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Ideologiekritik und Deutschunterricht heute?

Analysen und Handlungsansätze 50 Jahre nach Gründung des Bremer Kollektivs

von Steffen Gailberger (Band-Herausgeber:in) Ralph Köhnen (Band-Herausgeber:in)
©2020 Sammelband 330 Seiten

Zusammenfassung

Vor 50 Jahren erschien Heinz Ides "Bestandsaufnahme Deutschunterricht", die Gründungsurkunde des Bremer Kollektivs. In ihr wurde der damalige Deutschunterricht einer radikalen Kritik unterzogen und mit Blick auf die gesellschaftlichen Ereignisse und Entwicklungen auf eine neue, ideologiekritische Basis gestellt. Das Kollektiv wirkte so produktiv wie einflussreich, ehe es sich 1980 wieder auflöste. Heute, 50 Jahre nach seiner Gründung und vor dem Hintergrund massiver Veränderungen im politischen und gesellschaftlichen Sprachgebrauch, im Zeichen von Twitter, ‚Fake News‘ und einer immer enthemmter wirkenden Sprache in den Parlamenten, stellt sich die Frage, wie aktuell die ideologiekritische Deutschdidaktik des Bremer Kollektivs auch heute noch ist – oder wieder ist.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Steffen Gailberger & Ralph Köhnen: 50 Jahre Bremer Kollektiv. Chancen und Grenzen eines Umbauprozesses
  • I. Historisch-rekonstruktive Perspektiven auf das Bremer Kollektiv (1970–1980)
  • Ralph Köhnen: Der ‚ganze Mensch‘ im kritischen Horizont. Bildung als heikle Kategorie im Bremer Kollektiv
  • Christian Dawidowski: Kritik und Fremdheit in Lesebüchern für die Sekundarstufe I der 1970er Jahre
  • Michael Kämper-van den Boogaart: Kritisches Lesen im Bremer Kollektiv? Zum Beispiel Reportagen im Unterrich
  • Kristina Koebe / Roberto Hübner / Tilman von Brand: Die Rezeption der Literaturdidaktik des Bremer Kollektivs in der DDR-Literaturdidaktik und an den DDR-Schulen zwischen 1970 und 1980
  • Andreas Seidler: Krimi und Kritik? Ein Unterhaltungsgenre im Blick sich wandelnder literaturdidaktischer Positionen von den 1970er Jahren bis in die Gegenwart
  • II. Aktualisierend-applikative Perspektiven auf das Bremer Kollektiv (2020–2030)
  • Cornelius Herz: Kritik und Deutschdidaktik. Zwischen Mottenkiste und aktuellen Positionen
  • Steffen Gailberger: Was kann „Kritisches Lesen“ heute bedeuten? Versuch einer Aktualisierung des politisch-kritischen Lesebegriffs des Bremer Kollektivs aus der Perspektive des Jahres 2020
  • Matthis Kepser: Wag the Dog und Save the Cat! Politische und cineastische Manipulationen im medienkritischen Sprachenunterricht
  • Olaf Gätje: Die Enthemmung des politischen Sprechens am Beispiel des parlamentarischen Zwischenrufs im sprachkritischen Deutschunterricht
  • Sebastian Susteck: Wetterkarten. ‚Ideologiekritik von rechts‘ im Zeitalter von Klimawandel und Digitalisierung
  • Julia Catherine Sander: Kritik als Haltung und Aktivität. Überlegungen zum kritischen Lesen literarischer Texte

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Steffen Gailberger & Ralph Köhnen

50 Jahre Bremer Kollektiv. Chancen und Grenzen eines Umbauprozesses

1970 geht es ums Ganze, dieses ehrgeizige Erbe der deutschen Systemphilosophie – und es lässt sich nicht mehr lokal oder national beschreiben, sondern ubiquitär: Am 2. Juni 1967 wird in Berlin der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen. Peter Handke erblickt am 27. Januar 1968 ein Fußballplakat und schreibt es ab; es entsteht das wohl berühmteste Sportgedicht in deutscher Sprache. Am 21. August 1968 beenden sowjetische Panzer den Prager Frühling. Am 21. Juli 1969 betritt Neil Armstrong als erster Mensch den Mond. Die Große Bonner Koalition gibt nach drei Jahren auf, am 26. September 1969 beginnt die sozialliberale Dekade, einige Politiker wollen mehr Demokratie wagen. Leslie Fiedler gibt in der Dezemberausgabe des Playboy das ‚anything goes‘ als Gegenwartsmotto aus. Am 10. April 1970 tun es die Beatles ihrem letzten Track auf ihrem letzten gemeinsamen Album „The End“ gleich und lösen sich auf. Ein Monat später formiert sich die Rote-Armee-Fraktion gegen das ‚Schweinesystem‘. Am 29. November 1970 beginnt mit dem „Taxi nach Leipzig“ die haltbarste deutsche Fernsehreihe überhaupt: der Tatort. Der neckische Ilja Richter ruft ab dem 13. Februar 1971 dem ZDF-Zuschauer seinen legendären Schlachtruf „Licht aus, Spot an!“ entgegen. Den Bericht des Club of Rome über die „Grenzen des Wachstums“ bezeichnet Henry Wallich in der Newsweek vom 13. März 1972 als „unverantwortlichen Unfug“. Borussia Mönchengladbach eröffnet mit Günter Netzer raumgreifende Utopien, während Johan Cruyff mit dem ‚voetbal total‘ auch seine Gegner entzückt und sich Uli Hoeneß und Paul Breitner mit nacktem Oberkörper und engem Höschen vor der Motorhaube eines PS-starken Sportwagens ablichten lassen. Die Konvergenztheorie beginnt Doktrinen des Kalten Kriegs zu ersetzen. Noch schrauben die Autoschrauber, und die Kumpel dürfen noch ein paar Jahre unter Tage fahren, die Lehrer lehren und die Lehrerlehrer – fragen sich nach einem Weg, der in die beste aller möglichen Zukünfte führen soll.

Das ist die Lage, als sich einige Deutsch-Fachleiter, Junglehrer und Pädagogen um den Bremer Germanisten, Fachseminarleiter und Gründer der „Aktionsgemeinschaft demokratischer Lehrer“ Heinz Ide aufmachen, um nicht einfach das Establishment das Fürchten zu lehren, sondern Fachdidaktik als ←7 | 8→Wissenschaft zu begründen. Und freilich nicht als eine, die sich selbst genügt, sondern als kritische, eingreifende.

Die traditionsreiche Glasperlenspielerei einer von der Literaturwissenschaft dominierten und dann heruntergebrochenen Deutschdidaktik, die man besonders gern mit Lebenshilfe-Maximen anreicherte, wird unter (vielfach begründeten) Verdacht gestellt, verschleierten Zielen zu dienen. Nur scheinbar würde dem Individuum mit (allzu braver oder aus der Ferne kommender kanonisierter) Literatur im Unterricht geholfen, tatsächlich werde damit ein gigantischer Verblendungszusammenhang hochgezogen, der schlicht und einfach wirtschaftlichen und sonstigen Machtinteressen dient. Und darin zeigt sich eine Grundintention des Bremer Kollektivs: Ideologiekritik als Analyse der herrschenden Interessen ebenso wie des herrschenden Denkens, um überhaupt eine Möglichkeit zu haben, den allgegenwärtigen Absichten eines entfesselten Kapitalismus etwas entgegen zu setzen.

Natürlich laufen dabei auch einige Schlagworte mit. Wenn der Hegel umkehrende Satz Adornos: „Das Ganze ist das Unwahre“ oder: „Es gibt kein richtiges [privates] Leben im falschen“ zitiert wird,1 weiß man sich stets und überall in bester Gesellschaft – ohne freilich den Rigorismus dieser Sätze immer auch zu reflektieren. Leitende Absicht bleibt dagegen, jene Selbstbestimmung wieder zu ermöglichen, deren (nahezu) Unmöglichkeit unter Gegenwartsbedingungen Adorno ebenfalls konstatiert hatte.2 Die Negative Dialektik bzw. Theorie der Halbbildung sind weithin kursierende Lektüren, aber auch Herbert Marcuses Der eindimensionale Mensch mit seinen kritischen Kulturanalysen, die Verblendungszusammenhänge auf allen gesellschaftlichen Ebenen mit abgezweckten und uniformierten Individuen zeigen, um diejenigen unterdrückerischen Bedürfnisse zu analysieren, „die harte Arbeit, Aggressivität, Elend und Ungerechtigkeit verewigen.“3 Die originalen Schriften von Marx und Engels verbleiben hingegen eher im Andeutungsmodus. Und hier und da wird die Auseinandersetzung mit Habermas deutlich, der sich allerdings – dies zeigt noch seine groß angelegte Philosophiegeschichte von 20194 – vom Marxismus distanzierte und den kritischen Impuls auf die Erkenntnisebene des Subjekts ←8 | 9→und seiner Kommunikationsformen verlagerte, welche den eigentlichen Angelpunkt der Diskussion und Durchsetzung eigener Interessen bilden sollten.

Wenn nun eine bestenfalls idyllisierende und schlechtenfalls verschleiernde Deutschdidaktik verabschiedet wird, zeigt sich: Die Zeit für Interventionen ist gekommen, und die berühmte elfte Feuerbachthese von Marx schwebt über allen Diskussionen: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an sie zu verändern.“5

Ende der 1960er Jahre sind die politischen Duldsamkeiten aufgebraucht, die Naivitäten der Wirtschaftswunderjahre nicht länger hinnehmbar, und um das Unbehagen an der Prosa der Verhältnisse wie auch komplementäre fröhliche Entwürfe zu artikulieren, stehen Zeitungen, Radio, Fernsehen oder Filme zur Verfügung, die nach dem bekannten Wort McLuhans die Welt zum ‚global village‘ zusammenschnurren lassen. Die Medienpraxis, die in den 1960er Jahren begann, sich im Sinne von Benjamins oder Brechts Emanzipationstheorie zu entwickeln, aus Empfängern Sender werden ließ und die Distributionspraxis durch eine kommunikative ersetzte, erhöhte den Druck einer teilnehmenden Öffentlichkeit – und macht es dann für den Deutschunterricht zur neuen Aufgabe, aus alten Begrifflichkeiten, Handlungsroutinen und konservativen Ideologien auszubrechen.

Aus der Sicht progressiver linker Deutschlehrer, Fachseminarleiter und Literaturwissenschaftler (Frauen waren auffallend wenige darunter) ist es also an der Zeit, zu handeln – und man ist ganz sicher: Dies braucht gründliche Systemreflexion, Ideologiekritik und Bewährung in der Empirie. Verabschiedet wird dagegen eine Lebenshilfe-Didaktik mit ihren verschwurbelten Begrifflichkeiten von Lebens- und Sinnkreisen, Motivsphären oder Leitbildern, die bestenfalls gut gemeint scheitern, im schlimmeren Fall aber jene Zeitlos-Themen reproduzieren wollen, die schon einmal mühelos politisch vereinnahmt wurden. Ebenso wenig wie die Suche nach anheimelnder, genießerischer Innerlichkeit braucht es eine nur immanente Ästhetik, die auf reine Formbetrachtung zielt und Kunst und Literatur in ihrem abgesperrten Bezirk belässt. Die Folgen dieses Entschlusses und der Perspektiven, die mit den heute etwas doktrinär und arg akademisch anmutenden Beiträgen nicht nur in die Diskussion, sondern eben auch in die Praxis gebracht werden, sind gravierend und bis heute spürbar, was sich an den um 1970 auf den Weg gebrachten Begriffen wie ‚Kommunikation‘, ‚Emanzipation‘ oder ‚Partizipation‘ ablesen lässt. Mit Blick in aktuelle ←9 | 10→Kernlehrpläne der Länder oder in deutschdidaktische Handbücher der bereits wieder zwei Jahrzehnte zurückliegenden 2000er Jahre wirken sie erkennbar, wenn auch freilich gekürzt um den kritischen Impuls, noch immer – also 50 Jahre nach ihrem linguistischen, literaturwissenschaftlichen und deutschdidaktischen Aufkommen – in heutige Kompetenzbestimmungen hinein. Die Ambition des Bremer Kollektivs geht allerdings erheblich weiter, und der vorliegende Band möchte dies in zwei Teilen, einem eher historisch-rekonstruktiven sowie einem aktualisierend-applikativen Teil, vertiefen.

Dabei befinden sich die in diesem Band versammelten deutschdidaktischen Kolleginnen und Kollegen in guter Gesellschaft: Auch in der (kulturwissenschaftlichen) Fachgermanistik gönnt man sich Rückblicke auf 1968 und die Folgen – wobei nicht nur kritische Denkfiguren an sich, sondern auch Rhetoriken und Stilfiguren der Kritik selbst analysiert werden. Dem Jubiläum vorgegriffen hat hier schon 2014 der Literaturhistoriker Ulrich Raulff in einem autobiographischen Kulturrückblick. Dort wird mit leichter Hand und instruktiven Blicken auf damals angesagte Lektüren der Wechsel der Theorieströmungen in den 60er Jahren und ihr anarchisches Wuchern in fröhlichen Lebensstilen der 70er Jahre skizziert.6 Und ganz frisch erschienen ist ein von Peter Brandes und Armin Schäfer herausgegebener kulturwissenschaftlicher Rückblick, der Darstellungsformen der 68er-Kritik in polemisch-satirischen Textformen ebenso analysiert wie Aktionsformen von Performance (Sit-In usw.) oder Protestformen des Happenings im Zusammenspiel mit Medien.7

In der Jubiläumsziffer mag ein relativierender, historisierender Ton mitklingen – und doch möchte der vorliegende Band zeigen, dass es frische Bruchflächen der ‚Bremer‘ Theoriebildungen gibt, die nicht nur denknotwendig sind, sondern immer noch Potenziale bieten. Bereits 1974 gibt es eine rückblickende Überschau auf die Optionen einer kritischen Deutschdidaktik mitsamt pragmatischen Einschätzungen von Christa Bürger, die sich sowohl gegen einfältige Wirkungsverhältnisse von gesellschaftlichen Strukturen auf Literatur als auch gegen die Selbstverabsolutierung des kritisch-archimedischen Standpunktes wendet.8 Dagegen betont sie die Notwendigkeit einer ‚kritischen Hermeneutik‘, ←10 | 11→um anstelle von deren bislang oft praktizierter Einfühlungsinterpretation ein Verständnis der eigenen Geschichtlichkeit des Interpreten zu fördern und damit andererseits der struktural-synchronen Analyse Tiefenschärfe zu geben. Dieser vermittelnden Perspektive ist ein frisch gebliebener Grundsatz des großen Linkstheoretikers Oskar Negt an die Seite zu stellen, der in einem selbst schon 50 Jahre sich erstreckenden autobiographischen Rückblick lautet: „Wir dürfen nicht warten, bis das Gemeinwesen verrottet ist und die moralische Verkrüppelung ein gesellschaftliches Betriebsklima geschaffen hat, das die Mühe um Anstand und politische Urteilskraft immer beschwerlicher und vielfach aussichtslos werden lässt.“9 Dies ist so gültig wie nur irgendetwas, und lehrbar und lernbar ist es auch. Das zeigen auch einige der im Folgenden vorzustellenden Beiträge.

Im ersten Teil des Bandes geht es um historische und philosophische Rekonstruktionen, vor deren Hintergrund das Bremer Kollektiv zu wirken versuchte. Den Aufschlag hierzu macht Ralph Köhnen (Ruhr-Universität Bochum). In seinem Beitrag Der ‚Ganze Mensch‘ im kritischen Horizont. Bildung als heikle Kategorie im Bremer Kollektiv arbeitet er zunächst heraus, dass der ehemalige Bildungsbegriff trotz der Umstrukturierung des Deutschunterrichts infolge der ab Ende der 1960 Jahren lauter werdenden Kritik am bisherigen Bildungssystem – und der damit einhergehenden Setzung neuer Ziele wie Kommunikation und Emanzipation – von einer wirklichen ‚Renovierung‘ unberührt blieb. Unbeachtet blieben dabei nämlich auch Konzepte wie die ganzheitliche Persönlichkeitsbildung sowie jenes einer sozialen Identitätsbildung. Diese rückschauende Beobachtung veranlasst Köhnen dazu, die Konzeption eines ‚ganzen Menschen‘ und den Impuls der vielseitigen Persönlichkeitsbildung mit den Auffassungen und Theorien des Bremer Kollektivs zu vergleichen. Über die Darlegung von Begriffsgeschichten, theoretischen Grundlagen, einer praktischen Kritik des Bildungsbegriffs sowie der Auseinandersetzung mit Massenmedien und -literatur und mündlichen Kommunikationstechniken gelangt Köhnen zu dem Ergebnis, dass die Ansichten des Bremer Kollektivs einer Aktualisierung bedürfen, und zwar durch Anknüpfung an deren analytischmaterialistische Wege sowie durch Hinzuziehung polykontexturaler Perspektiven, die darin münden, Schülerinnen und Schüler dazu zu befähigen, sich kritisch mit der Gesellschaft auseinanderzusetzen und gleichzeitig ihre Persönlichkeit zu entfalten. Köhnen nutzt Quellen zum Bildungsbegriff an sich, ←11 | 12→zur Theorie der Bildung, zur Persönlichkeit und Persönlichkeitsentwicklung, zur Ein-bzw. Mehrdimensionalität des Menschen und zum Einfluss der Massenmedien auf die Entwicklung der Bevölkerung. Dabei zeigt er auf, dass jede genutzte Quelle sich logisch in die historische wie inhaltliche Kohärenz und Kohäsion des Textes eingliedern lässt und die Intention dessen untermalt.

Christian Dawidowski (Universität Osnabrück) untersucht in seinem Beitrag Kritik und Fremdheit in Lesebüchern für die Sekundarstufe I der 1970er Jahre, welche Dimensionen von Kritik sich dort bezüglich der Fremdheitsdarstellung finden lassen. Ausgangspunkt ist die Vermutung, dass sich Lesebücher um 1970 zugleich in einer Schwellensituation und im Zentrum öffentlicher und kritischer Debatten wiederfanden, womit die durch ein verändertes gesellschaftliches Klima beeinflusste Dimension des kritischen Denkens in die Lehrwerke einfloss und folglich auch nachgewiesen werden kann. Der Beitrag betrachtet vorrangig Lesebücher der BRD, zieht jedoch deren Vorgänger und Nachfolger sowie mit Unser Lesebuch ein DDR-Beispiel als Vergleichsobjekte heran. Hierbei wird deutlich, dass sich die didaktische Zielsetzung des kritischen Denkens und insbesondere die Schriften des Bremer Kollektivs teils in basaler, teils aber in radikaler und immenser Form auf die Lehrwerke auswirkten. Dies zeigt sich vor allem an der Neuformierung eines literarischen Kanons für die Lesebücher wie z.T. im Abzielen auf demokratisches Handeln, in der Betonung von ‚Widerstand‘ in den ausgewählten Texten sowie in den verwendeten Aufgabenstellungen für die Schülerinnen und Schüler.

Mit der Reportage widmet sich Michael Kämper-van den Boogaart (Humboldt-Universität zu Berlin) einer Textart, die bis heute nichts an ihrer Beliebtheit im und Relevanz für den Deutschunterricht eingebüßt hat. Er eröffnet seinen Aufsatz Kritisches Lesen im Bremer Kollektiv? Zum Beispiel Reportagen im Unterricht mit Ausführungen von Robert Ulshöfer und Erika Essen, die nach 1970 vorrangig jene etablierten wie konservativen Konzepte des Deutschunterrichts repräsentierten, die die Krise des Fachs verantworten sollten, auf die der Untertitel des von Heinz Ide herausgegebenen und damals für Furore sorgenden Bandes Bestandsaufnahme Deutschunterricht hinwies. Ausgehend von eben diesen konservativen Konzepten und ihrem fachdidaktischen Ranking, demzufolge fiktionalen Texten aus dem Segment ‚anspruchsvoller‘ Literatur die größte Reputation zugesprochen wird, widmet sich Kämper-van den Boogaart dem hybriden Textgenre der Reportage sowie der kritischen Lektüre dieser im Verständnis des Bremer Kollektivs. Hierzu rekapituliert er zunächst, was im Verständnis der Bremer als kritisches Lesen gelten sollte, bevor er sich im nächsten Abschnitt intensiv mit dem von Helmut Hoffacker veröffentlichten Beitrag Reportagen im Deutschunterricht im ←12 | 13→1972 erschienenen Band 3 der BK-Reihe projekt deutschunterricht widmet. Hier positioniert er sich kritisch gegenüber der von Hoffacker veröffentlichten Gattungsbestimmung sowie deren damit einhergehenden didaktischen Reflexionen, die in starkem Maße auf den Input der Lehrkraft setzen. Auch verweist Kämper-van den Boogaart im Rahmen seiner Ausführungen auf die Gefahr, dass die Programmatiken kritischen Lesens in Projekten des Bremer Kollektivs stillschweigend unterlaufen werden konnten, wenn favorisierte Literatur im Angebot war. Abschließend fragt er nach dem Potenzial der kritischen Lektüre von Reportagen für den heutigen Deutschunterricht, wenn sich dieser von Hoffackers Textsortengewissheiten löst und sich für die Interferenzen zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen öffnet. Ziel eines kritischen Lesens, so Kämper-van den Boogaart, könnte es dann nicht nur sein, z.B. anhand des szenischen Einstieges in eine Reportage subtile Fiktionalitätssignale in faktual auftretenden Reportagen zu identifizieren, sondern auch zu überlegen, ob solche Mikrofiktionen eigene Rezeptionserwartungen tatsächlich konterkarieren.

Den Einfluss des Bremer Kollektivs bzw. seiner Publikationen auf die Literaturdidaktik der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) untersuchen Kristina Koebe, Roberto Hübner und Tilman von Brand (Universität Rostock). Die besonderen Rezeptionsbedingungen in der DDR berücksichtigend werden vor allem das DDR-Periodikum Deutschunterricht und die Pädagogischen Lesungen diverser Einzelautorinnen und -autoren auf explizite oder implizite Bezugnahmen zu Publikationen oder Ideen des westdeutschen Kollektivs durchleuchtet. Hierbei zeigt sich, dass, obgleich die Rezeption westlicher Publikationen in der DDR durchaus verbreitet war, die Arbeit des Bremer Kollektivs fachlich kaum diskutiert wurde. Inhaltliche Übereinstimmungen zwischen der Literaturdidaktik der DDR und den Publikationen des Kollektivs lassen jedoch eine Wahrnehmung der Bremer Arbeiten auch ohne explizite Bezugnahme stark vermuten.

Andreas Seidler (Universität zu Köln) beschreibt in seinem Beitrag Krimi und Kritik? Ein Unterhaltungsgenre im Blick sich wandelnder literaturdidaktischer Positionen von den 1970er Jahren bis in die Gegenwart, inwieweit sich das Genre Kriminalroman seit den 1970er Jahren in den Deutschunterricht integrieren konnte. Er greift dabei auf Quellen zurück, die zwar nicht als offizielle Veröffentlichungen des Bremer Kollektivs bezeichnet werden können, inhaltlich jedoch eindeutige Bezüge zu ihnen aufweisen. Unter anderem betrachtet er die ideologiekritische Perspektive Erika Dingeldeys, die beleuchtet, wie Kriminalromane auf der Differenz von Recht und Unrecht aufbauen, und somit die Verletzung gesellschaftlicher Normen und Werte als Basis für ihren Unterhaltungswert ausmacht. Außerdem wird Malte Dahrendorfs kritisch-liberale ←13 | 14→Ansicht auf Krimis erläutert, der davon ausgeht, dass Schule nicht nur zur Wissensvermittlung dienen, sondern ebenfalls Verhaltensweisen nahebringen soll, die als Grundlage gesellschaftlichen Zusammenlebens fungieren können: Hier seien Kriminalromane als diesbezüglich unterstützend anzusehen. Seidler kommt zu der Erkenntnis, dass Kriminalromane sich von stark kritisierten literarischen Gegenständen zu geeigneten Mitteln der Leseförderung entwickelt hätten. Diese Entwicklung habe besonders deshalb stattgefunden, da sich das Genre heute größter Popularität erfreut und somit auch Schülerinnen und Schüler erreichen könne, die sonst aus eher schrift- und lesefernen Welten stammten.

Der aktualisierend-applikative zweite Teil des Bandes diskutiert die Frage, was ‚uns‘ das Bremer Kollektiv auch heute noch, 50 Jahre nach seiner Gründung und Etablierung, zu sagen haben könnte. Den Anfang hierzu macht Cornelius Herz (Leibniz Universität Hannover). Er fragt in seinem Beitrag Kritik und Deutschdidaktik. Zwischen Mottenkiste und aktuellen Positionen, warum wir einerseits heute nicht mehr nach ‚der Ideologie‘ fragen (könnten), wo Kritik an sich andererseits aber doch immer noch aktuell sei. Um zu einer tragenden Antwort zu gelangen, bemüht er sich darum, zwischen diesen beiden (augenscheinlich binären) Polen in Bezug auf das Selbstverständnis nicht nur des Deutschunterrichtes, sondern gerade auch der Deutschdidaktik zu vermitteln. Grundlage seiner Untersuchung bildet die Aussage Henry A. Giroux’ (1994), dass Unterricht als kulturelle Praxis zu beschreiben sei, die nur unter besonderer Berücksichtigung von Geschichte, Politik, Macht und Kultur verstanden werden könne und derentwegen eine womöglich anzustrebende Neutralität bestimmter didaktischer Techniken zu bezweifeln sei. In seiner Diskussion dessen stellt Herz Kerngedanken der sogenannten (ideologie-)kritischen Deutschdidaktik der BRD der 1960er und 1970er vor und erörtert anschließend insbesondere Diskontinuitäten im Vergleich zu heute. Unter Bezug auf systemtheoretische Annahmen Niklas Luhmanns kann Herz schließlich aufzeigen, warum trotz aller Brüche Debatten um ‚eine (ideologie-)kritische Deutschdidaktik‘ bis heute nicht leicht zu führen, aber eben auch nicht unmöglich sind.

Steffen Gailberger (Bergische Universität Wuppertal) versucht sich in seinem Beitrag Was kann „Kritisches Lesen“ heute bedeuten? an einem Aktualisierungsversuch des politisch-kritischen Lesebegriffs des Bremer Kollektivs aus der Perspektive des Jahres 2020. Hierzu rekonstruiert er mithilfe der einschlägigen Texte von Bodo Lecke, Hans-Joachim Grünwaldt, Rudolf Wenzel oder Klaus Ehlert den kritischen Lesebegriff des Bremer Kollektivs, wie er nach 1970 hergeleitet wurde und im Laufe des Jahrzehnts großen Einfluss auf den damaligen Deutschunterricht gewann. Die hierbei immer ←14 | 15→wiederkehrenden Kernbegriffe des auffallend schmalen Lesebegriffs des Bremer Kollektivs lauten ‚absichtliche oder faktische Manipulation durch Sprache‘, Förderung von ‚Emanzipation‘, ‚Autonomie‘ und ‚Immunisierung gegen intentionale Herrschaftsausübung‘ oder ‚Entschleierung sprachlich verdeckter Intentionen‘, kurzum: die Förderung des ‚kritischen Denkens als fragende Haltung gegenüber Texten, Autoren und ihren (ideologischen und/oder wirtschaftlichen) Interessen‘. Dieses Ergebnis nimmt Gailberger zum Anlass, um mit Bezug auf die aktuellen medialen Phänomene ‚Fake News‘ und ‚Osmotische Werbung‘ (vornehmlich von Influencerinnen und Influencern) zu fragen, wie aktuell der kritische Lesebegriffs des Bremer Kollektivs (noch? oder wieder?) ist und welche Rolle er heute in einem fortschreitend zu digitalisierenden Deutschunterricht spielen sollte. Unter Rückgriff auf lesedidaktische, literaturwissenschaftliche und mediendidaktische Untersuchungen von Christmann/Groeben (2002), Rosebrock (2007), Martínez (2016) und Birkner et al. (2018) sowie unter Verwendung des vor kurzem vorgeschlagenen digitalen Textkompetenzbegriffs von Frederking/Krommer (2019) kommt er zu dem Ergebnis, dass uns auf dem Sektor der politischen Informationsverbreitung mit ‚Fake News‘ ein relativ neuartiges mediales Phänomen begegnet, das (neben anderen Auswirkungen) v.a. den Charakter öffentlicher Debatten und den Prozess der demokratischen Meinungsbildung nachhaltig verändert und dass ‚osmotische Werbung‘ (im Sinne Dorothee Meers) massiv Einfluss auf das Rezeptions- und Kaufverhalten von Kindern und Jugendlichen nimmt, so dass sich an der Relevanz des kritischen Lesens im Sinne des Bremer Kollektivs auch für das Jahr 2020 und folgende wenig geändert hat.

Matthis Kepser (Universität Bremen) plädiert in seinem Beitrag Wag the Dog und Save the Cat! Politische und cineastische Manipulationen im medienkritischen Sprachunterricht für die kritische Auseinandersetzung mit dem (Massen-) Medium Film im Deutschunterricht. Anders als die Autorinnen und Autoren des Bremer Kollektivs, die das Medium Film zwar als Teil der sog. Massenmedien wahrnahmen (und kritisierten), sich aber nicht wirklich tiefergehend mit diesem beschäftigten, steht Kepser der Auseinandersetzung mit Filmen im Unterricht positiv gegenüber und sieht in dieser unter anderem die Möglichkeit, demokratisches Bewusstsein bei Schülerinnen und Schülern auf- und auszubauen. Denn dies sei, so Kepser, weiterhin eine der wichtigsten Aufgaben der Schule und könne durch Filmbildung unterstützt werden. Zur Veranschaulichung dieser These fokussiert er die Politsatire Wag the Dog aus dem Jahr 1997 mit Robert de Niro und Dustin Hoffman in den Hauptrollen. Dabei geht er auf US-amerikanische medienpolitische Manipulationen vor, während und nach der Entstehung des Films sowie die Rolle des Journalismus ←15 | 16→ein und beleuchtet Vermarktungsmechanismen, die die Filmproduktion maßgeblich beeinflussen. Auf dieser Basis kommt Kepser zu dem Ergebnis, dass Filme – wie am Beispiel Wag the Dog verdeutlicht – ein hohes Potenzial für einen medienkritischen Deutschunterricht bergen und sowohl kompetenzorientiert kanalisiert als auch fächerübergreifend organisiert werden können.

Mit seinem Beitrag über Die Enthemmung des politischen Sprechens am Beispiel des parlamentarischen Zwischenrufs im sprachkritischen Deutschunterricht rekonstruiert und diskutiert Olaf Gätje (Universität Kassel) die sprach- und gesellschaftstheoretischen Grundannahmen des vom Bremer Kollektiv propagierten sprachsensiblen und ideologiekritischen Unterrichts mit dem Ziel, einen sprachsensiblen und ideologiekritischen Deutschunterricht des 21. Jahrhunderts in Aussicht zu stellen. Essentiell hierfür wird eine Reformulierung des in den Annahmen des Kollektivs zentralen Terminus der Ideologie, so dass dieser den heutigen gesellschaftlichen Anforderungen und Realitäten sowie der sprachlichen Bildung von Schülerinnen und Schülern gerecht werden kann. Am konkreten Beispiel der Redegattung des Parlamentarischen Zwischenrufes wird demonstriert, wie eine andere Ideologiekritik aussehen könnte und welche Implikationen dies für einen sprachsensiblen und ideologiekritischen Unterricht der Gegenwart bedeutete.

Details

Seiten
330
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631850251
ISBN (ePUB)
9783631850268
ISBN (MOBI)
9783631850275
ISBN (Hardcover)
9783631822883
DOI
10.3726/b18179
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Sprachsensibilität Geschichte des Deutschunterrichts Bremer Kollektiv politischer Deutschunterricht kritisches Lesen
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 330 S., 5 farb. Abb., 1 s/w Abb., 4 Tab.

Biographische Angaben

Steffen Gailberger (Band-Herausgeber:in) Ralph Köhnen (Band-Herausgeber:in)

Steffen Gailberger ist Professor an der Bergischen Universität Wuppertal und lehrt Literatur- und Lesedidaktik. Ralph Köhnen ist Oberstudienrat im Hochschuldienst an der Ruhr-Universität Bochum.

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Titel: Ideologiekritik und Deutschunterricht heute?
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