslinien der literarischen Darstellung von Metamorphosen lassen sich dementsprechend auf den ovidischen Prätext3 zurückführen, der somit als Beginn einer langen europäischen Tradition in der Literatur gelten muss. Hans Blumenberg sieht sogar die „europäische Phantasie“4 als „ein weitgehend auf Ovid zentriertes Beziehungsgeflecht“,5 was die Bedeutsamkeit des antiken Autors explizit hervorhebt. Wenngleich Ovid als wichtigster Vertreter von Metamorphose-Erzählungen zu werten ist, kommt der Gesamtheit der antiken Verwandlungsgeschichten ein solches Gewicht zu, dass deren literarischen Adaptionen bis in die Gegenwart reichen.6 ←13 | 14→Ein ausschlaggebender Grund für die zahlreichen Variationen und das gehäufte Auftreten von Metamorphosen in der zeitgenössischen Literaturlandschaft dürfte auf deren Nähe zur Mythologie beziehungsweise zum Mythos zurückzuführen sein und so im Zusammenhang mit der „Mythenrenaissance“7 stehen, die sich vor allem in der Literatur der 1980er-Jahre vollzogen hat und widerspiegelt.8 Ein weiterer Anstoß für die Konjunktur von Verwandlungen in der modernen Literatur9 lässt sich durch die Offenheit und Vielfalt der angeschlossenen Bedeutungsbereiche erklären, die bereits bei Ovid augenfällig sind. Ergänzungen, Abweichungen oder Zusätze können so variiert werden, dass die Aussage- und Wirkungsabsichten ihrer Zeit entsprechend angepasst sind, ohne dabei die mythisch und kulturgeschichtlich aufgeladene Bedeutung oder die narrative Grundstruktur zu verletzen. Die Metamorphose verfügt demnach aus literaturwissenschaftlicher Sicht über einen großen thematischen ‚Einzugsbereich‘, der zahlreiche Implikationsmöglichkeiten zulässt. Insbesondere die facettenreiche Gestaltung der Verwandlung in den Metamorphosen öffnet der modernen Variation zahlreiche Anknüpfungspunkte. Schon für Ovid besaß die Metamorphose zwei entscheidenden Bedeutungsebenen, die auch für heutige Autoren nicht an ←14 | 15→Relevanz verloren haben:10 Zum einen wird die „Kosmologie“11 sowie die Frage nach der Stellung des Menschen in der Welt verhandelt, wobei kulturgeschichtliche Entwicklungen eine zunehmend wichtige Rolle einnehmen. Folglich wird die Metamorphose zu einer Schnittstelle zwischen Literatur und Naturwissenschaft und vermag „als genuiner Ort der literarischen Reflexion des Wandels zu einem wissenschaftlichen Weltbild“12 fungieren. Zum anderen finden sich in der ovidischen Dichtung ausgeprägte Ansätze von literarischer Selbstreflexion.13 Die Metamorphose lässt sich in diesem Zusammenhang auf den produktiven künstlerischen Prozess übertragen, der wiederum selbst hinterfragt, durchdacht und auf der Textebene gespiegelt werden kann. Gemeinsam ist beiden Bedeutungssphären der literarischen Metamorphose die thematische Konzentration auf menschliche Grunderfahrungen mit der Wirklichkeit. In der Analyse von literarischen Texten gilt es daher, die einzelnen Bereiche der Bedeutung von Metamorphose nicht nur zu berücksichtigen, sondern auch die Identität und wesenhafte Selbstpositionierung des Menschen in seiner Umwelt herauszuarbeiten, wie sie sich im jeweiligen Text darstellen. Naturgemäß antworten antike und moderne Schriftsteller unterschiedlich auf die Frage nach Identität, weshalb die Konstruktion einer literarischen Metamorphose für einen singulären Text oder ein gesamtes dichterisches Werk präzise zu bestimmen ist. Christoph Ransmayr hat mit seinem vor 30 Jahren erschienen Roman Die letzte Welt,14 in dem er auf Ovids Metamorphosen zurückgriff, eine der bedeutendsten Variationen in der Gegenwart geschaffen und dabei große Wirkung wie Interesse sowohl auf den Bestsellerlisten als auch in Fachkreisen erzielt. Ziel dieser Arbeit ist es, die zusammenhängende Struktur und zentrale Bedeutung der Metamorphose im literarischen Werk von Christoph Ransmayr herauszuarbeiten.

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1. Zielsetzung und Erkenntnisinteresse

Ransmayr hat bereits mehrfach in verschiedenen Interviews betont, dass er sich in seinem literarischen Schaffen vor allem um Plausibilität und Wahrscheinlichkeit bemühe.15 Auf der Basis dieses Grundsatzes formuliert der Autor auch das Programmziel seiner Poetik, das in dem Ausdruck ,Die Erfindung der Wirklichkeit‘ zusammengefasst werden kann. Die zahlreichen poetologischen Reflexionen in den Romanen und ,Spielformen des Erzählens‘ geben darüber Aufschluss, dass die „Erfindung der Welt“16 – etwas summarisch ausgedrückt – die Durchdringung der Wirklichkeit durch einen Autor bedeutet, der diese sodann in eine künstlerische Form übersetzt. Im literarischen Werk Ransmayrs, so die entscheidende These dieser Studie, wird der Versuch unternommen, eine plausible Wirklichkeit zu erzählen, wobei möglichst alle Aspekte für diese Beschreibung einbezogen werden sollen. Ransmayr kompensiert die vermeintliche Unmöglichkeit dieses Unterfangens – kosmische, natur-, kultur- und sogar individualgeschichtliche Dimensionen in einer Erzählung einzufangen und dabei sogar deren Veränderungen über die Zeit hinweg zu beschreiben – durch die zentrale Bildstruktur der Metamorphose. Die neue Annahme dieser Arbeit lautet, dass Ransmayr die Metamorphose motivisch, metaphorisch und formalästhetisch gezielt einsetzt und sich dabei ihren Anteil sowohl an der Natur- wie auch an der Geistesgeschichte zunutze macht, um die unterschiedlichen Ebenen der Wirklichkeit darstellbar zu machen und auf deren Bezüge untereinander hinzuweisen. Im literarischen Werk des österreichischen Autors ist dieses Prinzip des stetigen Wandels alles Seienden, wie diese Arbeit zu beweisen versucht, die entscheidende Konstante in der fiktiven Wirklichkeit und somit der kleinste gemeinsame Nenner, an dem sich alle Erzählungen in stärkerer oder schwächerer Akzentuierung ausrichteten. Ransmayr variiert zu diesem Zweck den literarischen Diskurs der Metamorphose-Motive und erweitert ihn um eine naturwissenschaftliche Perspektive – so wie es Ovid bereits in der Pythagoras-Rede in den Metamorphosen getan hat. Alle von Ransmayr beschriebenen und mythologisch beziehungsweise fantastisch wirkenden Metamorphosen – etwa die Verwandlung von Battus in ←16 | 17→Stein in Die letzte Welt oder die plötzliche Transformation Herrn Bluehers in einen Großflossen-Riffkalmar in Damen & Herren unter Wasser – sind streng an naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten orientiert. Der evolutionäre Gang der Natur wird durch eine extreme zeitliche Raffung, so die These dieser Studie, in der Literatur darstellbar und für den Leser erfahrbar.17 Die Bildstruktur der Metamorphose dient als Bindeglied zwischen der naturwissenschaftlichen und der literarischen Sphäre und offenbart zugleich eine holistische Perspektive auf die Welt. Ähnlich wird auf formalästhetischer Ebene verfahren: Die Metamorphosen in der Raum- und Zeitstruktur gehen mit natürlichen botanischen oder geologischen Entwicklungen konform, wenn man die unterschiedlich geschachtelten Erzählzeiten berücksichtigt. Ransmayrs Metamorphosen – sowohl die Motive als auch die Formstruktur – sind daher im Eigentlichen natürliche, evolutionäre Entwicklungen im Zeitraffer und beziehen in diesem Zusammenhang auch den Wandel von Kultur und Individuum mit ein. Ziel dieser Studie ist es, die Transformationsvorgänge als eine Abweichung oder als einen Sonderfall der geisteswissenschaftlichen Konzeption von Metamorphose darzustellen, da sie zwar in der literarischen Gestaltung ,äußerlich‘ dem mythologischen beziehungsweise mythischen Metamorphose-Begriff folgen (wie er im theoretischen Teil dargelegt wird), jedoch ,innerlich‘ dem naturwissenschaftlichen Konzept und einer neuzeitlichen Plausibilität verpflichtet bleiben. Am Beispiel der Metamorphose wird so deutlich, dass die Naturwissenschaft im literarischen Werk des Autors eine überaus zentrale Rolle spielt – eine These, die in Forschung bislang noch nicht untersucht wurde. Die Motive der Metamorphose und die Gestaltung des Chronotopos stehen zudem im Zusammenhang mit Ransmayrs Poetik, die die Möglichkeiten und Wirkungsmacht von Literatur auf individueller Ebene wie im kulturgeschichtlichen Rahmen reflektiert. Die Metamorphose ist somit nicht nur Mittel der literarischen Schilderung, sondern steht auch, wie eingangs bereits beschrieben, metaphorisch für das erzählerische Prinzip und die Poetik des Autors, die die Darstellungsmöglichkeiten einer plausiblen Wirklichkeit in der Literatur auslotet. Der hier intendierte Kreisschluss, der durch Ransmayrs Übertragung des Motivs auf den Literaturprozess selbst erfolgt, soll – folgt man ←17 | 18→Ransmayrs Poetik – die Erzählung mit der Wirklichkeit verbinden und diese neu erfinden. Es wird daher ein enger inhaltlicher und struktureller Zusammenhang des Textkorpus Ransmayrs angenommen, der auf einer das Gesamtwerk einschließenden Poetik18 des Autors fußt. Auf diese Vermutung ist zwar schon an vielerlei Stellen hingewiesen worden,19 aber die Metamorphose als ein alles einendes Element, das in mehr oder minder starken Akzentuierung im gesamten literarischen Werk auszumachen ist,20 wurde bislang in ihrer alles umreißenden und vielseitig angewendeten Komplexität – insbesondere in Bezug auf die Verflechtung mit der Naturwissenschaft – nicht erkannt.

2. Aufbau, Methode und Textauswahl

Der einleitende theoretische Teil dieser Arbeit, der zugleich den methodischen Zugriff deutlich macht, befasst sich mit der Entwicklung wie definitorischen Abgrenzung der Begriffe Mythos und Metamorphose und stützt sich dabei auf den neuesten Forschungsstand. Die literaturwissenschaftliche Perspektive stellt den zentralen Bezugspunkt dieser Auseinandersetzung dar, an deren Ende trotz ←18 | 19→der dichten theoretischen Besetzung des Mythos- und Metamorphose-Begriffs eine für die interpretative Arbeit am literarischen Text operable Terminologie steht, welche die Metamorphose als Motiv, Metapher und Formstruktur klar definiert und voneinander abgrenzt.

Als Einstieg in das weitverzweigte Feld der Mythos-Forschung dient ein kursorischer Überblick über die aktuellen Stationen der Debatte in der Moderne.21 Dieser Durchgang ist chronologisch angelegt (beginnend mit dem frühesten Publikationsdatum und auf das 20. Jahrhundert beschränkt) und bezieht unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen ein. Die Auswahl der Positionen erfolgt nach der Wirksamkeit der Theorien in der modernen und postmodernen Literaturwissenschaft sowie ihrer spezifischen Relevanz für das Werk und Mythenverständnis Ransmayrs. Als Ergebnis dieser Betrachtung steht ein sowohl disziplinär wie auch methodisch differenziertes Angebot an Mythendeutungen, das zwar zahlreiche Anknüpfungspunkte für die Textanalyse bieten würde, jedoch für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit zu spezifizieren ist. Dementsprechend wird auf der Grundlage von Herwig Gottwalds Habilitationsschrift Spuren des Mythos in moderner deutschsprachiger Literatur,22 die das weite Feld der Mythos-Theorie unter dem literaturwissenschaftlichen Aspekt auffächert und ordnet, eine prinzipielle Untergliederung von stoffgeschichtlicher und formalästhetischer Betrachtung vom Mythos in der Literatur getroffen. An dieser Konzeption ausgerichtet, identifiziert die vorliegende Arbeit in einem weiteren Schritt die Metamorphose in der Literaturgeschichte als Teil des Mythos, so dass die Metamorphose sowohl als stoffliches als auch formales Element in der Literatur auszumachen ist.

Die Metamorphose als Phänomen der Stoff- beziehungsweise Rezeptionsgeschichte wird anhand von Peter Kuons theoretischem Grundsatzartikel23entwickelt, ←19 | 20→den er für das Salzburger Zentrum „Metamorphischer Wandel in den Künsten“24 verfasste. Die Forschung dieser interdisziplinären Arbeitsgruppe, die sich mit der Theorie und praktischen Anwendung des Metamorphose-Begriffs beschäftigt und den aktuellen Stand der Diskussion repräsentiert, wird als Grundlage genutzt. Allerdings werden die literaturtheoretischen Bereiche der Forschung keine Berücksichtigung finden, da sie keinen Beitrag zum Untersuchungsgegenstand versprechen. Folgt man Kuons Ausführungen, kann die Metamorphose in den Geisteswissenschaften als Motiv und Metapher bestimmt werden. Die vorliegende Arbeit wird in der definitorischen Abgrenzung Modifikationen vornehmen und die Metamorphose – im Gegensatz zum Salzburger Zentrum – als eine Metapher für das künstlerische Gestaltungsprinzip definieren.

Kuons Metamorphose-Begriff wird in diesem Verfahren durch Gottwalds Konzept methodisch erweitert. Die Metamorphose sei, wie es Gottwald betont, nicht nur ein Element der Stoffgeschichte, sondern auch ein formalästhetisches Phänomen, das als Teil des mythischen Denkens auf die Darstellungskategorien in Texten (wie etwa Raum, Zeit oder Kausalität) wirke.25 Die vorliegende Studie wird sich in der Analyse der formalen Strukturen vor allem auf die Theorie des Chronotopos von Michail Bachtin26 stützen und dabei Clemens Lugowskis Die Form der Individualität im Roman27 sowie dessen Weiterentwicklung durch Matías Martínez` Doppelte Welten28 einbeziehen, da diese Arbeiten den Mythos ←20 | 21→(und zu Teilen auch die Metamorphose) als zentrale Formstruktur in Texten ausmachen und untersuchen. Ein besonderes Augenmerk liegt auf den Modifikationen in Bezug auf die Bearbeitung moderner beziehungsweise postmoderner Texte. Hierbei werden Gottwalds Ausführungen als konzeptionelle Quelle dienen.

Nach dieser grundlegenden definitorischen Eingrenzung und Gliederung von Mythos und Metamorphose in der Literaturwissenschaft folgen drei weitere Unterkapitel, in denen die Motive der Metamorphose, die Metamorphose als Metapher sowie die Metamorphose als Formstruktur näher beleuchtet werden. Besondere Beachtung finden hierbei – insbesondere bei der Betrachtung der Motive der Metamorphose – die naturwissenschaftlichen Implikationen, die bislang in den literaturwissenschaftlichen Analysen eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Bei der Aufarbeitung soll dieser Blickwinkel jedoch weniger eine konkurrierende als vielmehr eine komplementäre Ergänzung bilden.

Auf dieser theoretischen beziehungsweise methodischen Grundlage wird im Hauptteil das literarische Werk Ransmayrs untersucht. Während im ersten Kapitel ein analytischer Durchgang durch die Texte Ransmayrs erfolgt, nehmen die folgenden drei Kapitel die Metamorphose als stoffliches und formales Element unabhängig vom Erscheinungsdatum der Texte in den Fokus. Die bereits im Theorieteil identifizierten drei Betrachtungsebenen – Metamorphose als Formstruktur Motiv und Metapher – dienen hierbei als Gliederung.

Kapitel I arbeitet das literarische Werk Ransmayrs in der Reihenfolge der Erscheinung der Texte auf, wobei Struktur- und Stiluntersuchungen ebenso wie die Analyse einzelner Darstellungselemente in den Fokus genommen werden – ohne dabei den Untersuchungsgegenstand der Metamorphose aus den Augen zu verlieren. Bei dieser Betrachtung tritt die Metamorphose als fester Bestandteil und verbindendes Element hervor, das in stärkerer oder schwächerer Akzentuierung in allen Texten zu finden ist. Die enge und bislang unbehandelte Verflechtung der Motive der Metamorphose sowie der Metamorphose als Metapher und Formstruktur wird bei dem Werkdurchgang ebenso offenbar, wie die Entwicklung der literarischen Darstellung von Metamorphose im Verlauf der Werkgeschichte.

Kapitel II untersucht die Raum- und Zeitgestaltung in den Texten Ransmayrs und arbeitet die mythosanaloge Struktur in deren Darstellung heraus. Zentraler methodischer Zugriff ist hierbei Bachtins Theorie des Chronotopos sowie Martínez` Arbeit Doppelte Welten. Die Metamorphose erweist sich in der von Ransmayr angelegten Raumzeit als ein grundlegender Bestandteil, der trotz seines Bezugs zu mythischen Denkformen im Sinne Cassirers naturgeschichtliche Entwicklungen abbildet. Die dadurch evozierte Totalität der Natur steht, wie ←21 | 22→die Untersuchung zeigt, im scharfen Kontrast zur Nichtigkeit der menschlichen Existenz und birgt somit auch aufklärungs- beziehungsweise zivilisationskritisches Potential.

Kapitel III beschäftigt sich mit den Motiven der Metamorphose auf individueller Ebene und dem Gegenpol der Metamorphose auf kulturgeschichtlicher Ebene. Methodisch stützt sich dieser Teil vor allem auf eine Figuren- beziehungsweise Motivanalyse, die Frenzels Stoff- und Motivgeschichte29 als definitorische Basis wählt und die Metamorphose in Anschluss an die Salzburger Forschungsgruppe IRCM als eine plötzliche, rational nicht fassbare, irreversible und passiv erlittene Körpertransformation bestimmt.30 Im ersten Unterkapitel zeigt sich, dass der Gestaltwandel von Figuren, der teils als eine Variation antiker Mythologie zu begreifen ist, keiner mythischen Logik folgt, sondern analog zur Raum- und Zeitgestaltung natürliche Entwicklungsvorgänge und Naturgeschichte im Zeitraffer abbildet. Der starke Bezug zur Naturwissenschaft tritt erneut deutlich hervor. Weiterhin steht die Gefährdung des Subjekts und die damit verbundene Frage nach menschlicher Identität – auf individueller und kultureller Ebene – im Fokus: Es stellt sich heraus, dass die Einordung des Einzelnen in den Lauf des natürlichen Wandels Trost zu spenden vermag, der Identität stiftet. Im zweiten Unterkapitel werden in den Texten die Konstanten der menschlichen Kulturgeschichte untersucht und in Kontrast zu den Metamorphosen in der fiktiven Welt gesetzt. Dabei wird methodisch Bachtins Theorie des Chronotopos erneut aufgegriffen, um den Kontrast von Wandel in der Raum- und Zeitdarstellung und der Beständigkeit menschlicher Grausamkeit herauszuarbeiten. Durch diese antithetische Gegenüberstellung desavouiert Ransmayr jedwede menschliche Hybris und übt – wie schnell klar wird als übergreifendes allgemeines Thema in all seinen Texten – Zivilisationskritik.

An dieser Stelle wird in einem Exkurs die Bedeutung der Naturwissenschaft, die über die in der Arbeit beleuchteten Aspekte der Metamorphose weit hinausgeht, für das Werk Ransmayrs gezeigt. Der Autor hebt durch die Einbindung naturwissenschaftlicher Inhalte und Darstellungsmodi die allumfassende Gültigkeit physikalischer Gesetzmäßigkeiten (und damit verbunden das Prinzip der Metamorphose) als Konstante im Kosmos hervor. Die wissenschaftlich genaue Darstellung der Welt schließt – so möchte es diese Studie zeigen – wiederum an ←22 | 23→die Poetik des Autors an, in der die Darstellung einer plausiblen Wirklichkeit in der Literatur gefordert wird.

Kapitel IV dieser Arbeit setzt sich mit der Produktion und Rezeption von Literatur auseinander, betrachtet diese jedoch nicht literaturtheoretisch, sondern beschränkt sich auf die Analyse der poetologischen Reflexionen Ransmayrs innerhalb des literarischen Mediums. Die Metamorphose tritt, wie die methodische Untersuchung der Metapher zu Tage fördert, als zentrale Bildstruktur in der selbstreflexiven Auseinandersetzung mit der Literatur auf und verbindet Überlegungen über die Wirkungsmächtigkeit von künstlerischem Schaffen mit dem im gesamten Werk proklamierten natürlichen Wandel. Die Literatur erscheint als eine Art kulturelles Subsystem in den stetig ablaufenden Entwicklungsprozessen und verknüpft – entsprechend der programmatisch-poetologischen Idee Ransmayrs – die Kunst mit der (fiktiven) Wirklichkeit.

Diese Studie zielt darauf ab, die Metamorphose als ein zentrales Element in allen erzählerischen und dramatischen Texten Ransmayrs herauszuarbeiten, das sowohl auf stofflicher wie auch formalästhetischer Ebene anzutreffen ist. Dabei werden das gesamte Erzählwerk sowie die dramatischen Stücke des Autors in die analytische Betrachtung eingeschlossen. Ein weiteres Novum dieser Arbeit ist es insbesondere die bislang weniger beachteten und unbearbeiteten Texte des Autors zu behandeln: die Reihe ,Spielformen des Erzählens‘, die Episodensammlung Atlas eines ängstlichen Mannes31 sowie der kürzlich veröffentlichte Roman Cox oder Der Lauf der Zeit.32 Die Auswahl schließt darüber hinaus die weiteren bislang erschienenen Romane Die Schrecken des Eises und der Finsternis,33 Die letzte Welt, Morbus Kitahara34 und Der fliegende Berg35 ein. Der in der Forschung viel beachtete Roman Die Letze Welt soll jedoch nicht im Fokus der Arbeit stehen – trotz der starken Verknüpfung beziehungsweise Adaption literarischer Metamorphosen –, da der 1988 erschienene Bestseller durch die hohe Zahl der ←23 | 24→Beiträge als relativ aufgearbeitet gelten muss. Die Textauswahl konzentriert sich auf das literarische Schaffen des Autors, sodass frühere Reportagen und journalistische Arbeiten weitgehend ausgespart werden. Obwohl Ransmayr betont, dass er in seinem Schreiben keinerlei Unterscheidung zwischen literarischen und journalistischen Texten macht und für ihn „[d]as Erzählen […] untrennbar und unteilbar“36 sei, so scheint es dennoch ratsam, sich auf das literarische Korpus zu konzentrieren, da sich das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit auf literarische Elemente (Motiv, Metapher und Formstruktur) und so auf das fiktionale Erzählen Ransmayrs bezieht.37 Nicht vernachlässigt werden jedoch die zahlreichen Reden Ransmayrs, die eine starke Literarizität besitzen und enge Bezüglichkeiten zum literarischen Werk aufweisen. Weitere Verbindungen wie Interviews oder andere Äußerungen Ransmayrs im öffentlichen Rahmen werden, wenn notwendig, in die Untersuchungen ergänzend einfließen.

3. Forschungslage zu Christoph Ransmayr

3.1. Forschungslage zum literarischen Werk Christoph Ransmayrs

Als 1988 Ransmayrs Roman Die letzte Welt erschien, wurde dieser innerhalb kürzester Zeit als Literatursensation des Jahres gefeiert. Die Feuilletons, etwa das der Zeitungen Die Zeit, Frankfurter Allgemeine oder der Zeitschrift Spiegel38 ließen fast unisono verlauten,39 dass es Ransmayr mit diesem Werk gelungen sei, sich ←24 | 25→einen „Logenplatz in der deutschen Literatur“40 zu sichern. Das breite öffentliche Interesse an dem Roman spiegelt sich auch in der aktuellen Forschungslage41 wieder und so konstatiert Holger Mosebach eine „Unwucht“42 wissenschaftlicher Auseinandersetzungen „in quantitativer Hinsicht“43 zugunsten des Romans Die letzte Welt.44 Der Roman steht seit seiner Veröffentlichung im Zentrum der Diskussion um das Werk Ransmayrs, da der Autor den „Gemüts- oder vielmehr einen Geisteszustand“45 seiner Zeit getroffen sowie die damit verbundenen Topoi und literarischen Verfahren par excellence angewendet zu haben scheint. Doch auch das Romandebüt Die Schrecken des Eises und der Finsternis sowie die damals lang erwarteten Nachfolgeromane Morbus Kitahara und Der fliegende Berg haben in der Sekundärliteratur umfangreichere Beachtung gefunden, wenngleich sie quantitativ längst nicht an die Beiträge zu Die letzte Welt heranreichen. Die neuesten Romane Ransmayrs Atlas eines ängstlichen Mannes und Cox oder Der Lauf der Zeit haben ein großes öffentliches Medienecho ausgelöst, sind jedoch bislang in der Forschung wenig bis gar nicht besprochen worden. Dies ist auch einer gewissen zeitlichen Verzögerung in der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Werke geschuldet. Eine eher marginale Beachtung fand auch die in loser Folge erschienene Reihe ‚Spielformen des Erzählens‘, in der bislang zehn „Varianten einer ebenso vergnüglichen wie vielschichtigen Prosa“46 erschienen sind. Dabei kommt der für das literarische Werk Ransmayrs als Programmschrift47 geltenden Erzählung Strahlender Untergang, die als neu ←25 | 26→aufgelegte und überarbeite Version der Brandstätter Ausgabe48 in der ,Weißen Reihe‘ erschienen ist, eine gesteigerte Aufmerksamkeit in der Sekundärliteratur49 zu, die annähernd einstimmig die Zentralität und Bedeutsamkeit des Textes für das Gesamtwerk betont. Die übrigen Bände der Reihe – etwa Die dritte Luft,50 Die Unsichtbare,51 Der Ungeborene,52 Damen & Herren unter Wasser53 oder ←26 | 27→Odysseus, Verbrecher54 – waren Gegenstand von einzelnen, vergleichsweise wenigen Aufsätzen oder sind, insofern sie überhaupt Beachtung fanden, lediglich exkursorisch zu anderen Werkbetrachtungen herangezogen worden.55 Weitere Publikationen aus den ,Spielformen des Erzählens‘ – etwa Der Wolfsjäger56 oder Gerede57 – blieben hingegen bislang fast gänzlich unerwähnt oder wurden nur im Rahmen von Zeitungsrezensionen58 besprochen.

←27 | 28→

In der Sekundärliteratur überwiegen Betrachtungen, die – in unterschiedlicher thematischer Gewichtung – einzelne Romane in den Fokus des jeweiligen Forschungsbeitrags stellen. Vor allem ab der Veröffentlichung des dritten Romans Morbus Kitahara finden sich auch einige Arbeiten, die das Gesamtwerk des Österreichers ins Blickfeld rücken und die Kohärenz der Texte hervorheben. Dass hierfür die Metamorphose eines der wesentlichen Aspekte und – mehr noch – verantwortlich für den inneren Zusammenhalt aller Prosatexte ist, wurde in diesem Umfang bislang noch nicht gesehen. Bislang werden beispielsweise die gleichartig angelegte Topografie,59 das verschwindende Subjekt,60 das Thema Erzählen,61 die kunstvolle Über- und Verblendung von Fiktion und Wirklichkeit62 oder eine apokalyptische ←28 | 29→Endzeitlichkeit63 als verbindende Elemente aller Romane64 identifiziert. Allen jedoch gemein scheint die grundsätzliche Annahme einer in sich kohärenten Poetik, in der die Themenkomplexe in den jeweiligen Texten unterschiedliche Gewichtung finden, aber mit gleicher Wirkungs- und Aussageabsicht von dem Autor entworfen sind. Auch diese Arbeit versteht sich als Beitrag, der die zusammenhängende kompositorische Poetik des literarischen Gesamtwerks hervorheben möchte. Denn, wie oben erwähnt, ist als zentrales verbindendes Element vor allem die Metamorphose in unterschiedlicher Ausgestaltung und Gewichtung in jedem Text Ransmayrs anzutreffen. Klaus von Schilling verweist in seinem Beitrag zum poetologischen Programm in den ,Spielformen des Erzählens‘ nicht nur auf die Kohärenz dieser Texte, die eine „Selbstreflexion des Erzählens“65 betreiben, sondern auch darauf, dass durch die „Aufmerksamkeit auf das sinnliche Element, das das Erzählen trägt,“66 die Texte „musikalisch“67 verstanden werden können. Neben der „sinnlich-rhythmische[n] Gestalt“68 der ,Spielformen des Erzählens‘ ist für von Schilling die Metamorphose ein verbindendes Element in der literarischen Darstellung und Poetik Ransmayrs – wenngleich für von Schilling die Aufschlüsselung nicht immer wesentlich ist.69 In der Sekundärliteratur wurde zwar – in diesem sowie weiteren zahlreichen Beiträgen – auf die Bedeutung und Sonderstellung der Metamorphose hingewiesen, doch schwerpunktmäßig im Zusammenhang mit dem viel beachteten Roman Die letzte Welt.

Die Bedeutung der Naturgesetzte wurde in der bisherigen Sekundärliteratur hingegen nur in Bezug auf einzelne Texte bemerkt, jedoch nicht eingehend am literarischen Gesamtwerk untersucht. Die werkübergreifende Bedeutung der Naturwissenschaft bei Ransmayr ist nicht erkannt worden. Für die vorliegende Studie ist diese Erkenntnis vor allem deshalb entscheidend, weil es nicht selten ←29 | 30→das Stil- und ‚Inhaltsmittel‘ der Metamorphose ist, die der Autor benutzt, um Realität und Fiktion ineinanderfließen zu lassen: Aus dem einen speist sich das andere. Die so als Basis eingebundene und immer wieder in all seinen Werken durchscheinende Naturwissenschaft beweist und bezeugt die grundlegende Aussage seiner fiktionalen Texte zum Weltbild der Menschheit in seinem Verhältnis zur alles umfassenden Natur. Bislang beschränken sich die wenigen Beiträge zu dieser Thematik auf die Benennung verschiedener naturwissenschaftlicher Theorien (vor allem Darwins Evolutionstheorie sowie das Gesetz der Entropie in der Thermodynamik), ohne deren Verhältnis zur Literatur herzustellen oder näher zu beleuchten.70 Allein Carsten Lange, der 2012 in einem Aufsatz Ransmayrs kurzen Essay Der Ungeborene untersucht, deutet das durchwegs vorhandene grundlegende Verhältnis von Wissenschaft und Poesie an, tut dies letztlich aber lediglich isoliert hinsichtlich dieses einen Textes und übersieht damit die Tragweite dieser Beobachtung. Lange erkennt ganz richtig in dem Künstlerporträt einen Dialog „zwischen ästhetischem und naturwissenschaftlichem ←30 | 31→Diskurs“.71 Ransmayr binde außerdem, so Lange weiter, auf sprachlicher Ebene „Fachtermini […] in eine hochgradig poetische Textgestaltung ein.“72

Im Folgenden wird eine Übersicht über den aktuellen Stand der Forschung gegeben, der die Analyseergebnisse zur Metamorphose in den Fokus nimmt. Die Sekundärliteratur wird zu den einzelnen Texten Ransmayrs (in Reihenfolge der Veröffentlichung) vorgestellt. Es werden jedoch aufgrund der Fülle an Beiträgen repräsentative Forschungsstimmen ausgewählt.

Strahlender Untergang. Ein Entwässerungsprojekt oder Die Entdeckung des Wesentlichen

Die Forschungsliteratur misst Ransmayrs erstem literarischen Text Strahlender Untergang, der 1982 erschienen ist und im Jahr 2000 neu aufgelegten wurde, große Bedeutung bei und wertet diesen als programmatische Schrift für sein Werk.73Die in der Erzählung geübte Zivilisations-, Aufklärungs- und Kapitalismuskritik ist dabei ein konstantes Thema in der Diskussion.74 Eine weitere Interpretationslinie folgt dem Beitrag von Franz Xaver Radits, der das Verschwinden des Helden als ein verbindendes Element im Werk Ransmayrs identifiziert.75 Die Auflösung von Figuren im Zusammenhang mit der Krise des Subjekts und der Frage nach Identität untersuchen mehrere Beiträge, wobei das Eingehen des Protagonisten in die Wüste als ein Prozess der Identitätsfindung gesehen wird.76 Lediglich Bernhard Fetz sieht, ebenso wie diese Arbeit, im Verschwinden auch das Ende des Prinzips von Leben beschrieben, das mit der Metamorphose als Metapher für den Fortgang der Naturgeschichte und Literatur verdeutlicht werde.77 In diesem Zusammenhang interpretiert Fetz das Meer oder die Wüste als das „Ende der verwandelnden Wiederholung“.78 Die vorliegende Studie wird ←31 | 32→jedoch aufzeigen, dass sich die Raumgestaltung weitaus komplexer darstellt, als es bei Fetz beschrieben ist.79

Die Schrecken des Eises und der Finsternis

In der Sekundärliteratur überwiegen Überlegungen zum Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit sowie zur besonderen Gestaltung der Erzählebenen im Roman, die durch eine intermediale Kompositionstechnik gekennzeichnet ist. Zudem spielt das von Fetz bereits aufgegriffene Thema Schreiben und die Fixierung von Wirklichkeit in vielen Beiträgen eine wichtige Rolle. Ulrich Scheck, der Fetz` Hinweis zur Metamorphose als Metapher für das Schreiben aufgreift, bringt den poetologischen Diskurs in Die Schrecken des Eises und der Finsternis mit Versteinerungs- und Verflüssigungsmetaphern in Zusammenhang und bezeichnet das Oszillieren zwischen diesen beiden, für ihn zentralen Zuständen zum Teil als Metamorphose.80 Im Gegensatz zu den Überlegungen dieser Arbeit ist für Scheck der Schreib- und Leseprozess bildlich in der Erstarrung des flüssigen Körpers gespiegelt.81 Die Metamorphose zwischen Flüssigem und Festen stelle außerdem eine Konfrontation des (flüssigen) Menschen mit der (festen) Natur dar.82 Auch wenn sich diese Studie diesem Urteil nicht anschließt, weil sie die Natur selbst als stetige Verwandlung begreift, ist die grundsätzliche Verknüpfung der Metamorphose mit dem poetologischen Diskurs, wie sie bei Scheck und Fetz zu finden ist, als wichtige Grundlage zu werten.

Anita Nikics liest den Erstlingsroman Die Schrecken des Eises und der Finsternis als thematische Parallele zu Die letzte Welt und interpretiert die „Geschichte ←32 | 33→Mazzinis und der Expedition […] [als] eine Verwandlungsgeschichte und […] Parabel der Vergänglichkeit.“83 Dagegen betont Anita McChesney, dass die „Koppelung von schriftlichen an mündliche und bildliche Formen […] den Reisen/Erzählungen […] tatsächlich fortlaufende dynamische Verwandlungen“84 ermöglicht, wodurch Ransmayrs Erzählprinzip in die Nähe von Intermedialität gerückt scheint. Eine eingehende Betrachtung der Metamorphose erfolgt in keinem dieser Beiträge.

Die letzte Welt

Die wissenschaftlichen Beiträge, die sich mit Die letzte Welt auseinandersetzen, beherrschen das Forschungsfeld. Dabei sind einige Kernpunkte in der Diskussion zu identifizieren, die mehrfach aufgegriffen werden. Der poetologische Diskurs, die Betrachtung des Romans im Kontext der Postmoderne, die Adaption beziehungsweise Variation von Mythos sowie die apokalyptische Endzeitthematik sind wiederkehrende Themen, mit denen sich viele Autoren beschäftigen. Die Metamorphose ist in diesem Zusammenhang ein zentraler Aspekt85 und wird ←33 | 34→in vielen Analysen mit den soeben genannten Themen in Verbindung gebracht. Dass die Metamorphose mehrere Ebenen anspricht und von tragender Bedeutung ist, unterstreicht auch – wenngleich nicht weiter exemplifiziert – Herwig Gottwald: „Politische, philosophische, ästhetische, psychologische und erotische Aspekte des Metamorphosen-Gedankens […] spielen bei Ransmayr eine große Rolle.“86

Ein annähernd einstimmiges Urteil zeichnet sich in der wissenschaftlichen Rezeption bei der Einschätzung des thematischen Schwerpunkts in Die letzte Welt ab, die schon von Ransmayr in seinem Entwurf zu einem Roman87 programmatisch angekündigt wurde: „Thema ist das Verschwinden und die Rekonstruktion von Literatur“.88 Die Ovid-Rezeption sowie der poetologische Diskurs, der bereits in Die Schrecken des Eises und der Finsternis in der Sekundärliteratur aufgegriffen ist,89 wird in Die letzte Welt methodisch von mehreren Seiten beleuchtet. Die Beiträge gehen etwa auf die intertextuelle Verflechtung der Autoren beziehungsweise Werke ein.90 Andere Stimmen beschäftigen sich mit der auf der ←34 | 35→Textebene thematisierten Poetik und analysieren die autoreflexive Inszenierung von Literatur oder die Bedeutung von Schrift und Kunst im Kontext der Postmoderne.91 Ransmayrs Poetik wird auch im Zusammenhang mit der Metamorphose ←35 | 36→gelesen. Die Adaption und Variation der Metamorphosen Ovids durch Ransmayr wird als eine Metamorphose des Ursprungstextes dargestellt.92 Friedmann Harzer, der seinen Beitrag als Ausdifferenzierung von Metamorphose-Phänomenen anlegt,93 vertritt die These, dass Ransmayr mithilfe der ovidischen Mythen medien- und darstellungstheoretische Fragen aufwerfe. Der neostrukturalistisch grundierte Roman greife laut Harzer Verwandlungsgeschichten „im Dienst einer impliziten Poetik“94 auf, welche „auf der Ebene der Geschichte die Grenze zwischen Text und Wirklichkeit“95 problematisiere. Die Figurentransformationen im Roman verwiesen etwa auf eine postmoderne Subjekt-Kritik96 oder einen ←36 | 37→Zusammenhang mit dem ,Tod des Autors‘.97 Auch diese Arbeit nimmt Ransmayrs Poetik und die damit verbundenen Reflexionen über Literatur in den Blick, legt den Schwerpunkt jedoch weniger auf eine Diskussion postmoderner Litertaturtheorie,98 als vielmehr auf die Poetik Ransmayrs. Daher wird sich an dem von Harzer entwickelten Metamorphose-Konzept sowie den daraus resultierenden Folgerungen nicht orientiert. Der poetologische Diskurs wird darüber hinaus in der vorliegenden Studie auf das gesamte Werk Ransmayrs ausgedehnt. Zwar sehen einige Beiträge in der Poetologie eine thematische Konstante, die die ersten drei Romane verbindet, dennoch wird kein zentraler Zusammenhang über die Metamorphose über Die letzte Welt hinaus angenommen.99

In der Diskussion, die mit der poetologischen Ebene zusammenhängt, wird der Roman zumeist in der Postmoderne verortet.100 Die Metamorphose ist dabei für Freddy Decreus ein „Schlüsselbegriff einer postmodernen Sensibilität“,101 der ←37 | 38→auf den für den Menschen zentralen Konflikt von Immanenz und Transzendenz hindeute. Die hier thematisierte Vergänglichkeit des Menschen gegenüber der beständigen Natur ist (wenngleich nicht zwingend in Zusammenhang mit der Postmoderne) in der Sekundärliteratur eine der wichtigsten Deutungslinien bezüglich der dargestellten Metamorphosen im Roman102 und findet auch in dieser Arbeit Fortsetzung. Auf die damit verbundene Zivilisations- und Vernunftkritik, die in einigen Beiträgen mit dem Endzeitbewusstsein der 1980er-Jahre in Zusammenhang gebracht wird,103 verweisen bereits zu Beginn der literaturwissenschaftlichen Betrachtung Kurt Bartsch und Reingard Nethersole.104 Viele Beiträge betrachten hierbei auch die philosophischen Implikationen und interpretieren das Kritikpotential in Ransmayrs Ovid-Rezeption vor dem Hintergrund unterschiedlicher Mythos-Theorien des 20. Jahrhunderts. Zu erwähnen sind hier naturgemäß Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Ansätze.105

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Die grundsätzliche Verbindung philosophischer Texte mit Ransmayrs Werk ist in vielen Beiträgen präsent und wohl auf das Philosophiestudium des Autors zurückzuführen, das ihm den Ruf eines ‚poeta doctus‘ eingebracht hat. Dazu gehört auch der Erhabenheitsdiskurs Immanuel Kants und Jean-François Lyotards106 sowie die poetologischen Reflexionen Elias Canettis,107 die in der Sekundärliteratur wie in der vorliegenden Arbeit Beachtung finden, obwohl sie nur am Rande der Metamorphose-Deutung entscheidende Nuancen beizusteuern vermögen.

Die mit der Metamorphose eng verknüpfte Frage nach der Subjekt- beziehungsweise Identitätskonzeption stellt in der Forschung einen weiteren Schwerpunkt dar und wird in vielen Beiträgen mit dem Postmoderne-Diskurs verknüpft. Es lassen sich, wie bereits im Kontext des poetologischen Diskurses erwähnt, zwei entgegensetzte Positionen in der Diskussion ausmachen, die die Verwandlung der Figuren in dem Roman beleuchten: Eine Gruppe konstatiert die Herstellung von Identität durch die Auflösung des Subjekts,108 in anderen Beiträgen ←39 | 40→wird der unwiederbringliche Identitätsverlust betont, der durch die körperliche Transformation entstehe.109 Isolde Schiffermüller betrachtet beide Seiten und sieht in der Figur Cotta „die Demontage des Subjekts der Vernunft“110 vorgeführt.111 Die Ich-Identität werde laut Schiffermüller zwar aufgebrochen, jedoch halte der menschliche Versuch, den Dingen Bedeutung zu geben, durchaus die Möglichkeit offen, den durch die Metamorphose dargestellten Rückfall an die Natur als „Erlösung vom Schmerz und Wahnsinn“112 zu begreifen. Dagegen interpretiert Levan Tsagareli, der die Dekonstruktion der Figuren in Die letzte Welt untersucht und den Versuch einer Typologie unternimmt, die Verwandlung der Figuren als Offenlegung ihres „eigentliche[n] Wesen[s] […] als Textkonstrukte“.113 Die Identität wäre laut Tsagareli dementsprechend keine mythische, sondern eine literarische. Die Auflösung oder Herstellung von Identität wird, wie die hier repräsentativ dargestellten Beiträge zeigen, mit unterschiedlichen Themen verbunden, wie die Endlichkeit des Menschen (Endzeitvisionen, Postmoderne-Diskurs, Aufklärungskritik) oder der literarischen Beschaffenheit des Textes und der Mythos-Variation (Poetologie, Mythos-Rezeption). Auch in dieser Arbeit wird die Herstellung von Identität im Verwandlungsvorgang vermutet, wenngleich, was zu zeigen sein wird, die ,thematischen Vorzeichen‘ der Metamorphose doch anders zu definieren sind: Werden die Metamorphosen in den meisten Beiträgen als Variation von Mythologie oder literarisches Konstrukt betrachtet, unterstreicht Florian Grimm einen immanent-natürlichen Hintergrund der (Figuren-)Metamorphosen, der eine naturhistorische ←40 | 41→Sicht vermittle.114 Auch wenn Grimm seine knapp gehaltene Ausführung als eine „Erklärungsmöglichkeit“115neben weiteren Geschichtsauffassungen darstellt und auf den Roman Die letzte Welt beschränkt, stellt die von ihm aufgestellt These den entscheidenden Impuls für diese Arbeit dar, vor dessen Hintergrund auch die Stellung des Subjekts und Identitätskonzeptionen erläutert wird. Eine weitere Deutung der Metamorphose bietet die Arbeit Angelika Freys, die das Romangeschehen als eine historische Inversion im Sinne Bachtins beschreibt.116 Für sie biete jedoch – von Bachtins Theorie abweichend – die mit der Vergangenheit verwobene Gegenwart in Die letzte Welt keine positive Zukunftsversion. Die Metamorphose interpretiert Frey in diesem Zusammenhang als Rettung „vor der stets drohenden Vergänglichkeit“, die „allem Lebendigen innewohnt und hin zu Verfall und schließlich Tod führt“.117 Obwohl für Frey Grimms „naturwissenschaftlichen Lesart des Geschehens“118 nachvollziehbar sei,119 grenzt sie sich von dieser Deutung ab und verfolgt so einen völlig anderen Ansatz als diese Studie.120

In der Gesamtheit der registrierten Themenschwerpunkte hinsichtlich der bislang geleisteten Metamorphose-Deutung ergibt sich ein sehr ungleichmäßiger Eindruck. Viele Ansätze und Verknüpfungspunkte werden zwar aufgeworfen, jedoch nicht im Großen und Ganzen komplett betrachtet. Ein Überblick wird zudem durch heterogene Terminologie und Kategorisierung der Metamorphosen in Die letzte Welt erschwert.121 Ein Konsens bezüglich der Zuteilungskriterien ←41 | 42→oder Klassifizierung ist nicht ableitbar. Diese Studie orientiert ihre Analyse daher am neuesten Stand der Forschung zum interdisziplinären Fachgebiet der Metamorphose, bezieht die Ergebnisse der Beiträge zu Die letzte Welt ein und wird in der analytischen Arbeit auf die einzelnen Aspekte verweisen. Insbesondere der poetologische Diskurs, die Aufklärungs- und Zivilisationskritik sowie die naturhistorische Perspektive stellen Deutungslinien dar, die hier weiter verfolgen wird. Mit dem Interesse, die Entwicklung und Kohärenz in der Metamorphose-Darstellung im literarischen Werk aufzuzeigen und dabei methodisch sowohl stoffliche wie formale Aspekte122 einzubeziehen, stellt das vorliegende Projekt ein Novum dar.

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Morbus Kitahara

Der Schwerpunkt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu Morbus Kitahara liegt in der Aufarbeitung von Ransmayrs Geschichtsauffassung und -darstellung, die im Zusammenhang mit der deutsch-österreichischen Vergangenheit diskutiert wird. Hierbei stellen die Gestaltung einer ,Alternative History‘, die den Roman „dem Bereich kontrafaktisch-fiktionaler Texte“123 zuordnet,124 sowie die Analyse von kollektiver Identität und Schuld vor den Hintergrund einer „unvergänglichen Vergangenheit“125 wichtige Aspekte in der Forschung dar. Die Metamorphose ist dagegen ein Randthema in der Sekundärliteratur, das in nur wenigen Beiträgen Eingang gefunden hat.

Der in dem Roman konstruierten topografischen Peripherie wird in Anschluss an den Bestseller Die letzte Welt beispielsweise eine „Neigung zu […] Metamorphosen“126 zugesprochen oder die Figuren vermitteln wenigstens den „Eindruck einer Metamorphose“,127 wenngleich das Geschehen nicht mit den Begebenheiten des Vorgängerromans gleichzusetzen ist. Dagegen betont Christine Abbt einen wirklichen Verwandlungsvorgang, der eine vorläufige Rettung der Figuren verspricht, indem die Autorin die Metamorphose Berings in einen Vogel „als Atempause“128 interpretiert. Laut Abbt biete die Verwandlung ein „erholsames ←43 | 44→Hinauszögern der Fortsetzung des Grauens“129 und sei dementsprechend als Erleichterung zu begreifen.130 Auch wenn Abbt wichtige Aspekte aufgreift und die „Empfindsamkeit“131 nachvollziehbar als Bedingung für die Metamorphose beschreibt, stellt in der vorliegenden Arbeit die Verwandlung Berings in einem Vogel weniger eine Pause vor der menschlichen Rohheit dar, sondern vielmehr den Verlust einer ursprünglichen Naturverbundenheit, die erst in einem zweiten Schritt zu einem Zufluchtsort für die Figur wird. Die von Abbt in den Mittelpunkt gerückte Verbindung von Angst und Verwandlung spielt daher in dieser Studie keine Rolle.

Einige Beiträge heben den zuvor in Die letzte Welt identifizierten Wandel als eingeschriebenes Prinzip von Wiederholung und Wiederkehr hervor. Auch wird die Montage von Fiktion in Wirklichkeit als thematische Fortsetzung des bisherigen Werks Ransmayrs gewertet. Markus Oliver Spitz sieht – ebenso wie diese Arbeit – das Anheimfallen menschlicher Werke an die Natur in Morbus Kitahara als eine Parallele zu den Metamorphosen in Die letzte Welt.132 Auch Attila Bombitz identifiziert die Metamorphose als „poetisches Modell“,133 das durch die Darstellung eines Kreislaufes das Gefangensein des menschlichen Daseins betone.134 Bombitz interpretiert die Figuren in Morbus Kitahara auch im Kontext der Onomastik. Beispielsweise verursache die Verwandlung Lilys in eine Jägerin „größte Spannung“,135 da ihr Name an die Unberührtheit der Lilie erinnere und im Kontrast zu der Jägerin stehe. Diesem Interpretationsweg schließt sich diese Arbeit nicht an.

Der Weg nach Surabaya

Die Prosasammlung Der Weg nach Surabaya136 fasst journalistische und literarische Arbeiten Ransmayrs in einem Band zusammen. In der Forschung wird vor allem auf den besonderen literarischen Stil der Reiseberichte und Reportagen hingewiesen, die mit einem „wachen Blick für die Gegenwart und einer ←44 | 45→seltenen sprachlichen Perfektion“137 bestechen würden. Mosebach hebt – ebenso wie diese Arbeit – die poetologische Bedeutung der Reden Fatehpur. Oder die Siegerstadt und Schnee auf Zuurberg. Lektüre in Afrika hervor, die die „Übertragung der Wirklichkeit in eine narrative Form“138 thematisierten.139 Von Schilling interpretiert die Verwandlung in Der Weg nach Surabaya. Protokoll einer Lastwagenfahrt als „eine sprachlose Verständigung“,140 die aus der Sprachlosigkeit führe. Sabine Wilke sieht einen thematischen Zusammenhang zwischen dem Prosastück Przemysl und dem Roman Die Schrecken des Eises und der Finsternis, da beide Texte „die prekäre Qualität des goldenen Zeitalters“141 durchspielten.142

Die dritte Luft oder Eine Bühne am Meer

Die Forschung hebt die Rede Die dritte Luft als wichtigen Text für das Verständnis der Poetik Ransmayrs hervor. Petra Gropp sieht Die dritte Luft als erste ,Spielform des Erzählens‘, die „[d]as Faszinosum der Metamorphose von Welt und Sprache […] am Beginn dieses literarischen Projektes“143 zeigt. Mosebach identifiziert die Mimesis-Prinzipien als grundlegende Norm, an der sich das Schreiben des österreichischen Autors ausrichtet. Laut Mosebach werde so die Realität zur „Stichwortgeberin“144 für die Kunst. Im Gegensatz dazu unterstreicht Rainer Godel, dass die Erzählung von Geschichten bei Ransmayr eben keinem mimetischen Grundsatz folge. Vielmehr werde die faktische Vergangenheit für die Gegenwart neu konstruiert, sodass eine Erzählung „wie im Mythos […] die jeweilige Aktualisierung von Erinnerung zum Gegenstand“145 habe. Ein anderer ←45 | 46→Bestandteil der Poetik Ransmayrs wird von Daniela Lander beleuchtet, die im Kontext der Postmoderne-Diskussion den Einfluss des mündlichen Erzählens in Die letzte Welt untersucht. Dabei bezieht sie in einem kurzen Abschnitt ihres Beitrags Die dritte Luft, Die Verbeugung des Riesen146 sowie Geständnisse eines Touristen147 mit ein und verweist auf den besonderen Stellenwerkt ,mündlicher‘ Sprache in den Texten Ransmayrs.148 Auch von Schilling sieht in Die dritte Luft poetologische Intentionen des Autors149 verfolgt. Dabei spielt die Metamorphose für von Schilling eine besondere Rolle, da sie den „Transfer eines Vorgestellten ins Sinnliche“150 verdeutliche und in diesem Kontext „ein Bild von der Welt [gestatte], das sich von der planen Wirklichkeit löst.“151 Von Schilling untersucht diesen Aspekt der Metamorphose auch in Die Unsichtbare sowie in Der Weg nach Surabaya. Die vorliegende Arbeit begreift ebenso wie von Schilling die Metamorphose als einen Teil der Poetik Ransmayrs und beleuchtet auch Reflexion von Rezeption im Verwandlungsmotiv. Während jedoch von Schilling den „Akt der Versenkung und der Verschmelzung mit dem Text […] als mystisch“152 bei Ransmayr interpretiert und die Wichtigkeit des sinnlichen Elements betont,153 kann sich diese Studie diesem Fazit nicht anschließen, da – insbesondere wenn man das literarische Werk betrachtet – die naturwissenschaftlichen Implikationen der Metamorphose sowie deren Rolle für die Verwandlung in deren Gesamtkonzeption (einschließlich der Poetik) außer Acht gelassen beziehungsweise in einem völlig anderen Kontext interpretiert werden.

Details

Seiten
366
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631817674
ISBN (ePUB)
9783631817681
ISBN (MOBI)
9783631817698
ISBN (Hardcover)
9783631801130
DOI
10.3726/b16780
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (November)
Schlagworte
Mythos Mythologie Verwandlung Naturwissenschaft Gestaltwandel Chronotopos
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 366 S.

Biographische Angaben

Sabina Zieglgänsberger (Autor:in)

Sabina Zieglgänsberger legte an der Universität Regensburg die Erste Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien in den Fächern Deutsch, Geographie, Philosophie/Ethik, Sozialkunde sowie an der Ludwig-Maximilians-Universität München Deutsch als Zweitsprache ab. Sie absolvierte die Zusatzausbildungen Deutsch als Fremdsprache sowie Internationale rhetorische Kompetenz. Ihre Promotion erfolgte im Anschluss an ihr Studium an der Universität Regensburg im Fach Deutsche Philologie.

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Titel: Die Welt plausibel erzählen
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