Lade Inhalt...

Schwedische Einwanderer zwischen Akkulturationsprozess und "cultural maintenance" in Seattle/Washington State, 1885−1940

von Katrin Leineweber (Autor:in)
©2021 Dissertation 466 Seiten
Reihe: Kieler Werkstücke, Band 6

Zusammenfassung

Schwede, Amerikaner oder Schwedisch-Amerikaner? Diese Frage stellten sich viele schwedische Einwanderer in Bezug auf ihre kulturelle Identität in Seattle/Washington State ab 1890. Die Autorin befasst sich zum einen mit den Konflikten und Problemen schwedischer Einwanderer im Zuge ihres Akkulturationsprozesses. Zum anderen richtet sie ihren Blick auf die Versuche der Einwanderer, ihre schwedische kulturelle Identität im Schmelztiegel der amerikanischen Gesellschaft zu bewahren (cultural maintenance). Außerdem zeigt sie anhand von Fallbeispielen auf, wie die schwedische Gemeinde sich und ihr kulturelles Erbe ihren amerikanischen Mitmenschen präsentierte.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 1.1 Einführung in das Thema, Rahmen und Fragestellung
  • 1.1.1 Der zeitliche Rahmen
  • 1.1.2 Aufbau der Arbeit
  • 1.2 Akkulturation und cultural maintenance
  • 1.3 Definitionen der zentralen Begriffe
  • 1.4 Quellenlage
  • 1.5 Forschungsstand
  • 2 Schweden zur Zeit der großen Auswanderung
  • 2.1 Schweden und die Zeit vor der Massenauswanderung
  • 2.2 Die Zeit der Massenauswanderung und ihre Gründe
  • 2.3 Die schwedische Massenauswanderung – Eine Zusammenfassung in Zahlen und Fakten
  • 3 Der Staat Washington und seine Geschichte
  • 3.1 Der unbekannte Pazifische Nordwesten – Eine geographische Definition
  • 3.2 Geschichte bis zur Entstehung des Oregon-Territoriums 1848
  • 3.3 Washington auf dem Weg zum US-Bundesstaat (1848-1889)
  • 4 Seattle – Aufstieg einer kleinen Siedlung zur blühenden Metropole am Puget Sound
  • 4.1 Vom Alki Point an die Elliott Bay – Seattles Gründung und die ersten Jahre (1851-1860)
  • 4.2 Seattles Aufstieg zur Großstadt bis zum Großen Feuer 1889
  • 4.3 Das große Feuer vom 6. Juni 1889 und seine Folgen
  • 4.4 Seattle 1890 bis 1920
  • 5 Die Pionier-Zeit in Washington State
  • 5.1 Der Weg der schwedischen Pioniere und frühen Einwanderer in den Pazifischen Nordwesten
  • 5.2 Die schwedischen und skandinavischen Pioniere in Washington
  • 6 Schwede, Amerikaner oder Schwedisch-Amerikaner? Die Schwierigkeiten der Identitätsfindung in den USA
  • 6.1 Die Debatte um eine mögliche Bewahrung der schwedischen kulturellen Identität in den USA
  • 6.1.1 Von 1850 bis zum Ersten Weltkrieg
  • 6.1.2 Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bis Ende der 1930er Jahre
  • 6.2 Die Sprache und ihre Bedeutung für eine kulturelle Identität
  • 6.2.1 Das Sprachenproblem zur Zeit der Masseneinwanderung ab 1860
  • 6.2.2 Die zweite Generation und ihr Verhältnis zur schwedischen Sprache
  • 6.2.3 Schwedisch-amerikanische Institutionen und Vereine in Seattle und ihre Bedeutung für den Erhalt der schwedischen Sprache
  • 6.2.4 Die Debatte über den Erhalt der schwedischen Sprache und der Zweisprachigkeit in Seattle
  • 7 Die vier Säulen des Schwedisch-Amerikanismus – Kirche, Presse, Institutionen und Vereine sowie Gesang als Träger der schwedischen Kultur in Amerika und deren Ausprägung in Seattle
  • 7.1 Die schwedisch-amerikanischen Kirchen und die schwedischsprachige Presse als Kulturträger
  • 7.2 Die nicht-kirchlichen Institutionen und Vereine und das damit verbundene schwedische kulturelle, soziale und institutionelle Element sowie dessen Ausprägung
  • 7.2.1 Institutionen und Vereine mit sozialem Charakter
  • 7.2.1.1 Seattles Institutionen und Vereine mit sozialem Charakter
  • 7.2.1.2 Das Swedish Hospital – Ein soziales Projekt und Zeichen der Dankbarkeit
  • 7.2.2 Die Ausprägung des schwedischen kulturellen Erbes in den USA
  • 7.2.3 Institutionen und Vereine mit kulturellem Charakter
  • 7.2.4 Schwedische Colleges und Universitäten als Institutionen für den Erhalt der eigenen Sprache und Kultur in den USA
  • 7.2.4.1 Das Scandinavian Department der University of Washington/Seattle – Seine Anfangsjahre und Verdienste zur Bewahrung der schwedischen Kultur
  • 7.2.4.2 Das Scandinavian Department unter der Leitung von Edwin John Vickner
  • 7.3 Die Bedeutung der schwedischen Volksmusik
  • 8 Anlässe und Feierlichkeiten zur Repräsentation des schwedischen kulturellen Erbes
  • 8.1 Die Alaska-Yukon-Pacific Exposition von 1909
  • 8.1.1 Kurze Geschichte der Alaska-Yukon-Pacific Exposition
  • 8.1.2 Die Schweden und die Expo
  • 8.1.2.1 The Swedish Building
  • 8.1.2.2 The Swedish Day am 31. Juli 1909
  • 8.2 Die 300-Jahrfeier der ersten schwedischen Siedlung in Amerika 1938
  • 8.2.1 Die offiziellen Feierlichkeiten zum 300-jährigen Jubiläum
  • 8.2.2 Die Teilnahme der schwedischen Gemeinde in Seattle an der 300-Jahrfeier
  • 8.2.2.1 Feste und Veranstaltungen im Vorfeld der 300-Jahrfeier in Seattle
  • 8.2.2.2 Die Feierlichkeiten am 9. und 10. Juli 1938 in Seattle
  • 8.2.3 Das STASV und die Zeit nach dem Jubiläum
  • 9 Schlussbetrachtung und Deutung der Ergebnisse
  • Quellen- und Literaturverzeichnis:
  • Ungedruckte Quellen
  • Gedruckte Quellen
  • Zeitungen
  • Sekundärliteratur
  • Internet-Quellen
  • Anhang 1: „Vi äro Immigranter“ von David Nyvall
  • Anhang 2: Schwedischsprachige Zeitungen in Seattle und ihre Entwicklung
  • Anhang 3: Grenzentwicklung vom Oregon Territorium zum Washington State
  • Anhang 4: Pioniere und frühen Siedler in Washington
  • Anhang 5: Insurance man draws topographical map.
  • Anhang 6: I Språkfrågan!
  • Anhang 7: Kulturelle und soziale Organisationen und Institution in Seattle inklusive der schwedischen Kirchen
  • Anhang 8: Mitglieder der Svenska utställningsförening
  • Anhang 9: Auszug aus Tobias Sandegrens „Sju timmar på utställningen. “
  • Anhang 10: Program of Special Days, Definitely Decided May 1, 1909
  • Anhang 11: Mitgliederorganisationen und Delegierte der STASV
  • Anhang 12: Delegates
  • Anhang 13: Dritte Liste der Delegierten
  • KIELER WERKSTÜCKE

←14 | 15→

1Einleitung

1.1Einführung in das Thema, Rahmen und Fragestellung

„Vi äro Immigranter. Det vill med andra ord säga, att vi icke äro nomader. [...] Immigranten flyttar. [...] Han upprycker sina rötter ur hemlandets jord, och med rötterna följer alltid något af hemlandets jord. Han omplanterar sina rötter i en ny jordmån.“1

Mit diesen Worten beschrieb David Nyvall,2 selbst ein schwedischer Immigrant, 1910 in einer Ausgabe von The Swedish Pacific Press3 die Unterschiede zwischen Immigranten4 und Nomaden. Im Gegensatz zu den Nomaden, die stets umherzögen und ihre kulturelle Identität mit sich trügen, würden die Immigranten auswandern und meist für immer ihr Vaterland verlassen, um sich in der Fremde eine neue Heimat aufzubauen. Im Zuge dessen, so Nyvall, löse der Immigrant dabei all seine Wurzeln in der alten Heimat und ←15 | 16→„verpflanze“ sich selbst in eine neue Umgebung respektive Kultur. Jedoch blieben bei diesem Umzug stets Teile der alten kulturellen Identität bestehen – metaphorisch hängt sozusagen noch alte Erde an den Wurzeln – sodass zwangsläufig in der neuen Heimat etwas Anderes beziehungsweise Neues entstehen müsse. Hinzu kommt laut Nyvall, dass ein Immigrant eine Vergangenheit besitze, die er nicht ablegen könne und die ihn Zeit seines Lebens bewusst oder unbewusst beeinflusse, ob er es wolle oder nicht.

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit eben solch einer Verpflanzung einer bestehenden kulturellen Identität in einen neuen, fremden Kulturkreis und den damit verbundenen Problemen. Sie richtet ihren Blick auf die Gruppe der schwedischen Einwanderer in Seattle/Washington State und deren Akkulturationsprozess in einer neuen, sich schnell und stetig verändernden „amerikanischen“ Gesellschaft zwischen 1885 und 1940.

Während vor allem der Mittlere Westen und die amerikanischen Agrargebiete im Allgemeinen sowie einige Großstädte, allen voran Chicago, bereits sehr ausgiebig zu den unterschiedlichsten Themengebieten erforscht worden sind, hat Seattle bislang im Vergleich wenig Aufmerksamkeit erfahren. Dabei bietet diese Stadt im Pazifischen Nordwesten der Forschung viel Potential. Zum einen, da Seattle erst 1850, also zu einem Zeitpunkt, an dem die meisten Teile der USA bereits dicht besiedelt waren, gegründet wurde. Hierdurch entstand erneut eine Grenzsituation. Zum anderen hatten viele schwedische Einwanderer, welche sich in der Stadt niederließen, schon einige Jahre in den USA gelebt und waren vermutlich in gewisser Weise bereits zu Teilen akkulturiert.

Während sich auf der einen Seite die schwedischen Einwanderer an die neue (Lebens-)Situation anpassen mussten und versuchten, als „Amerikaner“5 wahrgenommen und akzeptiert zu werden, veränderte sich zeitgleich die „amerikanische“ Gesellschaft im Zuge der Masseneinwanderung enorm. Hierdurch wurde es auch zunehmend schwerer, einen „richtigen Amerikaner“ zu identifizieren. Durch den zeitgleich fortschreitenden Akkulturationsprozess sah ein Teil der schwedischen Einwanderer seine kulturelle schwedische Identität gefährdet und versuchte auf unterschiedliche Weise dieses Erbe wenigstens teilweise in seiner neuen Heimat zu erhalten.

Jorgen Dahlie befasst sich in seiner Dissertation „A social history of Scandinavian Immigration, Washington State, 1895-1910“6 von 1967 teilweise ←16 | 17→mit dem Thema der „Amerikanisierung“ skandinavischer Einwanderer in Seattle. Er stellt dabei die These auf, dass die Skandinavier in einigen Bereichen schon vor ihrer Ankunft in den USA „Amerikaner“ waren und sich deshalb ungewöhnlich schnell hätten assimilieren können.7 Er führt dies darauf zurück, dass sie die drei wichtigsten Merkmale ihrer neuen Heimat – Demokratie, Freiheit und Individualismus – bereits aus Skandinavien kannten und verinnerlicht hätten.8 Andererseits beziehen sich diese drei Merkmale nicht auf die Kultur und Sprache der Einwanderer, weshalb sich Dahlie kurz den skandinavisch-sprachigen Zeitungen widmet, die er als Hauptträger der schwedischen Kultur ansieht. Seiner Ansicht nach hätten diese die skandinavischen Einwanderer in Washington State dazu angehalten, nach dem Motto „Preserve your identity in order to become better Americans!“9 zu leben. Allerdings bearbeitet Dahlie nur einen sehr kurzen Zeitraum und richtet seinen Blick auf den gesamten Bundesstaat sowie alle drei skandinavischen Nationen. Dies führt dazu, dass seine Ausführungen nur sehr oberflächlich sind und eine Menge Fragen offen bleiben.

Daher müssen seine Aussagen hier differenziert und ergänzt werden, was zu folgenden Fragen führt: Wie gestaltete sich der Prozess der Akkulturation und wie beeinflusste der Erste Weltkrieg diesen? Inwieweit spielte die Bewahrung der kulturellen Identität (cultural maintenance) eine Rolle? Wie prägte sich die kulturelle Identität aus? Welche Teile der schwedischen Kultur wurden übernommen und wie augenscheinlich authentisch waren sie? Handelte es sich bei der kulturellen Identität der schwedischen Einwanderer um ein Konstrukt? Wie stark war gleichzeitig der Wunsch, als „Amerikaner“ wahrgenommen zu werden?

←17 | 18→

1.1.1Der zeitliche Rahmen

Als zeitlicher Rahmen dieser Untersuchung wurden die Jahre 1885 bis 1939 gewählt. Damit stellt die Dissertation die traditionelle Lehrmeinung in Frage, wonach es vor 1890 keine nennenswerte Gruppe von schwedischen Einwanderern im Pazifischen Nordwesten gegeben habe. Zwar hätten wenige Pioniere und frühe Siedler sich in Washington State aufgehalten, aber erst nach dem Großen Feuer von 1889 und dem Goldrausch in Alaska habe sich dort eine nennenswerte Gruppe niedergelassen.10

Demgegenüber lässt sich feststellen, dass es bereits einige Jahre zuvor, nämlich 1882, zur Gründung einer skandinavischen Kirche in Seattle gekommen ist. Nur drei Jahre später errichteten die schwedischen Einwanderer ihre erste eigene Kirche.11 Diese Tatsache legt die Vermutung nahe, dass sich um 1880 und somit zehn Jahre früher als angenommen, die Gruppe der schwedischen Einwanderer zwar noch nicht vom Rest der Skandinavier in Washington State hatte abgrenzen können, sich aber innerhalb von nur wenigen Jahren genügend Schweden dort niederließen, um eigene Institutionen zu gründen. Zeitgleich deutet dies auf eine Emanzipation und Abgrenzung zu den anderen skandinavischen Einwanderern hin. Eine weitere Tatsache spricht auch dafür, dass es bereits vor 1890 eine größere, nennenswerte Anzahl schwedischer Einwanderer in der Stadt und ihrer Umgebung gegeben haben muss. Die Herausgabe einer schwedischsprachigen Zeitung ergab erst Sinn, wenn genügend Abonnenten/Leser vorhanden waren. Dies schienen die Redakteure von Westra Posten anzunehmen, als sie am 15. März 1889 die erste Ausgabe einer schwedischsprachigen Wochenzeitung in Seattle druckten.12

Das Ende des Untersuchungszeitraumes stellt das Jahr 1939 dar. Hauptsächlich hängt dies mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zusammen, der erneut sehr große Veränderungen mit sich brachte und die schwedischen Einwanderer vor neue Herausforderungen stellte. Zum anderen gingen die schwedischen Einwandererzahlen ab diesem Zeitpunkt enorm zurück, wodurch eine Art „avsvenskning“13 zu verzeichnen war. Außerdem kam es innerhalb der „amerikanischen“ Gesellschaft zu einem Umbruch, bei dem ←18 | 19→Schlagrufe wie „Amerika den Amerikaner“ laut wurden. Somit würde die Zeit nach 1939 eine eigenständige Untersuchung rechtfertigen.

1.1.2Aufbau der Arbeit

In der vorliegenden Arbeit werden die oben angeführten Fragen bezüglich der Akkulturation der schwedischen Einwanderer in Seattle auf Grundlage der zur Verfügung stehenden Quellen – Zeitungsartikel, Ego-Dokumente und Materialien unterschiedlicher schwedisch-amerikanischer Organisationen – untersucht.14 Zunächst wird ein allgemeiner Überblick über die schwedische Auswanderung und die Geschichte des Pazifischen Nordwestens im Allgemeinen sowie Seattles im Speziellen gegeben. Danach rückt die schwedische Gemeinde in Seattle in den Fokus. Daher gliedert sich die Arbeit in drei Teile.

Der erste, einleitende Teil legt zunächst in Kapitel 2 die schwedische Auswanderung in die USA kurz dar. Dies wird als notwendig erachtet, um zu verdeutlichen, welche Rolle sie in der schwedischen, aber auch in der amerikanischen Geschichte ab dem 16. Jahrhundert gespielt hat. Weiter erscheint es sinnvoll, den Pazifischen Nordwesten, der bis Ende des 19. Jahrhunderts auch den meisten „Amerikanern“ relativ unbekannt war, im dritten Kapitel zu definieren und die Entwicklung des Gebietes hin zum US-Bundesstaat kurz wiederzugeben.

In Kapitel 4 richtet sich der Blick dann auf die Geschichte und Entwicklung Seattles, bevor sich das fünfte Kapitel den schwedischen beziehungsweise skandinavischen Pionieren und ersten Siedlern allgemein widmet. Im Hinblick auf die schwedischen Pioniere bezieht sich die Arbeit hauptsächlich auf ihre Beweggründe, sich im äußersten Nordwesten der USA niederzulassen sowie auf ihre Verdienste beim Aufbau und der Entwicklung dieses Bundesstaates.

Der zweite Teil thematisiert zwei große Kernfragen. Zum einem befasst sich das Kapitel 6 damit, wie sich die schwedischen Einwanderer selbst wahrgenommen haben und ob sie sich als „Amerikaner“, Schweden oder Schwedisch-Amerikaner sahen. Dieser Konflikt spiegelte sich sehr deutlich in der auch in Seattle öffentlich ausgetragenen Sprachdebatte wider, die in diesem Teil der Arbeit eine zentrale Stellung einnimmt.

Zum anderen beschäftigt sich das siebte Kapitel mit den vier Säulen (Kirche, Presse, Institutionen und Vereine sowie Gesang) des zuvor zu definierenden Schwedisch-Amerikanismus und der Ausprägung der schwedischen Kultur in Amerika allgemein beziehungsweise speziell in Seattle. Anhand von ausgesuchten Beispielen wird analysiert, welche Teile der schwedischen Kultur für die schwedischen Einwanderer als erhaltenswert galten, wie und ←19 | 20→mit welchen Mitteln diese versuchten, ihr kulturelles Erbe zu bewahren, wie dieses generell aussah und wie augenscheinlich authentisch es war.

Anhand von zwei repräsentativen Fallbeispielen aus den Jahren 1909 und 1938 wird im dritten Teil der Arbeit herausgearbeitet, wie sich die schwedische Gemeinde in Seattle mit Hilfe von Ausstellungen und Veranstaltungen sowohl als Schweden als auch als „Amerikaner“ ihren Mitmenschen präsentierte. Die Fallbeispiele in Kapitel 8 dienen ferner dazu aufzuzeigen, auf welche Weise das schwedische kulturelle Erbe im Pazifischen Nordwesten gelebt wurde und welchen Stellenwert es innerhalb der schwedischen Gemeinde innehatte. Auch wird die Frage analysiert, ob und inwieweit der Erste Weltkrieg Auswirkungen auf das Ausleben der schwedischen Kultur in diesem Teil der USA gehabt hat.

Auf der Grundlage der bisherigen Betrachtungen werden abschließend die Ergebnisse in Kapitel 9 dargestellt und bewertet, um die eingangs gestellten Fragen abschließend beantworten zu können.

1.2Akkulturation und cultural maintenance

Die zentralen Themen der vorliegenden Arbeit sind der Akkulturationsprozess und der Wunsch schwedischer Einwanderer in Seattle nach cultural maintenance. Wird jedoch ein Blick auf die bisher vorhandene Literatur geworfen, fällt auf, dass meistens von Assimilation der Einwanderer gesprochen wird.15 Mit dieser Wortwahl bricht die vorliegende Arbeit aus unterschiedlichen Gründen:

Einerseits bedeutet Assimilation die völlige Identifikation einer Minderheitengruppe mit der Kultur einer dominanten Mehrheit.16 Dies sieht zudem vor, dass jeder Einzelne der Minderheit eine neue Identität und Loyalität annimmt, was über die externe und interne Akkulturation hinausgeht und zum kompletten Verlust der Minderheitenkultur führt.

←20 | 21→Andererseits besteht laut Han die Tatsache, dass sich nur Einzelpersonen assimilieren können und es innerhalb einer Minderheitengruppe stets das Bestreben gibt, wenigstens Teile der ethnischen Traditionen und der Kultur zu pflegen und aufrechtzuerhalten.17 Es wird immer mindestens eine Person geben, die auf irgendeinen Teil der alten Kultur nicht verzichten kann und will.

Somit stellt Assimilation einen Prozess der völligen Vernichtung einer Minderheitenkultur in einem neuen Kulturkreis dar, wohingegen Akkulturation einen allmählichen (Langzeit-)Prozess der Einführung der Minderheit in die Kultur der dominanten Mehrheit bedeutet.18 Dieser Prozess einer Überleitung der Minderheit in die allgemeinen Wertvorstellungen und Symbolwerte mit der gleichzeitigen Möglichkeit, Teile der eigenen kulturellen Identität zu bewahren, erscheint daher für die vorliegende Arbeit passender.

Akkulturation kann dabei laut Han auf zwei Ebenen stattfinden: Zum einen gibt es die externe Akkulturation.19 Diese bezieht sich auf die äußere Verhaltensebene und hat die Übernahme von für die dominante Kultur typischen Verhaltensweisen und Umgangsformen zur Folge. Hinzu kommt, dass die Alltagssprache erlernt wird und sich die Mitglieder der Minderheit mit der materiellen Kultur der aufnehmenden Gesellschaft vertraut machen. Somit findet der Akkulturationsprozess nur auf der Verhaltensebene statt und im privaten Lebensbereich kann die ethnische Orientierung erhalten bleiben, wenn dies gewünscht ist. Zum anderen kann eine innere Akkulturation eintreten.20 Hierbei werden Wertvorstellungen übernommen, sodass für die dominierende Kultur typische Handlungen und Verhältnisse nahezu selbstverständlich werden.21

Zudem findet Akkulturation sowohl auf Gruppen-als auch auf individueller Ebene statt, wobei sie zu unterschiedlichen Ergebnissen führen und von unterschiedlicher Dauer sein kann.22 Während die Akkulturation bei einer ←21 | 22→Gruppe strukturelle Veränderungen beispielsweise kultureller, politischer oder ökonomischer Art bewirkt, kann sie bei einem Individuum Auswirkungen auf Selbstwahrnehmung und externe Verhaltensweisen haben. Problematisch wird die Akkulturation auf individueller Ebene dann,23 wenn sie zu interfamiliären und sozialen Konflikten führt, die sich in psychosomatischen Problemen (= Akkulturationsstress) äußern.24 Innerhalb einer Familie entstehen ein hohes Konfliktpotential, Stress und die erschwerte Annahme der neuen Kultur aufgrund der unterschiedlich stark ausgeprägten Akkulturation und den damit verbundenen Zielen der einzelnen Familienmitglieder.25

Beim Prozess der Akkulturation steht außerdem, wie in dieser Arbeit, auch das Verhältnis zwischen Individuum und sozialer Gruppe im Fokus. In Bezug auf diese dauert der Akkulturationsprozess laut Berry so lange an, wie ein kultureller Kontakt zwischen unterschiedlichen kulturellen Gruppen besteht.26 Aber auch das Schicksal jedes Individuums ist eng mit dem Akkulturationsprozess der Gruppe verbunden, da es laut Han ohne sie nicht lebensfähig sei.27 Außerdem nehmen Individuen in unterschiedlichem Maße am Akkulturationsprozess teil und verfolgen damit verschiedene Ziele.

Auch verändert sich die Zusammensetzung der sozialen Gruppe stetig, da neue Einwanderer hinzukommen und andere sich von ihr abwenden, wenn sie sich dieser wegen der fortgeschrittenen Akkulturation nicht mehr zugehörig fühlen. Im Fall der schwedischen Einwanderer in Seattle endet der Prozess somit im bearbeiteten Zeitraum aufgrund der immer neu hinzuziehenden Schweden nicht, sondern es verändert sich nur der Akkulturationsgrad der gesamten Gruppe.

←22 | 23→Zudem geht jede Einzelperson unterschiedlich mit der Akkulturation um und durchlebt den Prozess anders,28 weshalb sich individuelle Strategien (Adaption) herausbilden,29 die zu verschiedenen Ergebnissen führen. Hierzu zählen laut Han Assimilation, Integration, Separation und Marginalisierung,30 wobei jede Strategie von der aufnehmenden, dominanten Gruppe beeinflusst werden kann. Auch die „amerikanische“ Gesellschaft hat dies immer wieder versucht.31

Es ist allerdings, so Han, nicht anzunehmen, dass diese Strategien innerhalb des Akkulturationsprozesses strikt voneinander getrennt und in gegenseitiger Ausschließung stattfinden, sondern dass sich die Einzelstrategien individuell und situativ abwechseln oder sogar in Kombination auftreten können.32 Dies hängt vor allem mit den drei untergeordneten Ebenen der Akkulturation zusammen.33 Als erstes ist hier die cultural maintenance zu nennen, welche sich auf den Wunsch der Einwanderer, Teile ihrer kulturellen Identität zu bewahren, bezieht. Die zweite Ebene richtet ihren Blick auf den Kontakt mit und die Teilnahme an der neuen Kultur. Als letztes besitzen die Einwanderer eine Macht, selbst zu entscheiden, wie und in welchem Ausmaß der Prozess der Akkulturation stattfindet.

Alle Strategien bergen allerdings, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, das Risiko, bei dem Einzelnen den oben erwähnten sogenannten Akkulturationsstress auszulösen.34 Dieser entsteht zum einen durch die geographische und soziale Trennung von der vertrauten Umgebung, woraus Heimweh resultieren kann. Die dadurch entstehende soziale Isolation, Frustration und Angst vor dem, was kommt, führt bisweilen zu einer Glorifizierung der ←23 | 24→Vergangenheit. Zum anderen kommen noch Umstellungsprobleme hinsichtlich der Bereiche Klima, Geographie, Arbeitstempo und des neuen „Way of Life“, die den Einwanderern in der ersten Zeit stark zusetzen, hinzu. Vor allem der Druck, die neue Sprache zu erlernen und diese perfekt anwenden zu können, fördert den Stress zusätzlich.35

Cultural maintenance als untergeordnete Ebene der Akkulturation ist ein zentraler Begriff in dieser Arbeit. Hierunter versteht sich der Wunsch einer Minderheitengruppe, Teile ihrer eigenen kulturellen Identität auch in der neuen kulturellen Umgebung zu bewahren. Dieser Begriff wurde ferner gewählt, weil er sich mit dem der Akkulturation vereinbaren lässt. Akkulturation schließt es nicht aus, dass Teile der eigenen kulturellen Identität über einen längeren Zeitraum oder auf Dauer erhalten bleiben. Im Gegenzug zeigt es aber auch, dass die Einwanderer versuchten, sich der dominierenden Gruppe anzupassen, allerdings, ohne dabei ihre eigene kulturelle Identität zu verleugnen.

Die alte Kultur kann generell allerdings nur dann bewahrt werden, wenn es Menschen gibt, die sich dafür einsetzen. Victor Greene stellte 1977 die Rolle der mediating brokers einer Minderheitengruppe als Bindeglied zwischen Einwanderern und der „amerikanischen“ Gesellschaft heraus.36 Greene schrieb ihnen dabei drei Aufgaben zu: erstens „Hüter“ der Traditionen und zweitens Förderer der Teilnahme ihrer Landsleute am „amerikanischen“ Leben zu sein sowie drittens den Erhalt des alten kulturellen Erbes zu unterstützen.37 Diese Aufgaben erscheinen plausibel, da die Gruppe der Einwanderer ohne Leitung nicht in der Lage ist, ihre kulturelle Identität in der Fremde aufrechtzuerhalten. Es muss stets jemanden geben, der die Gruppe zusammenhält und gleichzeitig den Akkulturationsprozess unterstützt und leitet.

1.3Definitionen der zentralen Begriffe

Da einige der in der Arbeit verwendeten zentralen Begriffe und Bezeichnungen unterschiedlich aufgefasst beziehungsweise interpretiert werden können und vor allem zur Zeit des Bearbeitungszeitraumes teilweise anders belegt waren als heutzutage, erscheint es vorab notwendig, diese zu definieren und näher zu erläutern. Neben der Klärung, wer als „Amerikaner“ bezeichnet ←24 | 25→wird, muss auch der Begriff der kulturellen Identität näher beleuchtet und die Frage geklärt werden, wer zur schwedischen Gemeinde zählte.

Die wichtigste Frage bezieht sich auf den innerhalb der vorliegenden Arbeit verwendeten Begriff „Amerikaner“.38 Erst im späten 18. Jahrhundert begannen die Siedler am Atlantik damit, sich nicht mehr nur als Bewohner ihrer jeweiligen Kolonie anzusehen, sondern sich als Teil einer neuen noch zu konstruierenden Nation wahrzunehmen.39 Dies hing mit dem erfolgreichen Unabhängigkeitskrieg (1775-83) und der daraus resultierenden Selbstständigkeit der 13 amerikanischen Kolonien zusammen. Bereits 1770 hatte sich John Hector St. John Crevecoeur an einer Definition jenes Begriffes versucht. In seinen Letters from an American Farmer schrieb er:

„What then is the American, this new man? He is neither an European, or the descendant of an European, hence that strange mixture of blood, which will find in no other country. [...] The American is a new man, who acts upon new principles; he must therefore entertain new ideas, and form new opinions. From involuntary idleness, servile dependence, penury, and useless labour, he has passed to toils of a very different nature, rewarded by ample subsistence. – This is an American.“40

Crevecoeurs Ansicht nach sei somit in Amerika eine neue Nation entstanden, die sich nicht als Europäer oder Nachfahren von Europäern bezeichnen könne, da sie eine sonderbare Mischung darstelle, die es sonst nirgendwo gäbe. Es dauerte allerdings noch einige Jahrzehnte, bis der Gedanke der eigenen „amerikanischen“ nationalen Identität umgesetzt wurde. Eine treibende Kraft war dabei der Amerikanische Bürgerkrieg (1861-65).41 Er führte dazu, dass sich eine nationale „amerikanische“ Identität innerhalb der Gesellschaft zu formen begann und nach und nach von vielen Einwanderern und „Amerikanern“ akzeptiert und gelebt wurde. Mit der Zeit gewann diese neue Identität den obersten Stellenwert innerhalb der etablierten Gesellschaft.

Dies führte dazu, dass die kulturellen Identitäten der einzelnen Einwanderergruppen nach und nach in den Hintergrund gerückt beziehungsweise ←25 | 26→jedes Ausleben dieser eigenen kulturellen Identitäten nicht mehr akzeptiert wurde. Hinzu kommt, dass der amerikanische Nationalismus Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in voller Blüte stand.42 Dies überschneidet sich zeitlich mit dem Höhepunkt der Masseneinwanderung und wird einen enormen Druck auf die Einwanderer ausgeübt haben.

Dennoch lässt sich in dem hier behandelten Zeitraum schwerlich von „dem Amerikaner“ sprechen. Aufgrund der Millionen von Einwanderern, die ab 1850 in die USA strömten, veränderte sich die Gesellschaft in den USA stetig und ein gewisser Einfluss der unterschiedlichen Nationen auf die „amerikanische“ Kultur kann nicht geleugnet werden.43 Deshalb ist es sehr wichtig, für die vorliegende Arbeit den Begriff „Amerikaner“ genau zu definieren, um einschätzen zu können, woran sich die schwedischen Einwanderer orientieren mussten, wenn sie zu „Amerikanern“ werden wollten.

Juristisch gilt seit 1868 jede in den USA geborene Person als „Amerikaner“ (14. Zusatzartikel der Verfassung von 1868).44 Minderjährige wurden automatisch „Amerikaner“, sobald mindestens ein Elternteil eingebürgert war.45 Die Einbürgerungsurkunde stellte somit ein sichtbares Zeichen dar, „Amerikaner“ zu sein. Dieses Stück Papier zählte dennoch vor allem zur Zeit der Masseneinwanderung nicht in den Augen aller „Amerikaner“ als Berechtigung, sich als solcher bezeichnen zu dürften. Nach dem Verständnis einiger waren nur die Nachkommen der ersten Kolonisten von 1620 oder diejenigen, die ihren Stammbaum mindestens drei Generationen in den USA verfolgen und angelsächsische Vorfahren aufweisen konnte, als ←26 | 27→„Amerikaner“ zu bezeichnen. Allerdings traf diese Definition um 1900 nur auf eine sehr kleine Gruppe zu.46

Wer aber galt als „Amerikaner“? Neben der Staatsbürgerschaft, die, wie geschildert, nicht zwangsläufig für alle „Amerikaner“ als Legitimation diente, sahen Teile der „amerikanischen“ Gesellschaft auch diejenigen als ihre Landsleute an, die perfekt Englisch sprachen, die „amerikanischen“ Bräuche und Sitten angenommen hatten, Patrioten (was sich beispielsweise in der Feier des 4. Juli wiederspiegelt) und Christen waren sowie auf der Straße nicht mehr – etwa durch ihre Kleidung – als Einwanderer identifiziert werden konnten.

Bei beiden Definitionen wird aber die Tatsache außer Acht gelassen, dass sich die „amerikanische“ Gesellschaft beziehungsweise Nation in der Zeit der Masseneinwanderung im Umbruch befand und sich fortlaufend veränderte. Vor allem in den Großstädten, zu der sich auch Seattle entwickelte, prägte sich der sogenannte Melting Pot47 besonders aus und beeinflusste die „amerikanische“ Gesellschaft für die kommenden Jahrzehnte stark.

Da es innerhalb des hier bearbeiteten Zeitrahmens keine allgemein gültige Definition gab, an der sich die Einwanderer hätten orientieren können, werden weiterhin Anführungsstriche gesetzt. Dies soll verdeutlichen, dass sich die Definition stetig leicht verändert hat. Außerdem konnten die wenigsten Einwohner in den USA zur Zeit der Masseneinwanderung als „Amerikaner“ bezeichnet werden, da viele ihre Wurzeln in anderen Ländern hatten. Zudem musste sich die „amerikanische“ Gesellschaft aufgrund des Zustroms neuer Einwanderer und deren Einflüsse erst einmal finden und erneut zu einer „amerikanischen“ Nation heranwachsen. Dass dennoch von „Amerikanern“ gesprochen wird, dient hauptsächlich zur Abgrenzung der hier im Fokus stehenden schwedischen Einwanderer.

←27 | 28→In Bezug auf die Frage, wer um 1900 als „Amerikaner“ bezeichnet wurde, muss ebenfalls geklärt werden, was als „amerikanische Kultur“ angesehen werden könnte. Woran mussten respektive wollten sich die vielen schwedischen Einwanderer orientieren, wenn es darum ging, sich in der neuen Heimat anzupassen und von der Umwelt als „Amerikaner“ wahrgenommen zu werden? Während Amerika heute multiethnisch und multikulturell ist, bildete rund 300 Jahre lang die angelsächsische Kultur den Kern der „amerikanischen“ Gesellschaft, wobei es immer schon Unterkulturen gegeben hat.48 Die ersten britischen Siedler bestimmten anfangs die Werte, Institutionen sowie die Kultur und versuchten eine neue Gesellschaft aufzubauen.

Zu den Schlüsselelementen der „amerikanischen“ Kultur gehörten damals in der Selbstwahrnehmung die englische Sprache, das Christentum, religiöses Engagement sowie die englischen Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit, Verantwortung der Regierenden und Individualrechte. Auch die Ausdrucksformen eines speziellen amerikanischen Patriotismus49 wie zum Beispiel das Hissen der Fahne oder Singen der Nationalhymne mit der Hand auf dem Herzen spielten hier eine wichtige Rolle. Diese unter dem Begriff American Credo50 zusammengefassten amerikanischen Eigenschaften vereinten die Immigranten und die „Amerikaner“, wodurch sie langsam zu einer Nation heranwachsen konnten.51 Es handelte sich hierbei allerdings um die Eigenschaften, von denen die „Amerikaner“ ausgingen, dass diese ihre Nation und Identität ausmachen würden – also die subjektive Wahrnehmung der eigenen kulturellen Identität.52

←28 | 29→Es ist beinahe unmöglich für Anfang des 20. Jahrhunderts eine „reine amerikanische“ Lebensform, -haltung oder Kultur auszumachen, da vor allem in den Großstädten meist die einzelnen ethnischen Gruppen in Vierteln zusammenlebten, Enklaven bildeten und dort ihre jeweilige mitgebrachte Kultur weiterlebten.53 Dies trifft überwiegend für die neueren Einwanderer aus Asien sowie Süd- und Osteuropa zu.54 Da sich die schwedischen Einwanderer in Seattle von Anfang an im gesamten Stadtgebiet verteilten und nicht nur in einem Stadtviertel lebten,55 bilden für die vorliegende Arbeit die hier zuvor erwähnten Merkmale eine wichtige Grundlage für die „amerikanische“ Kultur. An erster Stelle spielt neben der Sprache und dem Patriotismus auch das Ausleben der als typisch „amerikanisch“ angesehenen Sitten und Gebräuche eine wichtige Rolle für die schwedischen Einwanderer. Aber auch die religiöse Freiheit und der Individualismus bildeten die Grundlage der für die schwedischen Einwanderer wichtigen „amerikanischen“ Kultur.56

Neben dem Konstrukt einer „amerikanischen“ Kultur nimmt auch die individuelle kulturelle Identität und deren Bedeutung eine wichtige Rolle innerhalb dieser Arbeit ein. Unter Identität versteht sich nach Straub generell das Selbstgefühl einer Gruppe oder eines Individuums und es ist das Produkt des Bewusstseins, sich durch klare Eigenschaften als eine spezifische Einheit von dem Rest abzugrenzen.57 Ein Individuum speist seine Identität aus einer Fülle an möglichen Quellen. Laut Huntington gibt es sechs wichtige Quellen, mit denen ein Individuum in unterschiedlich ←29 | 30→intensivem Kontakt stehen kann.58 Für diese Arbeit sind folgende Quellen wichtig:59

1.Askriptive wie beispielsweise Alter, Vorfahren, Geschlecht und (Bluts-) Verwandtschaft

2.Kulturelle wie Clan, Sprache, Nationalität, Religion und Kultur

3.Soziale wie Freunde, Club, Kollegen, Freizeitgruppe und Status60

Sowohl unter Punkt 1 als auch unter Punkt 2 fügt Huntington noch die Ethnizität61 hinzu, die im ersten Fall als erweiterte Verwandtschaft und im zweiten als Lebensweise definiert wird.

Wichtig bei der Bildung der Identität ist ebenfalls der „kleine Haufen“, zu dem sich eine Person zählt.62 Allerdings wechselt der Einwanderer seine identitätsstiftende Gruppe mit seiner Auswanderung. Dies führt dazu, dass er sich erst wiederfinden und seine kulturelle Identität den neuen Umständen anpassen muss – er muss sie sozusagen aus neuen Quellen speisen. Laut Leon Wieseltier sei es allerdings nicht möglich, seine kulturelle Identität komplett abzulegen beziehungsweise zu verändern, auch wenn man es mit allen Mitteln versuche.63 Denn es sei zwar machbar, eine neue Sprache zu erlernen, eine andere Religion anzunehmen, neue Werte und Überzeugungen zu übernehmen, sich mit neuen Symbolen zu identifizieren und sich an andere Lebensweisen anzupassen, aber die ethnische Identität ist dauerhaft, da die Abstammung nicht geändert werden kann.64

Ein Wandel innerhalb der eigenen Identität ist hingegen möglich und kann in zwei Bereiche unterteilt werden. Einerseits handelt es sich um „kleine Traditionen“, worunter Essensgewohnheiten, Umgangsformen und die Art, Feste zu feiern, zu verstehen sind. Es sind Teile der Ethnizität, welche wie ←30 | 31→ein Band zwischen Personen mit demselben Ursprung und deren unartikulierter Loyalität zueinander wirken.65 Andererseits gibt es die „großen Traditionen“, zu denen Literatur, Musik, Kunst sowie politische und religiöse Vorstellungen zählen und somit Teile einer Ideologie bilden. Wichtig ist bei dem Begriff der Identität zudem, dass er sich auf die Vorstellung von Individualität und Anderssein bezieht, welche ein Akteur oder eine Gruppe von sich selbst hegt und entwirft. Außerdem wird der Begriff durch Beziehungen mit signifikant „anderen“ geprägt und mit der Zeit modifiziert.66

Für die schwedischen Einwanderer war es dahingehend wichtig, sich hauptsächlich von den vielen anderen Einwanderergruppen, vor allem den Iren sowie den Süd- und Osteuropäern, abzugrenzen, sich gleichzeitig als Einwanderer der ersten Stunde zu präsentieren und dadurch als „echte Amerikaner“ zu legitimieren. Um dies zu erreichen, mussten sie sich eine eigene nationale/schwedisch-amerikanische Identität konstruieren und gleichzeitig zu „Amerikanern“ werden, was zu gewissen Spannungsverhältnissen geführt und bei Einzelpersonen in unterschiedlichen Verläufen des Akkulturationsprozesses resultiert haben mag.

Zur Konstruktion einer nationalen Identität bedarf es laut Benedict Anderson der Kenntnis von den Bräuchen eines Landes, den dortigen Traditionen und Auffassungen.67 Andrew Higson stellte hierzu auch fest, dass dies nicht gleichzeitig bedeutet, an dem Ort sein zu müssen, wo diese Identität ausgelebt wird, was vor allem die Auswanderer belegen würden.68 Die einzelnen Nationen kämpften im Schmelztiegel der USA um den Erhalt ihrer eigenen Kultur und Identität und versuchten gleichzeitig, sich von den anderen Einwanderer-Nationen abzugrenzen. Im Zuge des Versuches, die eigene nationale Identität zu wahren und zeitgleich den amerikanischen Nationalismus anzunehmen respektive auszuleben, entstanden bei vielen Einwanderern (innere) Konflikte, auf die im Zuge der Arbeit noch näher eingegangen wird.

Mit der Bezeichnung „schwedische Gemeinde“ ist in der vorliegenden Arbeit die Gesamtheit der schwedischen Einwanderer in Washington State beziehungsweise Seattle gemeint. Diese Pauschalisierung aller schwedischen Einwanderer wurde bewusst gewählt und lässt sich nicht vermeiden, da die Quellen keinen Aufschluss über jede Einzelperson zulassen. Nicht jeder ←31 | 32→Schwede wird sich selbst zur schwedischen Gemeinde gezählt haben, es ist aber nicht möglich, eine genaue Differenzierung vorzunehmen.

Ein weiterer in dieser Arbeit verwendeter Begriff ist Schwedisch-Amerikaner, welcher darauf verweisen soll, dass es sich bei den Einwanderern nicht mehr um „reine“ Schweden, sondern um auf irgendeine Art akkulturierte Schweden handelt. Hierbei ist es wiederum nicht möglich und auch nicht erwünscht, den jeweiligen Akkulturationsgrad jedes Einzelnen herauszuarbeiten, sondern ein Gesamtbild zu zeichnen.

1.4Quellenlage

Aufgrund des großen Interesses an der schwedisch-amerikanischen Geschichte sowohl in Schweden als auch in den USA seit den 1960er Jahren wurde eine Vielzahl an Quellengattungen bewahrt, die heute in verschiedenen Archiven zur Verfügung steht. Neben den schwedischsprachigen Wochenzeitungen69 kann auf Passagierlisten, Nachlässe schwedischer Einwanderer (beispielsweise Briefe, Scrapbooks oder Fotos) sowie Kirchenprotokolle und -bücher zurückgegriffen werden. Außerdem gibt es unterschiedliches Material der verschiedenen schwedisch-amerikanischen Organisationen, Institutionen und Logen, wie Sitzungsprotokolle, Mitgliederlisten oder Jubiläumshefte.

Als eine der Hauptquellen dienten zur Bearbeitung der Fragestellung die schwedischsprachigen Wochenzeitungen, die ab März 1889 kontinuierlich in Seattle herausgegeben worden sind. Zwischen 1889 und 1946 existierte in Seattle für 13 Jahre nur eine schwedischsprachige Zeitung. In den verbleibenden 44 Jahren wurden hingegen zwei Zeitungen für die schwedische Bevölkerung parallel herausgegeben.70 Obwohl nicht von sämtlichen Zeitungen alle Jahrgänge komplett erhalten sind, kann in den einzelnen Archiven auf eine Fülle von Material zurückgegriffen werden. Insgesamt sind in Seattle bei 57 Jahren somit über 5.252 Nummern herausgebracht worden, welche jeweils zwischen vier und 14 Seiten aufwiesen. Wird von einer durchschnittlichen Seitenzahl von acht Seiten ausgegangen, bieten die Zeitungen über 42.000 Seiten an Material, die für die vorliegende Arbeit gesichtet wurden.

Mit Hilfe der Zeitungsartikel werden einerseits die Ereignis-Ebene und andererseits auch die Darstellungs-Ebene bedient. Sie sind sehr nützlich, um sich über einzelne Ereignisse zu informieren. Gleichzeitig kann dadurch ←32 | 33→auch die Stimmung innerhalb der schwedischen Gemeinde sehr gut abgelesen werden, da beispielsweise Leserbriefe abgedruckt wurden. Zum anderen bietet ihr Inhalt eine Fülle an Informationen in Bezug auf die schwedische Gemeinde in Seattle.

Letzteres ist vor allem ihrem Aufbau geschuldet, der allen schwedischsprachigen Zeitungen mehr oder weniger gemein ist. Während auf der Titelseite stets die wichtigsten Informationen aus aller Welt und Washington State zu lesen waren, wurden die anderen Seiten inhaltlich getrennt. Neben allgemeinen Nachrichten aus den USA und Seattle gab es bis in die 1940er Jahre hinein stets eine Doppelseite mit unterschiedlichen Informationen wie Kirchennachrichten, Familienanzeigen und Nachrichten über allgemeine Ereignisse aus den einzelnen schwedischen Provinzen sowie aus den schwedisch-amerikanischen Gemeinden in den USA.

Überaus ergiebig und von großer Bedeutung für die vorliegende Arbeit waren die Seiten mit speziellen Nachrichten aus der schwedischen Gemeinde in Seattle. Neben Berichten von allen schwedischen Kirchen in Seattle wurde hier über die verschiedenen Veranstaltungen schwedischer Organisationen und Vereine geschrieben sowie Leserbriefe abgedruckt. Aber auch Hochzeiten, Todesfälle, Arbeitsgesuche, Unfälle und Jubiläen wurden ausführlich beschrieben, wodurch sehr gute Rückschlüsse auf die Zusammensetzung und Aktivitäten der schwedischen Gemeinde gezogen werden können.

Zusätzlich zu einzelnen Artikeln, die teilweise aus anderen schwedischsprachigen Zeitungen sowohl in den USA als auch in Schweden übernommen worden sind, ist in den Zeitungen sehr viel Werbung zu finden. Schwedische und amerikanische Unternehmen nutzen die Zeitungen für Werbezwecke, aber auch die Vereine und Organisationen bewarben ihre Veranstaltungen. In den ersten Jahrzehnten wurden die Anzeigen ausschließlich auf Schwedisch abgedruckt, was darauf schließen lässt, dass die Redakteure die Anzeigen „amerikanischer“ Inserenten übersetzt haben müssen. Dies änderte sich in den 1920er Jahren, als Inserate und teilweise auch einzelne Artikel auf Englisch abgedruckt wurden. Dies geschah meist mit dem Vermerk, dass man davon ausginge, die Leser würden es trotzdem verstehen und die Artikel seien so gut, dass sie nicht übersetzt werden müssten.

Details

Seiten
466
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631849590
ISBN (ePUB)
9783631849606
ISBN (MOBI)
9783631849613
ISBN (Hardcover)
9783631849583
DOI
10.3726/b18156
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Kulturelles Erbe Auswanderung Kulturelle Identität Integration Sprachdebatte Identitätsfindung Schwedisch-Amerikanismus
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 466 S., 1 farb. Abb., 9 Tab.

Biographische Angaben

Katrin Leineweber (Autor:in)

Katrin Leineweber studierte Mittlere und Neuere Geschichte, Skandinavische Literatur- und Sprachwissenschaften sowie Europäische Ethnologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Sie war als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Geschichte Nordeuropas an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel tätig, wo auch ihre Promotion erfolgte.

Zurück

Titel: Schwedische Einwanderer zwischen Akkulturationsprozess und "cultural maintenance" in Seattle/Washington State, 1885−1940
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
468 Seiten