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Strukturelle Vorgaben der Strafprozessordnung für die Vernehmung zur Sache

Die Entstehung der Vernehmungsstruktur des § 69 StPO unter besonderer Berücksichtigung der Teilhabemöglichkeiten der Verteidigung – zugleich eine Gegenüberstellung mit aussagepsychologischen Grundsätzen

von Martin Wilke (Autor:in)
©2020 Dissertation 232 Seiten

Zusammenfassung

Die zentrale Bedeutung des Zeugenbeweises steht in beachtenswertem Gegensatz zu den kargen gesetzlichen Regelungen zur Vernehmung. Nach § 69 StPO folgt auf einen anfänglichen Bericht nötigenfalls das Verhör. Zwar ist dem Verteidiger hierbei nach § 240 Abs. 2 StPO auf Verlangen zu gestatten, Fragen an den Zeugen zu richten. Nach herrschender Meinung soll er aber nur genau umrissene und inhaltlich beschränkte Fragen stellen dürfen. Zusammenhängende Erklärungen dürfe nur der Vorsitzende einfordern. Martin Wilke widmet sich der Frage, ob das Fragerecht des Verteidigers in der Hauptverhandlung in Anbetracht moderner gedächtnis- und aussagepsychologischer Erkenntnisse neu justiert werden muss. Er weist nach, dass das Fragerecht als umfassendes Recht zu verstehen ist, eine an aussagepsychologischen Erkenntnissen ausgerichtete, lenkende Gesprächsdynamik entwickeln und zusammenhängende Zeugenerklärungen einfordern zu dürfen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Teil: Einleitung und Problemstellung
  • A. Einführung
  • B. Aktueller Befund: Vernehmung vs. Befragung
  • I. Zeuge im Strafverfahren
  • II. Begriff der (Zeugen-)Vernehmung
  • III. Grundlage der Zeugenexploration: § 69 StPO
  • 1. Struktur des § 69
  • 2. Verständnis in Rspr. und Literatur
  • a) Veranlassung zum freien Zeugenbericht, § 69 Abs. 1 S. 1 StPO
  • b) Das Verhör, § 69 Abs. 2 S. 1 StPO
  • c) Zusammenfassung
  • IV. Teilhabe an der Zeugenexploration: § 240 Abs. 2 StPO
  • 1. Fragerecht nach § 240 Abs. 2 StPO als Einwirkungs- und Mitwirkungsrecht
  • 2. Aktuelles Verständnis: „Vernehmung“ vs. „Befragung“
  • V. Zusammenfassung und Fragen
  • VI. Gang der Untersuchung
  • 2. Teil: Historische Grundlegung
  • A. Befragungen im alten deutschen Recht bis zum Beginn der Neuzeit
  • I. Ausgestaltung von Befragungen in Germanischer Zeit
  • 1. Allgemeines Verfahren
  • 2. Beweisverfahren
  • a) Beweis durch Zeugen
  • b) Bedeutung und Ausgestaltung von Befragungen
  • II. Ausgestaltung von Befragungen in Fränkischer Zeit
  • 1. Veränderungen im allgemeinen (Beweis-)Verfahren
  • 2. „inquisitio“ und Herausbildung spezieller Verfahren
  • a) discussio testium im Zeugenverfahren
  • b) Inquisitionsbeweis im königsgerichtlichen Verfahren
  • c) inquisitio im Rügeverfahren
  • d) Bedeutung und Ausgestaltung von Befragungen
  • III. Ausgestaltung von Befragungen im weiteren Verlauf des Mittelalters
  • 1. Änderungen im allgemeinen (Beweis-)Verfahren
  • 2. Herausbildung formfreier Inquisitionsverfahren
  • a) Geständnis und Folter
  • b) Beweis durch Zeugen
  • c) Bedeutung und Ausgestaltung von Befragungen
  • IV. Ausgestaltung der Verteidigung und Teilhabemöglichkeiten an den Befragungen der Zeugen im alten deutschen Rechtsgang
  • V. Zusammenfassung
  • B. Befragungen in der Frühen Neuzeit bis zur Abschaffung der Folter
  • I. Constitutio Criminalis Carolina und „peinliche Frage“
  • 1. Grundzüge des Verfahrensrechts der CCC
  • 2. Beweissystem der Carolina
  • 3. Peinliche Befragung – Beschuldigtenverhör vor und nach der Folter
  • 4. Zeugenbeweis und Zeugenverhör
  • 5. Bedeutung und Ausgestaltung von Befragungen
  • 6. Ausgestaltung der Verteidigung und die Teilhabemöglichkeiten an der Befragung
  • II. Ausgestaltung von Befragungen im gemeinen Recht
  • 1. Fortbildung des Inquisitionsprozesses durch die Strafrechtswissenschaft
  • a) Generalinquisition und summarisches Verhör
  • b) Spezialinquisition und artikuliertes Verhör
  • aa) Artikuliertes Verhör des Inquisiten
  • (1) Carpzov
  • (2) Brunnemann
  • (3) Ludovici
  • bb) Artikuliertes Verhör der Zeugen
  • c) Ausgestaltung der Verteidigung und Teilhabemöglichkeiten an der Befragung der Zeugen
  • 2. Criminalordnung vor die Chur- und Neumark von 1717
  • a) Generalinquisition und summarisches Verhör
  • b) Spezialinquisition und artikuliertes Verhör
  • aa) Verhör des Inquisiten
  • bb) Artikuliertes Verhör der Zeugen
  • c) Ausgestaltung der Verteidigung und Teilhabemöglichkeiten an der Befragung der Zeugen
  • 3. Ausgestaltung von Befragungen im gemeinrechtlichen Inquisitionsprozess
  • C. Ausgestaltung von Befragungen nach Abschaffung der Folter
  • I. Vorverlagerung des summarischen Verhörs
  • 1. Aufgabe des artikulierten Verhörs
  • 2. Konsequenzen für Ausgestaltung der Befragungen
  • 3. Befragungen in der prCrimO 1805 und im StGB Bayern 1813
  • a) Ausgestaltung von Befragungen in der preußischen Criminalordnung von 1805
  • aa) Vernehmung des Angeschuldigten
  • bb) Zeugenvernehmung
  • b) Ein Vergleich: Befragungen im Bayerischen Strafgesetzbuch von 1813
  • 4. Zusammenfassung
  • II. Reformierung des Strafprozesses und die RStPO
  • 1. Reformgründe und Partikulargesetzgebungen
  • 2. Die RStPO
  • a) Verfahrensstruktur
  • b) Vernehmung des Zeugen zur Sache
  • III. Ausgestaltung der Verteidigung und die Teilhabemöglichkeit an der Zeugenbefragung nach Abschaffung der Folter
  • D. Zusammenfassung und Bewertung
  • 3. Teil: Psychologie der Zeugenbefragung – Gedächtnis- und Aussagepsychologie
  • A. Vernehmungsergebnis als Grundlage für den Prozessausgang
  • B. Das Gedächtnis und seine Fehleranfälligkeit
  • I. Ebenen des Gedächtnisses
  • II. Verfälschungsfaktoren
  • 1. Die Auskunftsperson
  • a) Wahrnehmung
  • b) Speicherung
  • c) Abruf
  • 2. Die Vernehmungsperson
  • III. Konsequenzen für die Ausgestaltung der Befragung
  • C. Effektive Gedächtnisexploration: (Erweitertes) Kognitives Interview
  • I. Grundform des Kognitiven Interviews
  • II. Erweitertes Kognitives Interview
  • III. Effektivität des (Erweiterten) Kognitiven Interviews
  • 1. Vergleichsmaßstab: Strukturiertes Interview
  • 2. Effektivität des Kognitiven Interviews
  • 3. Effektivität des Erweiterten Kognitiven Interviews
  • D. Zusammenfassung und Vergleich der Ergebnisse mit § 69 StPO
  • 4. Teil: Konsequenzen für das Fragerecht des Verteidigers
  • A. Auslegung des § 240 Abs. 2 StPO im Lichte des § 69 StPO
  • I. Grammatikalische und historische Auslegung
  • II. Teleologische Auslegung
  • III. Europarechtskonforme Auslegung
  • B. Fazit
  • Literaturverzeichnis

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1. Teil: Einleitung und Problemstellung

A. Einführung

Das vordringliche Ziel des Strafprozesses ist die Ermittlung der materiellen Wahrheit. Sie zu ergründen soll als prägender Grundgedanke1 durch alle Verfahrensstadien hin zu einem gerechten – das materielle Strafrecht verwirklichenden – Urteil führen.2 Die Hauptverhandlung als Kernstück des wahrheitssuchenden Strafprozesses soll dafür das Tatgeschehen endgültig aufklären und durch ihr prozessuales Regelungswerk die größtmögliche Gewähr für die Erforschung der Wahrheit und damit für ein gerechtes Strafurteil bieten.3

Die entscheidungserheblichen Tatsachen werden im Rahmen der Beweisaufnahme ermittelt; die so rekonstruierte Abbildung des wahren Sachverhalts dient der Überzeugungsbildung des Gerichts. Wahrheit als Zielvorgabe muss dabei zwangsläufig mit ihren limitierten Erkenntnismöglichkeiten kollidieren. Die Idealvorstellung von absoluter Wahrheitskenntnis in einem Strafprozess kann niemals erreicht werden. Menschliche Informationsverarbeitung ist fehleranfällig, die richterliche Beweiswürdigung dadurch mit einem Fehlerrisiko behaftet. Die Grenzen kognitiver Leistungsfähigkeit beeinflussen nachhaltig den Annäherungsprozess an das historische Tatgeschehen. Das der richterlichen Würdigung zugeführte Ergebnis der Beweisaufnahme kann nur die bestmögliche Rekonstruktion des tatsächlichen Sachverhalts sein.

Die notwenige Minimierung von Fehlerrisiken im Strafverfahren muss daher bei der richterlichen Entscheidungsgrundlage ansetzen. Das Gericht gewinnt ←9 | 10→seine freie, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpfte Überzeugung durch Bewertung der Sachverhaltsrekonstruktionen nach der Frage, ob diese das angeklagte Verhalten projizieren. Für den Angeklagten4 agiert der Verteidiger in der Hauptverhandlung. Er muss effektiv an der Rekonstruktion des Sachverhalts mitwirken können, um so Einfluss auf die Entscheidungsbildung auszuüben. Für ein gerechtes Urteil müssen die strafprozessualen Regelungen gleichsam beides verwirklichen: größtmögliche Gewähr für die Erforschung der Wahrheit und bestmögliche Verteidigung des Angeklagten.5 Bestmögliche Verteidigung setzt insbesondere wirksame Einwirkungsmöglichkeiten auf die Sachverhaltsfeststellungen voraus.

B. Aktueller Befund: Vernehmung vs. Befragung

Der wichtigste Faktor für die Sachverhaltserforschung ist nach wie vor der Zeuge.6 Als häufigstes Beweismittel7 im Strafprozess ist seine herausgehobene Bedeutung dokumentiert.8 Eine verlässliche Sachverhaltsaufklärung wäre ohne Zeugen größtenteils nicht möglich; unmittelbaren Informationen zu ←10 | 11→den relevanten – auch inneren9 – Tatvorgängen bleiben ohne Zeugenaussagen zumeist verschlossen. Urkunden- und Augenscheinsbeweis konservieren verfahrensrelevante Sachverhalte nur fragmentarisch.10 Erst die Aussagen der Zeugen können ein Bild von den entscheidenden Sachverhaltsmomenten vermitteln.

Die zentrale Bedeutung des Zeugenbeweises im Strafverfahren steht in beachtenswertem Gegensatz zu den kargen gesetzlichen Regelungen zur Abschöpfung dieses Beweismittels. Den Zeugen betreffende Vorschriften finden sich überwiegend im sechsten Abschnitt des Ersten Buchs der StPO (§§ 48 – 71) und umfassen – neben der Statuierung der Zeugenpflichten in § 48 StPO – im Wesentlichen seine Vereidigung und die verschiedenen Möglichkeiten der Zeugnis- bzw. Auskunftsverweigerung. Über die Vernehmung des Zeugen enthält die Strafprozessordnung nur die wenigen Bestimmungen der §§ 58, 68 – 69, 241a StPO.

I. Zeuge im Strafverfahren

Der Begriff des Zeugen ist im Gesetz nicht geregelt. Wer Zeuge in einem Strafverfahren ist kann formell oder materiell bestimmt werden. Materiell ist Zeuge eine Person, die Tatsachen wahrgenommen hat und über diese Auskunft geben kann.11 Die vorliegende Untersuchung indes richtet den Blick auf die formelle (Verfahrens-)Situation der Zeugenvernehmung in der Hauptverhandlung, für die einzig der formelle Zeugenbegriff Relevanz entfaltet, wonach Zeuge ist, wer vor Gericht in einem nicht gegen sich selbst gerichteten Verfahren über die Wahrnehmung von Tatsachen Auskunft nach den verfahrensrechtlichen Vorgaben geben soll.12 Strafprozessual wird der Auskunftsperson damit die Verfahrensrolle „Zeuge“ zugewiesen,13 wobei es irrelevant ist, ob eine Person tatsächlich die erwartete Auskunft über wahrgenommene Tatsachen gibt oder sie sich z. B. auf ein Zeugnisverweigerungsrecht beruft.

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Der für die Zuweisung der Zeugenrolle konstitutive, objektiv manifestierte Wille des zuständigen Strafverfolgungsorgans ist die Ladung bzw. der Beschluss zur Zeugenvernehmung.14 Dabei trifft den Zeugen vor Gericht und bei der Staatsanwaltschaft grundsätzlich die Pflicht, zur Vernehmung zu erscheinen und – wahrheitsgemäß15 – auszusagen.16 Mit dieser Pflicht korrespondiert die staatliche Befugnis zu ihrer zwangsweisen Durchsetzung.17 Die Auskunftspflicht kann entfallen, wenn eines der Weigerungsrechte nach den §§ 52 ff. StPO greift18, was zwar bereits bei der Prüfung etwaiger Zwangsmaßnahmen zu berücksichtigen ist,19 jedoch nicht von der Pflicht zum Erscheinen befreit.20

Der Zeuge tritt als persönliches Beweismittel erst durch seine Aussage in Funktion.21 Gegenstand der Zeugenaussage ist die Bekundung der persönlichen Wahrnehmung über einen in der Vergangenheit liegenden Vorgang.22 Der Zeuge soll Auskunft geben über die Wahrnehmung von Tatsachen,23 wobei es irrelevant ist, aus welchem Anlass er die Wahrnehmungen gemacht hat, über die er ←12 | 13→aussagen soll.24 Auch der Zeuge vom Hörensagen bekundet eigene Wahrnehmungen, nämlich solche, die jemand ihm gegenüber zu einem bestimmten Vorgang gemacht hat, weshalb auch er taugliches Beweismittel ist.25 Der Zeuge kann zudem über innere Tatsachen vernommen werden, soweit es sich um Vorgänge seines eigenen Bewusstseins handelt (sog. eigenpsychische Tatsachen).26 Vorgänge im Inneren eines anderen Menschen (sog. fremdpsychische Vorgänge)27 hingegen entziehen sich seiner Wahrnehmung.28 Insoweit dürfen nur diejenigen Tatsachen Gegenstand seiner Aussage sein, die Schlussfolgerungen auf fremdpsychische Vorgänge zulassen.29 Reine Werturteile, Meinungen oder Schlussfolgerungen zu wahrgenommenen Geschehnissen hingegen sollen grundsätzlich nicht Inhalt der Zeugenaussage sein können.30

Jede sinnliche Wahrnehmung für sich ist jedoch bereits mit subjektiver Wertung verbunden, weshalb auch die Wiedergabe an wahrgenommene (subjektive) Realität nie wertungsfrei erfolgen kann.31 Eine Aufspaltung der Aussage in Wahrnehmungs- und Schlussfolgerungsbestandteile ist daher schlicht nicht möglich.32 Den zulässigen Gegenstand der Zeugenaussage bestimmt mithin nicht eine Abgrenzung von Tatsachen oder Werturteilen, sondern vielmehr die Funktion des Zeugen im Strafprozess als Beweismittel zur Sachaufklärung.33 In dieser Funktion gibt der Zeuge Auskunft über den Inhalt seiner Erinnerung an ein subjektiv bewertetes tatsächliches Geschehen.34

Dazu fähig ist grundsätzlich jeder Mensch, der Wahrnehmungen machen und in irgendeiner Weise darüber Auskunft geben kann. Körperliche oder geistige Defizite führen nur dann zur Zeugenunfähigkeit, wenn eine eigene ←13 | 14→Wahrnehmung und ihre Wiedergabe vor Gericht nicht möglich sind.35 Kinder können grundsätzlich ohne festgelegtes Mindestalter Zeugen im Strafprozess sein, wenn eine verständliche Aussage zu erwarten ist.36 Die Aussagetüchtigkeit bei Kindern unter viereinhalb Jahren wird in der Regel jedoch nicht sehr ausgeprägt sein.37

II. Begriff der (Zeugen-)Vernehmung

Die verfahrensrelevanten Wahrnehmungen des Zeugen werden über seine Vernehmung in den Strafprozess transportiert. Diese war und ist der Mittelpunkt der gerichtlichen Beweiswürdigung; hier wird das Wissen des Zeugen abgeschöpft.

Was eine Vernehmung ist, wird vom Gesetz nicht definiert und ist eine der umstrittensten Fragen des Strafverfahrens der Gegenwart.38 Gleichwohl entfaltet die gegenwärtige Diskussion zur inhaltlichen Begriffsbestimmung für die hier interessierenden Fragen nach der Ausgestaltung der Zeugenvernehmung und der Teilhabemöglichkeit des Angeklagten und seiner Verteidigung – soweit erkennbar – keine Auswirkungen. Denn das Meinungsbild39 zur inhaltlichen Begriffsbestimmung konzentriert sich auf die Problematik der verdeckten Befragung40 und die Frage, welche (Verwertungs-)Konsequenzen die in der „heimlichen“ Befragung erlangten Informationen nach sich ziehen. Dabei erschöpft sich die Diskussion zum Vernehmungsbegriff in einer Gegenüberstellung des sog. formellen Vernehmungsbegriffs und des sog. materiellen bzw. funktionalen Vernehmungsbegriffs.

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Nach dem formellen Vernehmungsbegriff der Rechtsprechung41, dem auch Teile der Literatur folgen,42 versteht man unter einer Vernehmung eine Befragung, die von einem Repräsentanten des Staats in amtlicher Funktion mit dem Ziel der Gewinnung einer Aussage durchgeführt wird.43 Die maßgeblichen Kriterien sind hiernach die amtliche Funktion des Fragenden und deren Erkennbarkeit.

Im Unterschied dazu definiert der materielle Vernehmungsbegriff die Vernehmung als jede amtliche Befragung, die darauf gerichtet ist, dem Befragten Informationen zu entlocken.44 Maßgeblich ist nach dieser Auffassung also nicht der offene förmliche Charakter der Befragungssituation, sodass auch nicht öffentlich ermittelnde Beamte der Polizei oder verdeckte Ermittler eine offizielle Vernehmung vornehmen können und auch in diesen Fällen die erforderlichen Belehrungen zu erteilen sind. Ließe sich die verdeckte Befragung unter den Begriff der Vernehmung subsumieren, müsste der Befragte unter Umständen – und das wird bei der Auskunftsperson der Regelfall sein – auf sein Recht zur Aussageverweigerung hingewiesen werden.45 Unterbleibt die erforderliche Belehrung, könnten bei einer Aussageverweigerung in einer späteren förmlichen Vernehmung die in der verdeckten Befragung erlangten Informationen grundsätzlich nicht verwertet werden.

Den konträren Standpunkten scheint jedenfalls die Auffassung gemein, dass es sich bei einer Vernehmung um die (amtliche) Befragung eines Zeugen, Sachverständigen oder Beschuldigten46 im Rahmen und für die Zwecke des Strafprozesses – d. h. zur Aufklärung einer Straftat – handelt. Ob der Begriff der Vernehmung auch das offene Auftreten des Amtsträgers und die Erkennbarkeit des Zwecks der Befragung für die befragte Person verlangt, also die in der StPO de lege lata geregelte förmliche Vernehmung die einzige Form der Befragung im ←15 | 16→Strafverfahren ist – was die Untersuchung von Schumann nahelegt47 – kann für die vorliegende Arbeit außer Betracht bleiben. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bilden die förmliche Zeugenvernehmung im Rahmen der Hauptverhandlung, ihre Strukturvorgaben und die Teilhabemöglichkeiten des Angeklagten und seines Verteidigers. Fehlen derartige strukturelle Durchführungsregeln in Bezug auf die Vernehmung des Beschuldigten, enthält die StPO in den §§ 68, 68a, 68b, 69 StPO zumindest rudimentäre Vorschriften zum Ablauf der Zeugenvernehmung, sodass sich die Frage erübrigt, wie Gang und Inhalt einer solchen förmlichen Vernehmung des Zeugen von Gesetzes wegen ausgestaltet sein könnten. Eine Teilhabemöglichkeit des Angeklagten ist über § 240 Abs. 2 StPO nur im Rahmen der Hauptverhandlung vorgesehen, weshalb sich der Gegenstand der hiesigen Untersuchung auf das Zusammenspiel insbesondere der §§ 69, 240 StPO beschränkt.

Die Zeugenvernehmung verfolgt dabei einen anderen Zweck als die Vernehmung des Beschuldigten bzw. Angeklagten, da letztere keine Strafverfolgungsmaßnahme darstellt, sondern nach § 136 Abs. 2 StPO dem Beschuldigten die Gelegenheit zur Verteidigung gegenüber dem Tatvorwurf einräumen soll.48 Wie bereits erwähnt liegt der Zweck der Vernehmung des Zeugen hingegen in der „Erforschung der Wahrheit“. Zeugenvernehmung und Teilhabemöglichkeit müssen deshalb grundsätzlich das Ziel verfolgen, das tatsächliche Wissen der Auskunftsperson über den zu untersuchenden Vorgang so umfassend wie möglich in Erfahrung zu bringen. § 69 StPO gibt dem Vernehmenden eine Anleitung an die Hand, wie zu diesem Zwecke vorzugehen ist.

III. Grundlage der Zeugenexploration: § 69 StPO

1. Struktur des § 69

Der Wortlaut des § 69 StPO49 teilt die Vernehmung zur Sache in die anfängliche Entgegennahme des sog. zusammenhängenden Berichts (Abs. 1) und das ←16 | 17→darauffolgende sog. Verhör (Abs. 2).50 Der Gesetzgeber hat auf den ersten Blick mit § 69 StPO eine klare „Regieanweisung“ für die Vernehmung zur Sache gegeben: Danach muss und darf der Zeuge zunächst eigenständig und unbeeinflusst von Zwischenfragen im Zusammenhang angeben, was ihm vom Beweisthema bekannt ist. Erst im Anschluss daran setzt die Befragung zwecks weiterer Aufklärung und Vervollständigung ein.

Ausgehend vom Wortlaut der Norm wird den anfänglichen zusammenhängenden Erklärungen in der Zeugenaussage die größte Bedeutung beigemessen. Die Veranlassung des Zeugen, das, was ihm von dem Gegenstand seiner Vernehmung bekannt ist, im Zusammenhang anzugeben, bildet danach den Kern- und Ausgangspunkt der Zeugenvernehmung zur Sache. Aus Sicht des Gesetzes ist das Beweismittel des Zeugen nach Entgegennahme des freien Berichts prinzipiell erschöpft. Denn nur „nötigenfalls“ sind hiernach – zur Aufklärung und zur Vervollständigung der Aussage sowie zur Erforschung des Grundes, auf dem das Wissen des Zeugen beruht – weitere Fragen zu stellen (§ 69 Abs. 2).

2. Verständnis in Rspr. und Literatur
a) Veranlassung zum freien Zeugenbericht, § 69 Abs. 1 S. 1 StPO

Dieser von Gesetzes wegen vermittelte erste Eindruck deckt sich im Wesentlichen mit dem gegenwärtigen Verständnis der Normstruktur in Literatur und Rechtsprechung. Der zusammenhängende Bericht gilt unbestritten als das Kernstück51 der Zeugenvernehmung und allgemein als der beste Weg, um das für die Entscheidung bedeutsame Wissen des Zeugen vollständig und unverfälscht zu erfahren.52 Der Norm wird von der Rechtsprechung „grundsätzliche Bedeutung“53 zugesprochen. Der Bericht sei nicht nur Pflicht, sondern auch Recht des Zeugen, der seine Aussage nur verantworten könne, wenn er vollständig gehört worden sei.54 Dieser grundsätzliche Anspruch des Zeugen darauf, sein Wissen über den Gegenstand der Vernehmung unbeeinflusst von Fragen und Vorhalten selbstständig und im Zusammenhang abzugeben,55 soll auch im Falle seiner ←17 | 18→wiederholten Vernehmung in derselben Strafsache gelten.56 Über die unbeeinflusste zusammenhängende Zeugenerklärung soll erkennbar werden, was der Zeuge aus lebendiger Erinnerung weiß und was er erst bei Nachhilfe durch das Gericht bekunden kann.57 Damit kann dem Gericht und den anderen Verfahrensbeteiligten ein authentischer Eindruck vom wahrgenommenen Geschehen sowie von der Person und der Glaubwürdigkeit des Zeugen vermittelt werden.58 Erst hierdurch sollen Zuverlässigkeit des Zeugen und Beweiswert seiner Aussage richtig beurteilt werden können.

Ob § 69 Abs. 1 einen rigoros „freien“ Bericht verlangt, wird unterschiedlich bewertet, wobei der Diskurs auf Grundlage prozessökonomischer Erfahrungen bzw. Erwägungen und nicht vor dem Hintergrund aussagepsychologischer Erkenntnisse geführt wird. Das Meinungsspektrum ist vielschichtig und nicht schlechtweg harmonisch, lässt sich meines Erachtens aber im Wesentlichen in zwei Lager einteilen:

Auf der einen Seite finden sich diejenigen Standpunkte, nach denen die Ableistung eines freien, unbeeinflussten Zeugenberichts – jedenfalls unter gewissen Voraussetzungen – zu restringieren ist. Die Vorschrift des § 69 Abs. 1 schließe ganz allgemein nicht aus, dass der Zeuge während seiner Sachverhaltserläuterungen durch Zwischenfragen, Vorhalte früherer Aussagen, Angaben anderer Personen, Urkunden, Erfahrungstatsachen oder allgemeinkundigen Tatsachen und durch lenkende Hinweise unterbrochen wird, wenn das zur Erlangung einer wahrheitsgemäßen, klaren und vollständigen Aussage angemessen erscheint.59 Nach Dallinger dürfe man die Vorschrift nicht in „formalistischer Weise handhaben“.60 § 69 Abs. 1 StPO verlange außerdem nicht, dass Weitschweifigkeiten, Nebensächlichkeiten und offenbare Unwahrheiten in der Berichterstattung durch den Richter widerspruchslos hinzunehmen sind, nur um die zusammenhängende Schilderung des Zeugen nicht zu unterbrechen.61 Ob der Bericht eine Unterbrechung erfährt, wird in das Ermessen des Vernehmenden gestellt.62 Argumente für ihre Auffassung ←18 | 19→bleiben die Restriktionsbefürworter überwiegend schuldig; das Abstellen auf die Notwendigkeit, Nebensächlichkeiten und Weitschweifigkeiten in der Berichterstattung nach Bedarf abzuschneiden, deutet jedoch erkennbar auf prozessökonomischen Beweggründe hin. In Bezug auf die Vorhaltepraxis wird das Interesse an einer „zügigen Verfahrensführung“ sogar ausdrücklich hervorgehoben.63

Die wohl herrschende Auffassung hingegen sieht den Wortlaut des § 69 Abs. 1 StPO als bindende Vorgabe für eine sämtlich unbeeinflusste, zusammenhängende Sachdarstellung des Zeugen. Gerade abschweifende Berichtsinhalte könnten gewichtige Anhaltspunkte für die Glaub- oder Unglaubwürdigkeit eines Zeugen liefern.64 Die Vorschrift des § 69 Abs. 1 S. 1 StPO sei als Garant dafür gedacht, dass der Zeuge sein tatsächliches Wissen unbeeinflusst von Fragen und Vorhalten selbstständig und zusammenhängend wiedergeben kann. Vorhalte seien erst dann zulässig, wenn der Zeuge seine Erinnerung aus eigener Kraft ausgeschöpft hat.65 Zudem begründe ein Vorhalt – hier: früherer Aussagen – die Gefahr, dass sich der Zeuge durch seine frühere Aussage an seine bisherige Darstellung gebunden fühle und seine Unbefangenheit verliere.66

Ungeachtet dieser Unstimmigkeiten in Bezug auf die kategorische Einhaltung der „freien“ Berichterstattung besteht jedenfalls Einigkeit, dass das anfängliche Einfordern des freien Zeugenberichts unerlässlich ist. Die Vorschrift des § 69 Abs. 1 StPO gilt insoweit als zwingendes Recht;67 ihre Verletzung kann deshalb gerügt werden. Allein für den Fall, dass dem Zeugen eine zusammenhängende Aussage unmöglich ist, soll der Versuch genügen, den Zeugen zu einem freien Bericht zu veranlassen.68

←19 | 20→

Weitgehend diskussionslos wird auch die mit dem Wortlaut vorgefundene strikte Zweiteilung der Zeugenvernehmung in freien Bericht und anschließendes „Verhör“ angenommen und ihre Einhaltung wird als zwingend69, unverzichtbar70 und revisibel71 angesehen, da durch ihre Nichtbeachtung die Wahrheitsfindung erheblich beeinträchtigt werden könne.72 Danach hat der Zeuge sein Wissen zunächst im Zusammenhang anzugeben, während ihm erst anschließend im Verhör (ergänzende) Fragen gestellt werden dürfen.73

b) Das Verhör, § 69 Abs. 2 S. 1 StPO

Erst wenn der Zeuge seinen zusammenhängenden Bericht abgeschlossen hat oder ihm aus Gründen, die in seiner Person liegen, ein solcher nicht möglich ist (z. B. aufgrund von Gedächtnis- oder Geistesschwäche) sollen weitere (Anstoß-)Fragen an den Zeugen ggf. erforderlich74 und auch erst ab diesem Zeitpunkt zulässig sein.75 Das Verhör in § 69 Abs. 2 S. 1 StPO bezweckt also – so die einhellige Auffassung – lediglich die Vervollständigung des Berichts.76 Durch die ergänzenden Fragen sollen Unklarheiten und Widersprüche beseitigt und Lücken in der Aussage geschlossen werden. Außerdem soll geklärt werden, was der Zeuge auf Grund eigener Wahrnehmung weiß und was er lediglich durch andere erfahren oder durch eigene Schlussfolgerungen zusammengesetzt hat.77 Im Rahmen der Befragung sei es dann nicht zu beanstanden, wenn der Tatrichter nach längeren (erfolglosen) Versuchen zur Herbeiführung einer zusammenhängenden ←20 | 21→Aussage zum Zwecke der Aufklärung von der Möglichkeit der §§ 69 Abs. 2, 253 StPO durch Vorhalte und Fragen Gebrauch macht.

Von wesentlicher Bedeutung seien (auch) in diesem Zusammenhang Vorhalte, die sich auf Beweisgegenstände, frühere eigene Aussagen und Angaben anderer Auskunftspersonen, sonstige Beweisergebnisse, eigenes Wissen des Vernehmenden und offenkundige Tatsachen erstrecken können.78

c) Zusammenfassung

Es lässt sich festhalten, dass die strikte Vorgabe des Gesetzestextes die Interpretation des § 69 StPO bestimmt. Rechtsprechung und Literatur heben übereinstimmend die herausragende Bedeutung des freien Berichts hervor. Praxisempfehlungen legen der Verteidigung zudem nahe, darauf zu achten, dass die Vernehmung nicht in ein „Frage-Antwort-Spiel mit dem Vorsitzenden“ übergehe,79 worauf mit „äußerster Strenge“80 durch den Verteidiger hingewirkt werden müsse.81 Erst dann, wenn ein zusammenhängender Bericht nicht zu erlangen sei oder dieser erschöpfend vorliege, seien weitere Fragen an den Zeugen zulässig.82

Die Bedeutung der Vorschrift des § 69 Abs. 1 StPO wird also gerade in der Herbeiführung einer eigenen zusammenhängenden und erschöpfenden (!) Sachverhaltsdarstellung des Zeugen erblickt, die zur freien Beweiswürdigung durch das Gericht unerlässlich sei.83 Erst hiernach dürfe eine Befragung einsetzen. Auch die Ansicht, die Vorhalte und Anstoßfragen während des Berichts in Ausnahmefällen für zulässig erachtet, betont im Übrigen – in Übereinstimmung mit den Gegenstimmen – die grundsätzliche Notwendigkeit des unbeeinflussten freien Berichts. Die Vorschrift gilt auch im Kreuzverhör (§ 239) sowie dann, wenn der Vorsitzende den Verfahrensbeteiligten die Vernehmung überlässt, was z.B. bei präsenten Zeugen (§ 245) nicht selten geschehe.84

Auffallend ist, dass in der Diskussion bei der Auslegung der Kommunikationsvorgabe des § 69 Abs. 1 StPO Grundsätze der Vernehmungs- und ←21 | 22→Aussagepsychologie nahezu vollständig außer Acht bleiben.85 Nur gelegentlich findet sich der Hinweis, die traditionelle Zweiteilung in § 69 StPO entspreche aussagepsychologischen Grundsätzen86 bzw. die Norm enthalte rudimentäre Aspekte der Vernehmungslehre.87 Dieser Befund konzentriert sich indes allein auf die dem freien Bericht mit § 69 Abs. 1 StPO eingeräumte zentrale Stellung innerhalb des Vernehmungsablaufs. Ob der Einschätzung des Gesetzes, weitere Fragen seien nur „nötigenfalls“ zu stellen, ebenfalls Erkenntnisse der Vernehmungs- und Aussagepsychologie zugrunde liegen und das Beweismittel des Zeugen mit der Ableistung seiner freien Geschichtserzählung grundsätzlich als erschöpft gelten muss, wird nicht diskutiert.

IV. Teilhabe an der Zeugenexploration: § 240 Abs. 2 StPO

1. Fragerecht nach § 240 Abs. 2 StPO als Einwirkungs- und Mitwirkungsrecht

Das entscheidende Einwirkungs- und Mitwirkungsrecht des Angeklagten und seiner Verteidigung an der Zeugenexploration bildet das Fragerecht nach § 240 Abs. 2 StPO. Es dient der umfassenden Sachaufklärung und damit dem übergeordneten Ziel des Strafverfahrens, der Ermittlung der Wahrheit.88 Als eine für ein rechtsstaatliches Verfahren grundlegende Befugnis89 soll es den Prozessbeteiligten ermöglichen, von sich aus aktiv die vollständige Erörterung des Verfahrensgegenstandes und auf die bestmögliche Ausschöpfung der persönlichen Beweismittel „in jede Richtung“90 hinzuwirken. Für den Verteidiger bildet sein Fragerecht die notwendige Voraussetzung, um die Verteidigung effektiv führen ←22 | 23→zu können.91 Erst die Ausübung des Fragerechts in angemessener Form trägt entscheidend dazu bei, dass die Hauptverhandlung den Erfordernissen eines rechtsstaatlichen fairen Verfahrens im Sinne des Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) genügt, in dem alle Umstände angesprochen werden können, die einem Beteiligten wichtig erscheinen.92

2. Aktuelles Verständnis: „Vernehmung“ vs. „Befragung“

Das überwiegende Verständnis der Regelung in § 240 Abs. 2 StPO ist offenbar eindeutig: Es wird davon ausgegangen, der Fragende müsse einzelne, genau umrissene und auf einen bestimmten Sachumstand beschränkte Fragen stellen. Er sei nicht berechtigt, zusammenhängende Erklärungen über einen ganzen Tatsachenkomplex zu verlangen, denn die Befragung dürfe nicht zur Vernehmung werden.93 Während der Richter nach § 69 Abs. 1 S. 1 StPO berechtigt und verpflichtet sei, den Zeugen zu einem freien Bericht zu veranlassen, d. h. ihn zu „vernehmen“,94 gestatte § 240 Abs. 2 StPO lediglich das Recht zur Fragestellung. Bei dem Erwirken von zusammenhängenden Berichten handele es sich um eine allein dem Vorsitzenden obliegende Vernehmung.95

Soweit ersichtlich scheint in der Rechtsprechung hiervon einzig das Landgericht Essen abzuweichen, das mit Beschluss vom 27. November 1990 konstatierte, dass allen Verfahrensbeteiligten zunächst das Recht zustünde, „unter Beachtung der Grundsätze der StPO §§ 69, 136, den Zeugen nach seiner jetzigen Erinnerung zu befragen“.96 Erst nachdem allen Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit zuteil geworden sei, „die Erinnerung des Zeugen abzufragen“, dürften ←23 | 24→dem Zeugen Vorbehalte aus früheren Vernehmungen gemacht werden. Dies gebiete der Grundsatz der Chancengleichheit.

Die Engführung des Fragerechts wird von Teilen der Literatur kritisiert. Das formale Argument, eine Befragung sei keine Vernehmung, überzeuge vor dem Hintergrund nicht, dass § 69 StPO gerade als die zweckmäßigste Form der wahrheitserforschenden Einvernahme anerkannt sei.97

Hingewiesen wird auch darauf, dass es wie bei der aussagepsychologischen Exploration Ziel der Verteidigervernehmung sei, möglichst umfassendes Aussagematerial zu produzieren. Hierzu gehörten auch das Abfragen der Entstehung und Entwicklung der Beschuldigung sowie der Versuch der Erfassung der kognitiven Fähigkeiten des Zeugen. In dieser Konstellation gebe es keinen substantiellen Unterschied zwischen der Vernehmung durch den Verteidiger und der Befragung durch aussagepsychologische Sachverständige.98

Andere Teile der Literatur wiederum vertreten die Auffassung, es sei der Verteidigung in Ausübung ihres Fragerechts jedenfalls nicht verwehrt, auf einen zusammenhängenden Zeugenbericht hinzuwirken, sofern die befragte Auskunftsperson auf einen bislang noch nicht erörterten Themenbereich angesprochen wird.99 Teilweise wird zudem bemerkt, eine nach der Methode des kognitiven Interviews durchgeführte „Befragung“ durch den Rechtsanwalt könne vom Richter kaum beanstandet werden, da der Anwalt lediglich von seinem Fragerecht Gebrauch mache.100 Schließlich weist Prüfer – allerdings begründungslos – daraufhin, die Verteidiger könnten im Falle des von Richterseite versäumten Einforderns des freien Zeugenberichts durch Anstoßfragen zunächst „das, was die Vorgänger etwa versäumt haben, in beschränktem Umfang nachholen, indem sie als letzte den Zeugen berichten lassen“.101

V. Zusammenfassung und Fragen

Eine Zusammenschau der vorstehenden Diskussionen und Auffassungen zeichnet folgendes Bild: Rechtsprechung und Literatur untermauern die in § 69 Abs. 1 und Abs. 2 StPO vorgenommene Wertung des Gesetzes und heben die generelle ←24 | 25→Bedeutung des freien Zeugenberichts für die Sachverhaltsermittlung hervor. Die Bedeutung der Vorschrift des § 69 Abs. 1 StPO liegt nach einhelliger Auffassung gerade in der eigenen zusammenhängenden und erschöpfenden Sachverhaltsdarstellung des Zeugen. Das „nötigenfalls“ zum Zwecke der Vervollständigung und Überprüfung der freien Geschichtserzählung durchzuführende Verhör dürfe grundsätzlich erst einsetzen, wenn der freie Bericht abgeschlossen oder nicht zu erlangen ist. Diese strikte Zweiteilung der Zeugenvernehmung, insbesondere die Betonung der unbeeinflussten Berichterstattung, entspreche heutigen Grundanforderungen der Aussagepsychologie.

Dieser Befund, dass die in § 69 StPO normierte Vernehmungsstruktur aussagepsychologische Erkenntnisse abbildet, erscheint schon vor dem Hintergrund überprüfenswert, dass die ältere Aussagepsychologie ihre Anfänge erst um das Jahr 1900102 nimmt und die Forschung sich zu dieser Zeit naturgemäß noch in einer experimentellen Frühphase befand. Eine eigentliche empirische Fundierung setzte erst ab den 1950er Jahren ein.103 Der heutige § 69 wurde bereits 1877 – als damaliger § 68 mit einem nahezu identischen Wortlaut104 – in die Strafprozeßordnung aufgenommen. Aspekte der Aussagepsychologie können auf den Gesetzgebungsprozess keinen Einfluss genommen haben. Daher stellt sich zunächst die Frage, welche gesetzgeberischen Motive die Normierung der zweigeteilten Vernehmungsstruktur für die Zeugenvernehmung begleiteten und welche konkrete Form der Befragung der Gesetzgeber im Kopf hatte. Außerdem muss überprüft werden, ob die strukturelle Zweiteilung der Vernehmung tatsächlich aussagepsychologische Grundsätze wiederspiegelt.

Details

Seiten
232
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631813331
ISBN (ePUB)
9783631813348
ISBN (MOBI)
9783631813355
ISBN (Hardcover)
9783631802670
DOI
10.3726/b16590
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Januar)
Schlagworte
Strafprozessrecht Zeugenvernehmung Aussagepsychologie Strafverteidigung Fragerecht
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 232 S.

Biographische Angaben

Martin Wilke (Autor:in)

Martin Wilke studierte Rechtswissenschaften an der Philipps-Universität Marburg und der Universität zu Köln. Parallel hierzu verfasste er seine Dissertation. Den Schwerpunkt seines Referendariats legte er in den Bereich der Strafverteidigung. Martin Wilke ist Rechtsanwalt und Lehrbeauftragter für Straf- und Strafprozessrecht.

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Titel: Strukturelle Vorgaben der Strafprozessordnung für die Vernehmung zur Sache
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