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Gewissheiten im Wandel

Wissensformierung und Handlungsorientierung von 1350-1600

von Christa Bertelsmeier-Kierst (Band-Herausgeber:in)
©2020 Konferenzband 270 Seiten

Zusammenfassung

Nach den verheerenden Krisen im 14. Jahrhundert wuchs in Europa der Wunsch nach grundlegenden Reformen in Kirche und Gesellschaft. An dieser Suche beteiligten sich neue wie alte Kräfte: Humanisten ebenso wie Mitglieder der Reformorden, Fürsten und städtische Eliten. Im interdisziplinären Dialog zwischen der Geschichts-, Literatur- und Sprachwissenschaft sowie der Kirchen- und Rechtsgeschichte untersuchen die Beiträge Wissensformierung und Handlungsorientierung in der Zeit von 1350-1600. Jenseits älterer Epochentypologien wird aus der Sicht verschiedener Fächerkulturen versucht, diesen Zeitraum in seiner eigenen Dynamik und Widersprüchlichkeit zu erfassen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • I. Handlungspraxis durch Fachprosa und lebensweltliche Erfahrung
  • ‚Erlesener‘ Gartenbau? Überlegungen zum Wandel von Landwirtschaft und Gartenbau im Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis (ca. 1350–1570) (Gerrit Jasper Schenk)
  • Von der Navigation zur Nautik. Seehandbücher und Handlungspraxis im 15. und 16. Jahrhundert (Ralf G. Päsler)
  • Systeme der Wissenskonstitution in Fach- und Gebrauchstexten des 15./16. Jahrhunderts: Beispiele, Perspektiven, Aufgaben (Thomas Gloning)
  • II. Identität und Normvermittlung durch volkssprachige Literatur
  • Burgund und die Berner Oberschicht. Kulturtransfer im Spiegel politischer und literarischer Interessen (Christa Bertelsmeier-Kierst)
  • Augsburger Chronistik in Handschrift und Druck. Geschichtsschreibung als Fundament und Ausdruck eines neuen Denkens (Jürgen Wolf)
  • Zur Rezeption humanistischer Texte im Buchdruck bis 1650: Petrarcas ‚De remediis utriusque fortunae‘ (Christoph Galle)
  • III. Orientierung und Normsetzung im öffentlichen Raum
  • Teutsche Jura. Zum Problem der Übersetzung römischer und kirchlicher Rechtsquellen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit (David von Mayenburg)
  • Entzauberung des Heiligen – Sakralisierung des Alltags. Religiös-christliche Normierungsprozesse im Spiegel der Predigt- und Postillenliteratur im 15./16. Jahrhundert. (Markus Wriedt)
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Abbildungsnachweise
  • Anschriften der Autorinnen und Autoren
  • Register
  • I. Handschriften und Archivalien
  • II. Inkunabeln und Frühdrucke (15.–17. Jahrhundert)
  • III. Personen und anonyme Werke
  • Reihenübersicht

Vorwort

Die Umbrüche in unserer Welt, der Eintritt in das digitale Zeitalter und die Probleme von Klimawandel und Globalisierung, haben den Blick auf die Zeit zwischen 1350 und 1600 verändert, die uns heute in vieler Hinsicht aktueller als noch vor wenigen Jahrzehnten erscheint.

Seit dem 14. Jahrhundert wurde Europa von existentiellen Krisen (Pest, Umwelt- und Klimakatastrophen, Bankkrisen und sozialen Unruhen) erschüttert, die zu einem breit getragenen Bedürfnis nach grundlegenden Reformen führten. Diese Entwicklung spiegeln die Konzilsbewegung (Konstanz 1414–1418; Basel 1431–1448) ebenso wider wie die von Humanisten und Reformmönchen gleichermaßen angestrebte geistige und kirchliche Erneuerung. Auch die Idee einer Reichsreform und die Reformierung des Rechts, das in ein Spannungsverhältnis zu einheimischen Rechtstraditionen trat, die expandierende Wirtschaft, der Fernhandel sowie eine rasante Erweiterung des Wissens führten zu vielfältigen Umgestaltungen gesellschaftlicher Normen und Werte.

Neuerungen gingen zum einen von der Humanismus- und Renaissancebewegung in Italien aus, zum anderen lieferte auch die nordalpine Welt wichtige Anregungen im Bereich der Technik, in den Naturwissenschaften und in den bildenden Künsten. In Deutschland führte der Ausbau fürstlicher Territorien im 15. Jahrhundert zu landesherrlichen Universitätsgründungen, die wichtige Impulse für die geistige und religiöse Neuorientierung gaben. Gleichzeitig büßten die zentralen Gewalten (Kaiser- und Papsttum) ihre Autorität ein. Neue wie alte Eliten suchten nach Antworten auf die daraus resultierenden politischen, ökonomischen, sozialen und religiösen Herausforderungen.

An Dynamik gewann dieser Prozess durch den mediengeschichtlichen Wandel, der in rasantem Tempo auch der Laiengesellschaft eine Teilhabe an gesellschaftlichen und religiösen Diskursen sowie eine Partizipation an nahezu allen Gebieten des expandierenden Wissens ermöglichte. Hinzu trat die Erweiterung der bis dahin bekannten Welt mit der Entdeckung Amerikas und dem neuen Seeweg nach Indien.

Mit der „Entdeckung der Welt und des Menschen“, der Burckhardtschen Renaissanceformel, begleitet von medialen und technischen Umbrüchen, begannen in Europa letztlich die Informations- und Transformationsprozesse, die zur globalen Expansion und Ressourcennutzung geführt haben, die in unserer heutigen Zeit ihrerseits gewaltige Veränderungen hervorrufen.

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Aus historischer Sicht scheint damit die Umbruchszeit von 1350–1600 von besonderem wissenschaftlichen Interesse, trotzdem nimmt keines der größeren aktuellen Forschungsprojekte diesen Zeitraum näher in den Blick. Hier zeigt sich in erschreckendem Maße, wie die vermeintliche Epochengrenze um 15001, die bis heute die Fächerkultur der Geisteswissenschaften prägt, lähmend auf die Forschungsdebatte wirkt.

Das seit zwei Jahren von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vorbereitete Forschungsvorhaben ‚Gewissheiten im Wandel. Wissensformierung und Handlunsgorientierung von 1350–1600‘ will hier Abhilfe schaffen und jenseits älterer Epochentypologien den Zeitraum zwischen Spätmittelalter und Neuzeit im interdisziplinären Dialog untersuchen. Anstatt, wie es größtenteils noch Forschungskonsens ist, ausschließlich die in die Moderne führenden Entwicklungspfade zu fokussieren, wird das Vorhaben gerade die widersprüchlichen Prozesse dieser Zeit in den Blick nehmen: Das lange Nebeneinander von Manuskriptkultur und aufkommendem Buchdruck; die Verbreitung und Dynamik der Volkssprachen parallel zur Wiederentdeckung der klassischen Sprachen und der damit verbundenen Polarisierung einer neuen Laien- und Gelehrtenkultur; die Abgrenzung von anderen Religionen und Kulturen, gepaart mit einer Faszination für das Andersartige und Fremde; die Koexistenz einheimischer und gelehrter Rechtstraditionen, die Wechselwirkung und Konkurrenz zwischen Erfahrungswissen und reflexiver Theorienbildung durch neue schriftliche Quellen (knowing und knowledge).

Im Rahmen des geplanten Forschungsvorhabens fand am 10./11.05.2018, gestützt vom Forschungscampus Mittelhessen, im Schloss Rauischholzhausen ein zweitägiges Symposion statt, an dem verschiedene Vertreter*innen der Geschichte, der Sprach- und Literaturwissenschaften, der Theologie, der Kunst-, Wirtschafts- und Rechtsgeschichte teilnahmen. Dabei haben sich drei Arbeitsfelder (AF) als zielführender Untersuchungsrahmen erwiesen: AF 1 analysiert die ←8 | 9→Handlungspraxis durch Fachprosa und lebensweltliche Erfahrung, AF 2 untersucht Identität und Normvermittlung durch Literatur und Kunst, A3 befasst sich mit der Orientierung und Normsetzung im öffentlichen Raum.

Der nachfolgende Band dokumentiert diese Forschungsaktivitäten und legt die ersten Ergebnisse des geplanten Forschungsvorhabens vor. Drei Beiträge dokumentieren die Fortschritte im Bereich AF1: Gerrit Schenk (Darmstadt) beschäftigt sich mit den Auswirkungen in der Landwirtschaft, die durch die Entvölkerung weiter Landstriche nach der verheerenden Pestepedemie 1348/49 in Europa eingetreten sind und untersucht die neue Gartenkultur, die von Italien ausgehend, durch Übersetzungen antiker und humanistischer Schriften auch nach Deutschland, insbesondere nach Schwaben und an den Oberrhein, vordrang. Ralf Päsler (Marburg) nimmt Seehandbücher und ihre Entwicklung in den Blick; Thomas Glonig (Gießen) untersucht ‚Systeme der Wissenskonstitution in Fach- und Gebrauchstexten‘ im 15. und 16. Jahrhundert. Trotz verschiedener Themen dokumentieren die drei Beiträge in ihren Ergebnissen die vielfältige Beeinflussung und Durchdringung von Theorie und Erfahrungswissen (knowing und knowledge). Von unterschiedlichen Fächerkulturen aus werden Entwicklungen durch technischen Fortschritt (z.B. Buchdruck, Destillation, Erfindungen wie Kompass oder Globus) und der rasante Aufschwung in den Volkssprachen, auch und gerade im Bereich der Fachliteratur dokumentiert. Ermöglicht wurde dies um 1500 durch eine breite Adaption antiker, humanistischer und naturwissenschaftlicher Texte, die zunehmend auch nicht-gelehrten Kreisen einen Zugang zu neuen Wissensbereichen öffnete. Der Anstieg der Lesefähigkeit vor allem im städtischen Bereich, der Ausbau des Schul- und Universitätswesens und die leichtere und verbilligte Reproduzierbarkeit von Texten, dem der mediale Wandel von der Handschrift zum gedruckten Buch Rechnung trug, waren wichtige Voraussetzungen. Untersucht wird einerseits beispielhaft an den Themen zu Gartenbau und Seefahrt, anderseits systematisierend an verschiedenen Fachtexten der Zuwachs an volkssprachiger Wissensliteratur sowie ihre Neustrukturierung und -repräsentation durch Weiterentwicklung von Gliederungssystemen und Text-Bild-Konstellationen (z.B. durch die Vervollkommnung von Landschafts- und Seekarten).

Während AF 1 den Fokus auf die Wissensvermittlung und Handlungspraxis durch Fachprosa lenkt, beschäftigt sich AF 2 mit der Identitätsstiftung und Normvermittlung durch Literatur und Kunst. Im vorliegenden Band werden drei Beispiele aus dem Bereich der erzählenden Prosa, der Chronistik und der Humanismus-Rezeption im deutschsprachigen Raum vorgestellt:2 Christa ←9 | 10→Bertelsmeier-Kierst (Marburg) analysiert den Kulturtransfer im Spiegel politischer und literarischer Interessen zwischen Bern und Burgund im 15. Jahrhundert. Jürgen Wolf (Marburg) fokussiert die städtische Geschichtsschreibung in Augsburg. Christoph Galle (Marburg) untersucht die Rezeption italienischer Humanisten im frühen Buchdruck bis 1650. Im Zentrum stehen zunächst buchgeschichtliche Fragen wie der Wandel von der Manuskriptkultur zum frühen Buchdruck und den damit verbundenen Veränderungen von Leserschichten, Buchgestaltung und Textauswahl. Der Buchdruck mit seinen marktwirtschaftlichen Erfordernissen wirkte sich stark selektierend aus. Welche Texte im Druckzeitalter weitergegeben wurden und welche in der Manuskriptkultur verblieben, so dass sie weitestgehend dem neuzeitlichen Vergessen preisgegeben waren, ist eine spannende Frage, die am Ende der Einzelforschungen zu beantworten sein wird.

Mit der Stadtrepublik Bern, die nördlich der Alpen zu den politisch einflussreichsten Stadtstaaten zählte, und der Reichsstadt Augsburg, die um 1500 zur wirtschaftlich führenden Kraft im süddeutschen Raum wurde, werden zwei Beispiele städtischer Kultur vorgestellt, in der die Oberschicht im 15./16. Jahrhundert zunehmend Literatur in Auftrag gab und wirkungsvoll in den Dienst ihrer Stadt stellte. Wie auch die Repräsentationskunst im privaten und öffentlichen Raum diente im 15./16. Jahrhundert damit die Literatur in starkem Maße der Identitätsfindung und Handlungsorientierung städtischer Eliten.

In AF 3 werden in zwei Beiträgen aus dem Bereich der Rechts- und Kirchengeschichte Orientierung und Normsetzung im öffentlichen Raum untersucht. Unter dem Stichwort „Latein oder Deutsch“ nimmt David von Mayenburg (Frankfurt) vor allem die Entwicklung volkssprachiger Rechtsquellen in den Blick, während Markus Wriedt (Frankfurt) Normierungsprozesse im Spiegel der Predigt- und Postillenliteratur vom Spätmittelalter bis Luther untersucht. Beide legen für ihre jeweilige Fächerkultur überzeugend dar, wie wissenschaftlich fragwürdig die Epochenzäsur um 1500 mittlerweile in Fragen der Rechts- und Kirchengeschichte geworden ist.

Auch im Namen von Gerrit Schenk und Jürgen Wolf danke ich allen, die in den letzten beiden Jahren am Forschungsvorhaben mitgewirkt haben, mein Dank gilt ebenso dem Forschungscampus Mittelhessen, der u.a. die Finanzierung dieses Bandes übernahm. Besonders bedanken möchte ich mich auch bei den Mitarbeiter*innen, die am Gelingen der Tagung oder an diesem Band mitgearbeitet haben, insbesondere Annkathrin Koppers, Stephan Ebert, Robin Kuhn und Marek Schmidt. Ohne ihre Hilfe hätte der vorliegende Band nicht erscheinen können.

Marburg, 30. Juni 2019

Christa Bertelsmeier-Kierst

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1 Diese Zäsur ist aus europäischer wie aus globalhistorischer Perspektive mittlerweile fragwürdig. Vgl. J. Le Goff, Geschichte ohne Epochen? Ein Essay, Darmstadt 2016; B. Jussen, Richtig denken im falschen Rahmen? Warum das „Mittelalter“ nicht in den Lehrplan gehört, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 67, S. 558–576; T. Bauer, Was den Blick verstellt. Epochengrenzen waren immer Konstrukte von Historikern: Es ist Zeit, Europa in einen größeren Raum einzubetten und den Begriff „Mittelalter“ zu verabschieden, in: FAZ Nr. 195 (23. August 2018), S. 12; M. Borgolte, Sprechen wir doch einfach vom eufrasischen Zeitalter. Hat sich das Mittelalter erledigt? Eine Erwiderung auf den Historiker Thomas Bauer, in: FAZ Nr. 200 (29. August 2018), S. 11.

2 Die Marburger Beiträge von Olaf Müller zu Ich-Narrationen florentinischer Kaufleute zwischen 1400 und 1600 sowie von Hendrik Ziegler zu Präsentationsformen von Turcica in der Frühen Neuzeit werden an anderer Stelle veröffentlicht.

Gerrit Jasper Schenk

‚Erlesener‘ Gartenbau?
Überlegungen zum Wandel von Landwirtschaft und Gartenbau im Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis (ca. 1350–1570)

I. Einleitung

Im Zeitalter elektronischer Massenkommunikation, von Twitter, Facebook, Chats und Blogs mag es so scheinen, als spiegelten die dort verhandelten Themen unmittelbar wider, was die Gesellschaft beschäftigt.1 Im Vergleich mit dem vorangegangenen Medienzeitalter, als die ‚bürgerliche Öffentlichkeit‘ mit Jürgen Habermas zwar als unbegrenzt gedacht wurde, dies aber nicht war,2 haben viel mehr Menschen als ‚Empfänger‘ und als ‚Sender‘ Zugang zu einer immer pluraler und diffuser werdenden Öffentlichkeit elektronisch zugänglicher schriftlicher, bildlicher und akustischer Medien. Wir wissen mittlerweile, dass auch diese neu entstandenen, multimodalen ‚Öffentlichkeiten‘3 keineswegs herrschaftsfreie Kommunikationsräume sind, sondern nach zum Teil altbekannten Regeln bespielt werden, z.B. durch außermedial begründete Autorität oder ←13 | 14→Marktmacht. Auch der Traum vom globalen Dorf4, in dem alle gleichsam auf Augenhöhe einen gleichberechtigten Diskurs pflegen, konnte nicht realisiert werden. Die Gefahren von Manipulationen bzw. Teilhabebeschränkungen werden heutzutage breit diskutiert.

Die gegenwärtige Medienrevolution mit all ihren Vor- und Nachteilen für Öffentlichkeit, Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, Religion und Kultur regt dazu an, den Blick auf einen anderen Medienwandel zu lenken: den Eintritt in die sogenannte Gutenberg-Galaxis, der sich vor über 550 Jahren vollzog.5 Diese Transformationsphase vom ‚Handschriften-‘ ins ‚Druckzeitalter‘ ist bereits unter sehr vielen Gesichtspunkten erforscht worden, vom kommunikations- über den systemtheoretischen Ansatz des Luhmann-Schülers Michael Giesecke bis zum eher positivistischen, quantitativen Zugriff von Uwe Neddermeyer.6 Arno Menzel-Reuters hat aus der langen Forschungsgeschichte zum Medienwandel im 15. und 16. Jahrhundert unlängst den Schluss gezogen, dass nicht von einer Ablösungsphase, sondern von einer Transformation der Schriftkultur im Sinne einer funktionalen Differenzierung gesprochen werden sollte.7 Dies gilt besonders für den Bereich der pragmatischen Schriftlichkeit,8 für Fachprosa9 – verfasst ←14 | 15→von ‚Experten‘10 und gerichtet an einen damals immer zahlreicher werdenden Typus Leser, den nicht klerikalen sogenannten Laien – und allgemein für Texte als Medien des Wissens zwischen Theorie und Praxis, auch für die ‚Wissensarchitektur‘ von Büchern und das Lesen als Wissensdistribution oder sogar -produktion.11 Daher kann die Frage nach den Ursachen und Wirkungen der nicht nur funktionalen Ausdifferenzierung von multimodalen Textwelten genutzt werden, um im Zuge einer Analyse des Medienwandels auch Aufschluss über die Dynamik gesellschaftlichen Wandels zu erhalten.

Sita Steckel hat mit Blick auf religiöse Wissensbestände unlängst resümiert, dass sich spätestens im 15. Jahrhundert laikale Lese- und Interpretationsgemeinschaften so vervielfältigten, dass „…von einer mittelalterlichen Gesellschaft der multiplen Optionen gesprochen werden kann…“, durch welche die Transformationsprozesse in den zwei Jahrhunderten um 1500 „…als graduelle, aber sehr tiefgreifende Prozesse der Neukonfiguration laikaler religiöser Expertise, Gelehrtheit oder Bildung vor dem Hintergrund starker sozioökonomischer ←15 | 16→Veränderungen diskutiert werden“ können.12 Wie die Forschung der letzten beiden Jahrzehnte zu ‚Wissenskulturen‘13 gezeigt hat, betraf diese Neukonfiguration nicht nur den in soziologischer Terminologie als ‚religiöses Feld‘14 bezeichneten Ausschnitt vormoderner Lebenswirklichkeit, sondern ebenso andere gesellschaftliche Felder. Auch über das zugrunde gelegte Verständnis von ‚Wissenschaft‘ (scientia) und ‚Wissen‘ wurde kontrovers diskutiert: Ist der gelehrte Zugriff auf die Natur im Mittelalter eine Naturphilosophie ohne Natur und beruht er auf Empirie ohne Beobachtung?15 Gibt es überhaupt eine Epistemologie der praktischen Wissenschaften16 im Spätmittelalter? Wie ist das Wissen jenseits der Gelehrtenkultur erfassbar, das aus Lebensordnungen, Handlungen, praktischer Erfahrung (experientia) und technischen Tätigkeiten (artes mechanicae) erwächst? In welchem Verhältnis stehen diese beiden Wissenssphären zueinander, die man mit Martin Kintzinger etwas vereinfachend mit dem Begriffspaar ‚Bildungswissen‘ und ‚Handlungswissen‘ bezeichnen könnte und die auf ihre je eigene Weise eine Expertenkultur ausbildeten?17 Vor allem aber ←16 | 17→muss mit Blick auf den sogenannten Medien- und Epochenwandel um 150018 danach gefragt werden, wie die zeitgleiche Transformation der Wissenskultur genau erfolgt und ob und wie sie mit dem allgemeinen gesellschaftlichen Wandel zusammenhängt.

Die jüngsten Untersuchungen des spezifischen Wissenswandels in der Vormoderne, treffend als „Episteme in Bewegung“ bezeichnet19, heben hervor, dass dieser mit etablierten Konzepten der Wissensgeschichte wie ‚Fortschritt‘ oder ‚Revolution‘ nicht zutreffend charakterisiert, sondern besser als „langfristig, subkutan und als Ausdifferenzierung des Vorhandenen ebenso wie als stillschweigende Adaption respektive Integration von Neuem“ beschrieben werden sollte.20 Die Weitergabe traditionellen Wissens durch Wiederholung sei als „Akt transformierender Anverwandlung“ zu denken, der durch „Fixierung, Tradierung, Kodifizierung, didaktische Aufbereitung, Selektion oder auch Ablehnung“ im Akt des zeitlichen, räumlichen oder kulturellen Transfers zu einer Dynamisierung des Wissens führte.21 Als Grundlage für diese Thesenbildung dienen freilich Texte, die fast ausschließlich aus der gelehrten Sphäre der litterati und Universitäten stammen und möglicherweise ein zu statisches Bild einer viel dynamischeren Praxis transportieren. Daher ist zu überprüfen, ob sich Prozesse in der lebensweltlichen Praxis beobachten lassen, die zu einer Dynamisierung des Wissens beitrugen, sie vielleicht sogar erst auslösten. Dafür müssen neben gelehrten und ←17 | 18→literarischen Texten auch Gebrauchstexte wie Ratsbeschlüsse, Verträge, Rezepte und Briefwechsel analysiert werden, es müssen vergangene Lebenswirklichkeiten und Praktiken z.B. mit Hilfe von Rechnungen und Zehntabgaben, aber auch aus (landschafts-)archäologischen Befunden (von der Pollenanlyse bis zur Latrinengrabung) rekonstruiert werden.22 Besonders aufschlussreich ist eine Untersuchung von Wissenswandel in Zeiträumen, in denen nicht nur die Episteme, sondern auch die Gesellschaft in Bewegung war oder verstärkt geriet, weil hier Prozesse gesellschaftlicher Aushandlung auf vielen Ebenen und die Verflechtungen von Theorie und Praxis eine besonders prägnante Rolle spielen könnten.

Details

Seiten
270
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631810606
ISBN (ePUB)
9783631810613
ISBN (MOBI)
9783631810620
ISBN (Hardcover)
9783631793756
DOI
10.3726/b16498
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juli)
Schlagworte
Frühe Neuzeit Medienwandel Wissensdynamik Altes und Neues Recht Prosaliteratur Predigt Chronistik Prosaroman Nautik Humanismus

Biographische Angaben

Christa Bertelsmeier-Kierst (Band-Herausgeber:in)

Christa Bertelsmeier-Kierst studierte Germanistik, Anglistik, Philosophie und Kunstgeschichte an der Universität Bonn. Neben Ihrer Lehrtätigkeit in Köln war sie von 1999-2018 Professorin am Institut für Deutsche Philologie des Mittelalters in Marburg.

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Titel: Gewissheiten im Wandel
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