Lade Inhalt...

Zwischen Dokumentation und Fiktion: Die Kongoreise von André Gide und Marc Allégret

von Immanuel Seyferth (Autor:in)
©2020 Dissertation 236 Seiten
Reihe: Romania Viva, Band 31

Zusammenfassung

Im Jahr 1925 begeben sich André Gide und Marc Allégret auf eine zehnmonatige Reise nach Französisch-Westafrika. Was jedoch anfangs als „Vergnügungsreise" gedacht war, entwickelt sich schnell zu einem Politikum: Je weiter die Autoren voranschreiten, desto mehr werden sie der Ausbeutung und Unterdrückung der Einheimischen gewahr. Doch sind die Medien, die aus dieser Reise hervorgingen, darunter zahlreiche Fotografien und ein Film, deshalb schon antikolonialistisch? Im Anschluss an bekannte Theoreme der Hybriditätsforschung zeigt die vorliegende Arbeit, dass sich die Reisemedien weder als ausschließlich rassistische, noch als durchgehend „neutrale" Zeitzeugenberichte erweisen, sondern dass es gerade das Oszillieren zwischen eurozentrischen und altaristischen Wahrnehmungsmodi, zwischen fiktionalen und faktualen Diskursen ist, das die Faszination der Texte ausmacht. Erstmals wird dabei die Gesamtheit des reiseliterarischen Korpus in den Blick genommen und einer vergleichenden Analyse hinsichtlich der Wahrnehmung und Darstellung des Anderen unterzogen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 2 Bausteine einer Analyse des Fremderlebens: ausgewählte Positionen im Vergleich
  • 2.1 Der relationale Charakter von Fremdheit
  • 2.1.1 Fremdheit als Nichtzugehörigkeit: Soziale Fremdheit
  • 2.1.2 Fremdheit als Unvertrautheit: Lebensweltliche Fremdheit
  • 2.2 Zum Zusammenhang von Alterität und Identität
  • 2.3 Strategien im Umgang mit Alterität
  • 2.4 Fremdheit als Ressource und wie wir den „Bann der Aneignung“ brechen könnten
  • 2.5 Von Alterität zu Altarität? Das Hybriditätskonzept Alfonso de Toros
  • 3 Der Umgang mit Alterität bei Gide und Allégret
  • 3.1 Vorbemerkungen: Epistemologische Verortung des Reiseprojekts und Krise des Exotismus
  • 3.2 Der Umgang mit Alterität in Gides Voyage au Congo (1927)
  • 3.2.1 Zerstörung und Desillusionierung als Code für Authentizität?
  • 3.2.2 Gide und der Individualismus
  • 3.2.3 Der koloniale Diskurs
  • 3.2.4 Der politisch-humanitäre Diskurs und die Medien
  • 3.2.5 Zwischenfazit und Hinführung zum zweiten Bericht
  • 3.3 Kontinuitäten und Diskontinuitäten in Gides Le retour du Tchad (1928)
  • 3.3.1 Verschränkung der Ebenen
  • 3.3.2 Stimmungswechsel
  • 3.3.3 Wahrnehmungstheoretische Reflexionen
  • 3.3.4 Intermediale Verweise
  • 3.4 Der Reiseschriftsteller als Anthropologe? Allégrets Carnets du Congo (1987)
  • 3.4.1 Kurze Vorbemerkungen zum Autor
  • 3.4.2 „Une lecture conjugée“: Die Reiseberichte von Gide und Allégret im Vergleich
  • 1. Stilistik
  • 2. Naturbeschreibungen
  • 3. Beschreibung der einheimischen Bevölkerung
  • 4. Kolonialer Diskurs
  • 5. Politisches Engagement
  • 6. Intermediale Verweise
  • 3.5 Zwischen Scripted-Reality und Factual-Film: Gides und Allégrets Voyage au Congo (1927)62
  • 3.5.1 Inhalt und formaler Aufbau64
  • 3.5.2 Analyse
  • 1. Sequenz: Exposition
  • 2. Sequenz: Bangui
  • 3. Sequenz: Die Bayas
  • 4. Sequenz: Die Saras
  • 5. Sequenz: Die Massa
  • 6. Sequenz: Die Moundangs
  • 7. Sequenz: Die Foulbés
  • 3.6 Exkurs: Das Konzept des male gaze nach Laura Mulvey
  • 3.7 Wenn der Zwang zum Stil wird: Gides und Allégrets Édition de Luxe (1929)
  • 3.7.1 Formale Besonderheiten
  • 3.7.2 Analyse ausgewählter Fotografien
  • 4 Schlussbetrachtungen
  • Anhang
  • Anhangsverzeichnis
  • Anhang 1: Abkürzungsverzeichnis
  • Anhang 2: Literaturverzeichnis
  • Anhang 3: Filmverzeichnis
  • Anhang 4: Abbildungsverzeichnis
  • Reihenübersicht

1 Einleitung

Eine zentrale Erkenntnis postkolonialer Theorieforschung ist, dass sich Kolonisierung keineswegs in ihren „offenkundigen materiellen Seiten“ (Castro Varela / Dhawan 2015: 17) erschöpfte, also in „technisch-industrieller Überlegenheit, wirtschaftlicher Ausbeutung oder internationaler Konkurrenz“, wie Conrad (2012: 7) präzisiert. Vielmehr lagen der kolonialen Herrschaft eine Reihe ideologisch und kulturell geprägter Vorannahmen zugrunde (vgl. ebd.), eine „gewaltvolle Macht der Repräsentation“ (Castro Varela / Dhawan 2015: 17), ein augenscheinliches „Wahrheitssystem“ (Bhabha 2000: 104), das das koloniale Unternehmen überhaupt erst ermöglichte, da legitimierte – so Homi K. Bhabha (ebd.: 104) in Die Verortung der Kultur. Darin schlussfolgert er:

Um die Produktivität der kolonialen Macht zu verstehen, ist es entscheidend, ihr Wahrheitssystem zu (re)konstruieren, nicht, dessen Repräsentation einer normalisierenden Beurteilung zu unterziehen. Nur dann wird es möglich, die produktive Ambivalenz des Objekts des kolonialen Diskurses zu verstehen […]. (ebd.: 98–99; Hervorhebung im Original)

Die Bedeutung des kolonialen Diskurses für die Aufrechterhaltung von Macht gründete nicht zuletzt darin, dass ein Teil der Kolonisierten wesentliche Prämissen dieses „Wahrheitssystems“ akzeptierte. Dazu zählte auch die zentrale Annahme einer „universalen Entwicklung menschlicher Gesellschaften“ (Conrad 2012: 7) mit ihrer Einteilung der Menschen in „primitiv“ vs. „zivilisiert“ (vgl. ebd.). So gesehen war das Hauptanliegen des kolonialen Diskurses,

die Kolonisierten auf der Basis ihrer ethnischen Herkunft als aus lauter Degenerierten bestehende Bevölkerung darzustellen, um die Eroberung zu rechtfertigen und Systeme der Administration und Belehrung zu etablieren. (Bhabha 2000: 104)

Schließlich, so Conrad (2012: 7), diente das kulturell Andere stets auch als Projektionsfläche „[kolonialer] Sehnsüchte und Begierden, [Exotismen] und Unterwerfungsfantasien“, die das koloniale System zusätzlich forcierten. Diese und weitere eurozentrische Perspektiven zu rekonstruieren und zu hinterfragen, sei folglich ein dringendes Anliegen postkolonialer Theorien (gewesen).

Der erste, der in Anlehnung an Foucault die Diskursanalyse für die postkoloniale Theorie fruchtbar gemacht hat, ist Edward W. Said. Mit einem überwältigenden Textkorpus ist es ihm trotz der Kritik,1 die ihm Orientalism (1978) ←17 | 18→einbrachte, gelungen, darzustellen, wie der Orient vom Westen (neu) erfunden und somit einverleibt werden konnte (vgl. auch Castro Varela / Dhawan 2015: 95). Insofern

zählt, Orientalismus’ zu den Schlüsselkonzepten postkolonialer Theorie und nimmt mittlerweile die Position eines generischen Begriffs ein, der beschreibt, wie dominante Kulturen andere Kulturen repräsentieren und damit erstere wie letztere konstituieren. (ebd.: 95; Hervorhebung im Original)

Schon zu Beginn seines Werkes macht Said (2003: 5) klar, dass es sich beim Orient genauso wie beim Okzident um geographische, kulturelle und historische Einheiten handelt, um Konstrukte, die man mittels Geschichten, Symbolen oder aber Traditionen einer ganz bestimmten Logik unterzog – und das über mehrere Jahrhunderte hinweg: „Consider how the Orient, and in particular the Near Orient, became known in the West as its great complementary opposite since antiquity“ (ebd.: 58, vgl. auch S. 1). Zwar treffe man in den Gebieten, die gemeinhin als Orient umschrieben wurden (darunter der asiatische Osten, der islamische Bereich und alles, was darüber hinaus noch als fern und exotisch galt) auf eine konkrete Lebenswirklichkeit (vgl. ebd.: 5, 74–75). Said geht es allerdings darum, dass der Osten immer schon mehr bedeutete als das, was man empirisch über ihn wusste (vgl. ebd.: 55). Neben der „empiric reality“ bestand ganz essentiell auch eine „battery of desires, repressions, investments and projections“ (ebd.: 8), das heißt, der Orient wurde mit Assoziationen, Mythen sowie vermeintlich objektivem Wissen überformt und somit ein einheitliches Orientbild geschaffen (vgl. ebd.: 54, 60). Dennoch haben all diese Informationen über den Orient allgemeine Zustimmung gefunden und sich institutionell derartig verstetigt (vgl. ebd.: 2, 19–20) – befördert durch die massive Expansion der Orientalisitik im 18. und 19. Jahrhundert und die Autorität, die ihr als Disziplin zugeschrieben wurde2 –, dass ein wahres „system of knowledge about the orient“ ←18 | 19→anschwoll, „an accepted grid for filtering through the Orient into western consciousness […]“ (vgl. ebd.: 6).

Laut Said (vgl. ebd.) ist es jedoch ein Trugschluss, zu glauben, man müsse dementsprechend nur eine „richtige“ Geschichte des Orients schreiben und schon wäre dem Problem Genüge getan. Denn das Wissen, das über den Orient existiert, steht in einem engen Zusammenhang mit den Machtkonstellationen und Hegemonien, die sich schon seit Ende des 17. Jahrhunderts herausgebildet haben, als Briten und Franzosen anfingen, sich ausgehend vom östlichen Mittelmeerraum sukzessive den Orient einzuverleiben (vgl. ebd.: 17). Die Forschung, insbesondere über Indien und Ägypten, war in hohem Maße politisch durchdrungen; Autor/innen konnten als Vertreter/innen ihrer Nation nur innerhalb festgelegter Rahmenbedingungen schreiben (vgl. ebd.: 3, 11). Insofern ist der Orientalismus keine bloße Textsammlung, auch nicht das Ergebnis kultureller, wissenschaftlicher oder institutioneller Beschäftigung mit dem Orient, geschweige denn die Folge eines westlichen Komplotts zur Unterwerfung desselben (vgl. ebd.: 12). Stattdessen zeugen orientalistische Texte – egal, ob nun ästhetischer, wissenschaftlicher oder philologischer Natur – von klaren geopolitischen Interessen. Damit sind derartige Schriften keineswegs neutral, sondern reproduzieren den Orientdiskurs, indem sie mit textspezifischen Betrachtungsweisen, Strategien und Redemitteln den Orient kodieren (vgl. ebd.: 12, 21). Mit Saids eigenen Worten ist der Orientalismus

a distribution of geopolitical awareness into aesthetic, scholarly, economic, soiological, historical, and philological texts; it is an elaboration not only of a basic geographical distinction (the world is made up of two unequal halves, Orient and Occident) but also of a whole series of “interests” which, by such means as scholarly discovery, philological reconstruction, psychological analyses, landscape and sociological description, it not only creates but also maintains it; it is rather than expresses, a certain will or intention to understand, in some cases to control, manipulate, even to incorportate, what is a manifestly different (or alternative and novel) world; it is, above all, a discourse […] that is produced and exists in an uneven exchange with various kinds of power […]. (ebd.: 12; Hervorhebungen im Orignal)

Für die Zwecke der hier vorliegenden Arbeit entscheidend ist nun die Tatsache, dass der Orient nicht der einzige Ort zur Herstellung von Macht und Identität ist. Auch Afrika, vor allem Schwarzafrika, wird mit Beginn des 20. Jahrhunderts zur Projektionsfläche für Lüste und Begierden und als kultureller Ursprung ←19 | 20→Europas verherrlicht – so Irene Albers, Andrea Pagni und Ulrich Winter in ihrem 2002 erschienenen Sammelband Blicke auf Afrika nach 1900 (vgl. Albers et al. 2002: 10). Die Ambivalenz des „Primitiven“ als etwas, von dem Faszination und Furcht zugleich ausgehen, zeigt sich Albers et al. (ebd.: 10–11, 17) zufolge daran, dass das Prädikat „primitiv“ nicht nur den Status augenscheinlich verrohter, unterentwickelter Bevölkerungen meinte, sondern z. B. innerhalb der Avantgarden das Pendant eines als rationalistisch empfundenen Okzidents darstellte und damit eine positive Wertung erfuhr. Unter Berücksichtigung psychoanalytischer Kulturmodelle, so Albers et al. (ebd.: 11) weiter, wird die Beschäftigung mit dem afrikanischen oder lateinamerikanischen Kontinent zu einer Suche nach dem, was ins Unterbewusste verdrängt wurde, nämlich der „Energie des ‚Primitiven‘ “ (ebd.: 11).

Hinsichtlich des Forschungsstandes, über den nun ein kurzer Überblick gegeben werden soll, resümieren Albers et al. jedoch,

[dass] [man] sich im Gegensatz zum französischen ‚Orientalismus‘ des 19. Jahrhunderts und seiner charakteristischen Vermischung von Wissen, Ästhetik und Macht […] den vielfältigen ‚Blicken auf Afrika‘ nach 1900 noch vergleichsweise wenig gewidmet [hat]. (ebd.: 11–12)

In der Beschäftigung mit der französischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts beschränkte man sich zumeist auf den Umgang mit Stereotypen und Exotismen. Exemplarisch stehen hierfür Léon Fanoudh-Siefers 1968 entstandene Studie Le Mythe du nègre et de l’Afrique noire dans la littérature française (de 1800 à la Deuxième Guerre mondiale) oder aber Martine Astier Loutfis Schrift Littérature et Colonialisme – L’Expansion coloniale vue dans la littérature romanesque française 18711914 (1971), die sich einzelnen Romanen oder Gattungen wie der avantgardistischen Lyrik widmen (vgl. ebd.: 12). Dabei werde jedoch keine „diskursanalytische Perspektive eingenommen und nicht nach der spezifischen Leistung literarischer Texte, Gattungen und Darstellungsformen gegenüber anderen Textformen gefragt“ (ebd.: 13). Mit anderen Worten geht es Albers et al. (ebd.: 15–16) nicht nur um den ohnehin fragwürdigen Anspruch, aufzuzeigen, inwieweit die Texte französischer Autor/innen Vorurteilen und Exotismen „erliegen“, sondern zu überlegen, auf welche Weise sich der von Said und Jameson3 postulierte Zusammenhang zwischen Moderne und Kolonialismus, ←20 | 21→zwischen Avantgarde und Primitivismus in Kunst und Literatur niederschlägt. Beispielsweise würden sich Texte, die sich kritisch mit den kolonialen Unterfangen ihrer Zeit auseinandersetzen, durch Formen der Ironie auszeichnen.4 Auch der Zusammenhang zwischen Ethnologie, die sich ihrer eigenen Literarizität bewusst wird, und den literarischen Avantgarden, die sich ob ihres Interesses am kulturell Anderen umgekehrt durch eine starke Nähe zur Ethnologie auszeichnen, ermögliche einen neuen ‚Blick auf Afrika‘ (vgl. ebd.: 22–23).

Betrachten wir zunächst die Ethnologie: Sie als eine vor allem auch literarische Disziplin zu verstehen, die ihre eigene Handschrift, ihre Autorschaft und damit Subjektivität nicht einfach aus ihren Texten auszulöschen versucht, sondern sie als Chance begreift, mit ihrer eigenen Unsicherheit und ihren moralischen Dilemmata umzugehen, ist die große Leistung eines Clifford Geertz in seiner Studie Works and Lives: The Anthropologist as Author (1988).

Details

Seiten
236
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631824559
ISBN (ePUB)
9783631824566
ISBN (MOBI)
9783631824573
ISBN (Hardcover)
9783631824344
DOI
10.3726/b17059
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Mai)
Schlagworte
Postkoloniale Theorie Afrika Alterität Hybridität Reiseliteratur (anti-)koloniale Literatur Alteritätsdarstellungen Kongo
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 236 S., 38 s/w Abb.

Biographische Angaben

Immanuel Seyferth (Autor:in)

Immanuel Seyferth promovierte im Bereich der französischen Literatur- und Kulturwissenschaft und war Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik der Universität Leipzig.

Zurück

Titel: Zwischen Dokumentation und Fiktion: Die Kongoreise von André Gide und Marc Allégret
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
238 Seiten