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Erwerb des wissenschaftlichen Schreibens in der Fremdsprache Deutsch

von Lissette Mächler (Autor:in)
©2020 Dissertation 384 Seiten

Zusammenfassung

Beim wissenschaftlichen Schreiben handelt es sich um eine Kompetenz, die Studierende im Laufe ihres Studiums erwerben. Ziel der Studie ist es, den Erwerb des wissenschaftlichen Schreibens in Deutsch als Fremdsprache im Falle von sprach- und kulturübergreifenden akademischen Schreibbiografien zu rekonstruieren. Die linguistische Analyse konzentriert sich auf die „wissenschaftlichen Textprozeduren". Die Ergebnisse zeigen zwei Erwerbstypologien: 1.) Die Studierenden sind in der Lage, einen Teil ihrer wissenschaftssprachlichen Kompetenzen aus der Muttersprache auf das Schreiben in der Fremdsprache zu übertragen. 2.) In einigen Fällen fängt der wissenschaftssprachliche Erwerbsprozess in der Fremdsprache Deutsch von vorne an. Dies erfordert eine L2-spezifische wissenschaftssprachliche Didaktik.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung – Beschreibung der Untersuchung
  • Teil I: Forschungsüberblick und Theorie
  • 2. Verständnis von Wissenschaftlichkeit beim Schreiben
  • 2.1 Einführung in die Thematik
  • 2.2 Zur Spezifik des wissenschaftlichen Schreibens
  • 2.2.1 Zur Spezifik des wissenschaftlichen Schreibens im kolumbianischen Hochschulraum
  • 2.2.2 Zur Spezifik des wissenschaftlichen Schreibens im deutschsprachigen Hochschulraum
  • 2.3 Zu den Besonderheiten des Fremdsprachenerwerbs
  • 2.4 Zusammenfassung
  • 3. Forschungsstand
  • 3.1 Zur Kulturspezifik wissenschaftlichen Schreibens
  • 3.2 Zum wissenschaftlichen Schreiben in der Fremdsprache Deutsch
  • 3.3 Zum Erwerb wissenschaftlichen Schreibens
  • 3.4 Zusammenfassung
  • Teil II: Empirische Untersuchung
  • 4. Methodik
  • 4.1 Fragestellung, Untersuchungsdesign und Datenerhebung
  • 4.2 Datenaufbereitung
  • 4.3 Datenauswertung
  • 5. Das Korpus: Die Lernertexte
  • 5.1 Textsortenbeschreibung
  • 5.1.1 Die kolumbianische Abschlussarbeit
  • 5.1.2 Die deutschsprachige Seminararbeit
  • 5.1.3 Die deutschsprachige Masterarbeit
  • 5.2 Beschreibung der Lernertexte
  • 5.2.1 Die Texte von FB1
  • 5.2.2 Die Texte von FB2
  • 5.2.3 Die Texte von FB3
  • 5.2.4 Die Texte von FB4
  • Teil III: Analyse und Ergebnisdarstellung
  • 6. Wissenschaftliche Verfasserreferenz in der Fremdsprache Deutsch
  • 6.1 Zur Rolle der Verfasserreferenz in wissenschaftlichen Texten
  • 6.2 Realisierung verfasserreferentieller Textprozeduren in den Lernertexten
  • 6.2.1 Spanischsprachige Verfasserreferenz in den Abschlussarbeiten
  • 6.2.1.1 Wissenschaftssprachliche Verfasserreferenz
  • 6.2.1.2 Alltagssprachliche Verfasserreferenz
  • 6.2.2 Deutschsprachige Verfasserreferenz in den Seminararbeiten
  • 6.2.2.1 Wissenschaftssprachliche Verfasserreferenz
  • 6.2.2.2 Alltagssprachliche Verfasserreferenz
  • 6.2.3 Deutschsprachige Verfasserreferenz in den Masterarbeiten
  • 6.2.3.1 Wissenschaftssprachliche Verfasserreferenz
  • 6.2.3.2 Alltagssprachliche Verfasserreferenz
  • 6.3 Erwerb der Verfasserreferenz in der Fremdsprache Deutsch
  • 6.3.1 Frequenzanalyse verfasserreferentieller Textprozeduren
  • 6.3.2 Rekonstruktion des Erwerbsprozesses der wissenschaftlichen Verfasserreferenz
  • 6.4 Zusammenfassung
  • 7. Wissenschaftliche Intertextualität in der Fremdsprache Deutsch
  • 7.1 Zur Rolle der Intertextualität in wissenschaftlichen Texten
  • 7.2 Realisierung intertextueller Textprozeduren in den Lernertexten
  • 7.2.1 Spanischsprachige Intertextualität in den Abschlussarbeiten
  • 7.2.1.1 Fortgeschrittene Intertextualität
  • 7.2.1.2 Anfängliche Intertextualität
  • 7.2.2 Deutschsprachige Intertextualität in den Seminararbeiten
  • 7.2.2.1 Fortgeschrittene Intertextualität
  • 7.2.2.2 Anfängliche Intertextualität
  • 7.2.3 Deutschsprachige Intertextualität in den Masterarbeiten
  • 7.2.3.1 Fortgeschrittene Intertextualität
  • 7.2.3.2 Anfängliche Intertextualität
  • 7.3 Erwerb der Intertextualität in der Fremdsprache Deutsch
  • 7.3.1 Frequenzanalyse intertextueller Textprozeduren
  • 7.3.2 Rekonstruktion des Erwerbsprozesses der wissenschaftlichen Intertextualität
  • 7.4 Zusammenfassung
  • 8. Wissenschaftliche konzessive Argumentation in der Fremdsprache Deutsch
  • 8.1 Zur Rolle der konzessiven Argumentation in wissenschaftlichen Texten
  • 8.2 Realisierung konzessiv argumentierender Textprozeduren in den Lernertexten
  • 8.2.1 Spanischsprachige konzessive Argumentation in den Abschlussarbeiten
  • 8.2.1.1 Wissenschaftliche konzessive Argumentation
  • 8.2.1.2 Alltägliche konzessive Argumentation
  • 8.2.2 Deutschsprachige konzessive Argumentation in den Seminararbeiten
  • 8.2.2.1 Wissenschaftliche konzessive Argumentation
  • 8.2.2.2 Alltägliche konzessive Argumentation
  • 8.2.3 Deutschsprachige konzessive Argumentation in den Masterarbeiten
  • 8.2.3.1 Wissenschaftliche konzessive Argumentation
  • 8.2.3.2 Alltägliche konzessive Argumentation
  • 8.3 Erwerb der konzessiven Argumentation in der Fremdsprache Deutsch
  • 8.3.1 Frequenzanalyse konzessiv argumentierender Textprozeduren
  • 8.3.2 Rekonstruktion des Erwerbsprozesses der konzessiven Argumentation
  • 8.4 Zusammenfassung
  • 9. Wissenschaftliche Kritik in der Fremdsprache Deutsch
  • 9.1 Zur Rolle der Kritik in wissenschaftlichen Texten
  • 9.2 Realisierung kritischer Textprozeduren in den Lernertexten
  • 9.2.1 Spanischsprachige Kritik in den Abschlussarbeiten
  • 9.2.1.1 Kritikmuster „Forschungsliteratur“
  • 9.2.1.2 Kritikmuster „eigene Untersuchung“
  • 9.2.1.3 Kritikmuster „berufsorientierte Perspektive“
  • 9.2.1.4 Kritikmuster „narrative Perspektive“
  • 9.2.2 Deutschsprachige Kritik in den Seminararbeiten
  • 9.2.2.1 Kritikmuster „Forschungsliteratur“
  • 9.2.2.2 Kritikmuster „eigene Untersuchung“
  • 9.2.2.3 Kritikmuster „berufsorientierte Perspektive“
  • 9.2.2.4 Kritikmuster „narrative Perspektive“
  • 9.2.3 Deutschsprachige Kritik in den Masterarbeiten
  • 9.2.3.1 Kritikmuster „Forschungsliteratur“
  • 9.2.3.2 Kritikmuster „eigene Untersuchung“
  • 9.2.3.3 Kritikmuster „berufsorientierte Perspektive“
  • 9.2.3.4 Kritikmuster „narrative Perspektive“
  • 9.3 Erwerb der Kritik in der Fremdsprache Deutsch
  • 9.3.1 Frequenzanalyse kritischer Textprozeduren
  • 9.3.2 Rekonstruktion des Erwerbsprozesses der wissenschaftlichen Kritik
  • 9.4 Zusammenfassung
  • 10. Wissenschaftliche Begriffsbildung in der Fremdsprache Deutsch
  • 10.1 Zur Rolle der Begriffsbildung in wissenschaftlichen Texten
  • 10.2 Realisierung begriffsbildender Textprozeduren in den Lernertexten
  • 10.2.1 Spanischsprachige Begriffsbildung in den Abschlussarbeiten
  • 10.2.1.1 Wissenschaftliche Begriffsbildung
  • 10.2.1.2 Alltägliche Begriffsbildung
  • 10.2.2 Deutschsprachige Begriffsbildung in den Seminararbeiten
  • 10.2.2.1 Wissenschaftliche Begriffsbildung
  • 10.2.2.2 Alltägliche Begriffsbildung
  • 10.2.3 Deutschsprachige Begriffsbildung in den Masterarbeiten
  • 10.2.3.1 Wissenschaftliche Begriffsbildung
  • 10.2.3.2 Alltägliche Begriffsbildung
  • 10.3 Erwerb der Begriffsbildung in der Fremdsprache Deutsch
  • 10.3.1 Frequenzanalyse begriffsbildender Textprozeduren
  • 10.3.2 Rekonstruktion des Erwerbsprozesses der wissenschaftlichen Begriffsbildung
  • 10.4 Zusammenfassung
  • 11. Fazit und didaktische Implikationen
  • 11.1 Untersuchungsergebnisse
  • 11.2 Erwerbstypologien des wissenschaftlichen Schreibens in der Fremdsprache Deutsch
  • 11.2.1 Erwerbstypologie „Verlust“ + „Neuerwerb“
  • 11.2.2. Erwerbstypologie „Ressourcenanwendung“
  • 11.3 Didaktische Implikationen
  • 11.3.1 Grundsätzliche Überlegungen zu einer L2-Schreibdidaktik
  • 11.3.2 Materialentwicklung und methodisches Instrumentarium
  • 11.3.3 Hochschulpolitische Maßnahmen
  • 11.4 Weitere Forschungsdesiderata
  • 12. Anhänge
  • Abbildungsverzeichnis
  • Tabellenverzeichnis
  • Verzeichnis der Textbeispiele
  • Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

←14 | 15→

1. Einleitung – Beschreibung der Untersuchung

Ich erläutere kurz das Szenario, das die Ausgangssituation für die vorliegende Untersuchung bildet: Eine Person – die ich „Maria“ nennen möchte – wird an einer kolumbianischen Hochschule als DaF-Lehrkraft ausgebildet. Anschließend entscheidet sie sich, ein Masterstudium in Deutschland zu absolvieren. Im Laufe ihres universitären Lebens in Kolumbien hat sich Maria aufgrund des Besuchs von universitären Veranstaltungen, der Rezeption der Forschungsliteratur, der Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Themen und der Diskussion mit Kommilitonen1 bestimmte Kompetenzen angeeignet, die sich u.a. in ihren akademischen Texten erkennen lassen. In ihrer auf Spanisch verfassten Abschlussarbeit stellt sie diese Kompetenzen unter Beweis: Sie weiß bereits, wie sie mit der Forschungsliteratur umzugehen hat, erkennt möglicherweise den Unterschied zwischen Alltagswissen und Forschungswissen, ist sich dessen bewusst, dass die aktive Auseinandersetzung mit der Fachliteratur mit der Kritik an wissenschaftlichen Theorien und Autoren einhergeht und dass sie eine eigene „Autorin-Stimme“ hat. Bei der Aufnahme ihres deutschsprachigen Masterstudiums wird sie möglicherweise auf diese wissenschaftlichen Kompetenzen zurückgreifen. Aber auch im Laufe des Besuchs der deutschen Hochschule wird sie neue akademische Erfahrungen sammeln, die sich ebenfalls auf ihre Textproduktion auswirken werden. Im Laufe ihres deutschsprachigen Masterstudiums wird sie neue Textsorten wie die Seminararbeit kennenlernen und diese auf Deutsch produzieren, bis sie in der Lage ist, ihre größte akademische Leistung im Rahmen des Masterstudiengangs zu erbringen, nämlich die Masterarbeit in der Fremdsprache Deutsch zu verfassen. Das, was soeben kurz geschildert wurde, ist die kulturübergreifende und zweisprachige akademische Biographie einer kolumbianischen Studentin. Die Texte, die diese Studentin im Laufe der skizzierten Hochschullaufbahn verfasst hat, bilden den Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Studie.

Die vorliegende Forschungsarbeit widmet sich der Frage, wie wissenschaftliches Schreiben in der Fremdsprache Deutsch erworben wird. Wissenschaftliches ←15 | 16→Schreiben wird in der neueren Schreibforschung als Handlungskompetenz aufgefasst, die sich als „Entfaltungs-“ oder „Aneignungsvorgang“ gestaltet und sich in mehreren stufenartig ablaufenden Phasen entwickelt (Pohl 2007). Beim Erwerb dieser „wissenschaftlichen Textkompetenz“, wie Steinhoff (2007) sie bezeichnet, spielt unter anderem die akademische Sozialisation des Verfassers eine entscheidende Rolle. Wenn der wissenschaftliche Schreibnovize zum Beispiel an einer deutschen Hochschule studiert, wird er im Laufe des Studiums eine Reihe von Seminararbeiten verfassen, um das wissenschaftliche Schreiben zu üben. Mit jeder Seminararbeit, die per se als „didaktische Paralleltextart zum Wissenschaftlichen Artikel“ gilt (Ehlich 2003: 20), eignen sich die Studierenden das benötigte wissenschaftliche Handwerkzeug sukzessiv an, bis sie in der Lage sind, komplex angelegte Arbeiten wie eine Bachelor- oder Masterarbeit zu verfassen.

Über das wissenschaftliche Schreiben in der Fremdsprache Deutsch lautet hier der Konsens: Nicht-Deutsch-muttersprachliche Studierende stehen beim wissenschaftlichen Schreiben in der Fremdsprache Deutsch vor größeren Schwierigkeiten. Die Komponente Fremdsprache falle der Ontogenese wissenschaftlichen Schreibens zur Last. Es erheben sich aber auch Stimmen, die diese Problematik aus einer anderen Perspektive beleuchten: Fremdsprachige Studierende können beim wissenschaftlichen Schreiben in der Fremdsprache Deutsch durchaus von ihrem „fremdsprachlichen Status“ profitieren und müssen nicht unbedingt als „gehandikapt“ gelten (Kaluza 2009: 35), wenn sie Texte in der Wissenschaftssprache Deutsch verfassen. Die Tatsache, dass viele dieser fremdsprachigen Studierenden bereits ein Erststudium in ihren Heimatländern absolviert haben, macht sie zu Schreibern mit wissenschaftlicher Erfahrung, was ihnen beim Abfassen von wissenschaftlichen Texten in jeder Sprache hilft. Dies lasse sich damit begründen, dass es sich bei der Textkompetenz um eine „universelle Kompetenz“ handle, „die über Einzelsprachen hinausgeht“ (ebd.: 38).

Dieser Fall tritt beispielsweise bei Studierenden einer kolumbianischen Universität ein, die Deutsch als Fremdsprache im Rahmen einer Lehrerbefähigung studieren. Im Laufe ihres Studiums schreiben sie Essays, Protokolle, Rezensionen und Berichte, bevor sie im letzten Semester ihre Abschlussarbeit in der L1 Spanisch verfassen.2 In diesen Arbeiten lassen sich die bereits im Laufe des Studiums erworbenen wissenschaftlichen Textkompetenzen erkennen. Die Abschlussarbeiten zeugen u.a. von einer angemessenen sprachlichen Darstellung ←16 | 17→der Forschungsergebnisse, von einer guten Argumentationsführung und ansatzweise von einem adäquaten Umgang mit der Forschungsliteratur. Wenn diese Studierenden nach ihrem Abschluss in Kolumbien allerdings ein Zweitstudium in Deutschland aufnehmen – in der Regel einen Masterstudiengang –, stehen sie vor der Aufgabe, wissenschaftliche Texte auf Deutsch zu verfassen.

Für diese Situation interessiert sich die vorliegende Arbeit über den „Erwerb des wissenschaftlichen Schreibens in der Fremdsprache Deutsch“. Durch die Analyse von vier Fallbeispielen wird der Frage nachgegangen, welche wissenschaftssprachlichen Mittel des Spanischen und Deutschen den Erwerbsprozess wissenschaftlichen Schreibens in der Fremdsprache Deutsch rekonstruieren lassen. Das zu untersuchende Textkorpus umfasst eine Reihe von Lernertexten von vier Autorinnen mit ähnlicher akademischer Sozialisation auf unterschiedlichen Erwerbsstufen: 1.) die in Kolumbien im Rahmen des Erststudiums „Deutsch als Fremdsprache“ (DaF) verfasste Abschlussarbeit auf Spanisch; 2.) die erste Seminararbeit, die im Masterstudium an einer deutschen Hochschule entstanden ist; 3.) die im Rahmen des Masterstudiums an einer deutschen Hochschule verfasste Masterarbeit.

Bei der linguistischen Analyse wird das Augenmerk auf die „wissenschaftlichen Textprozeduren“ gerichtet, d.h. auf die von Steinhoff herausgearbeiteten „wissenschaftstypische[n]; Handlungsroutinen im Medium der Schrift“ (2007: 118). Es handelt sich dabei um Handlungen, die jeder Autor in einem wissenschaftlichen Text vollzieht, wie beispielsweise:

auf sich selbst in der Rolle des Verfassers zu verweisen;

auf die Forschungsliteratur Bezug zu nehmen;

mögliche Gegenargumente zu thematisieren;

fremde Forschungsansätze zu kritisieren;

Fachtermini zu definieren oder ggf. zu prägen.

Diese Forscherhandlungen entsprechen fünf „Funktionsbereichen“ – der Verfasserreferenz, der Intertextualität, der konzessiven Argumentation, der Textkritik und der Begriffsbildung – bzw. lassen sich anhand „wissenschaftlicher Textprozeduren“ vollziehen, so Steinhoff (ebd.: 119–127). Dabei greift der Autor auf das wissenschaftssprachliche Ausdrucksinventar der jeweiligen Einzelsprache zurück.

Der Erwerbsprozess wissenschaftlichen Schreibens in der Fremdsprache Deutsch soll mittels der Analyse wissenschaftlicher Textprozeduren rekonstruiert werden. Die Wahl dieser linguistischen Mittel lässt sich damit begründen, dass sie die Universalität des wissenschaftlichen Handelns mit der Einzigartigkeit der jeweiligen Wissenschaftssprache vereinbaren (Steinhoff 2009). Darüber ←17 | 18→hinaus können „empirisch Grade der Beherrschung von Prozeduren unterschieden werden“ (Feilke 2010: 1). Sie lassen sich also als „Indikatoren von Schreibkompetenz“ begreifen (Knopp u.a. 2014), bzw. in diesem Fall als Indikatoren wissenschaftlicher Textkompetenz auffassen. Insofern stellen sie ein geeignetes Instrumentarium dar, um die folgenden Fragen zu beantworten:

Anhand welcher sprachlichen Mittel des Spanischen und des Deutschen werden wissenschaftliche Textprozeduren in den Lernertexten realisiert?

Wie ist der Erwerbsprozess wissenschaftlichen Schreibens in der Fremdsprache Deutsch anhand dieser sprachlichen Mittel zu rekonstruieren?

Die Korpusanalyse unterliegt unterschiedlichen Zielsetzungen: Durch die Analyse der spanischsprachigen Abschlussarbeit werden die Textkompetenzen identifiziert, die die Studierenden bereits bei der Beendigung ihres Studiums in Kolumbien erworben haben. Auf Basis der ersten in Deutschland verfassten Seminararbeit soll festgestellt werden, welche der in Kolumbien erworbenen Kompetenzen auf das Schreiben in der L2 transferiert werden bzw. „verloren“ gegangen sind. Die Analyse der Masterarbeit soll wiederum Aufschluss über die im Laufe der akademischen Sozialisation in Deutschland erworbenen Textkompetenzen geben, d.h. über die in der L2 Deutsch erworbenen Kompetenzen. Dabei soll aber auch kontrastiert werden, inwiefern evtl. beim Wechsel vom Schreiben auf Spanisch ins Schreiben auf Deutsch verloren gegangene Kompetenzen im Laufe der L2-Schreibentwicklung „neu“ erworben werden.

Diese Entwicklungstendenzen können in folgende Fragen umformuliert werden:

1. Welche wissenschaftssprachlichen Mittel werden in der L1 Spanisch erworben?

2. Welche der bereits in der L1 Spanisch erworbenen wissenschaftssprachlichen Elemente werden auf das Schreiben akademischer Texte in der L2 Deutsch übertragen?

3. Welche der bereits in der L1 Spanisch erworbenen wissenschaftlichen Textprozeduren werden nicht auf das Schreiben akademischer Texte in der L2 Deutsch übertragen?

4. Welche der bereits in der L1 Spanisch erworbenen wissenschaftlichen Textprozeduren werden auf das Schreiben akademischer Texte in der L2 Deutsch übertragen, obwohl sie hier gar nicht hingehören?

5. Welche wissenschaftssprachlichen Mittel werden in der L2 Deutsch erworben?

←18 | 19→

6. Welche wissenschaftssprachlichen Mittel werden in der L2 Deutsch „neu“ erworben, d.h. wiedergewonnen, nachdem sie vorübergehend „verloren“ schienen?

Methodisch wird folgendermaßen vorgegangen: Auf Basis der theoretischen Überlegungen von Steinhoff über wissenschaftliche Textprozeduren wird ein Kodierungssystem entwickelt, mittels dessen das Textkorpus ein erstes Mal kodiert wird. Die bereits klassifizierten Belege werden in einem zweiten Durchgang bei Berücksichtigung der folgenden Frage erneut kodiert: „Inwiefern wird das sprachliche Mittel der wissenschaftlichen Textprozedur gerecht?“ Mit anderen Worten: Wird anhand der vorklassifizierten sprachlichen Elemente eine wissenschaftstypische Funktion übernommen? Diese Leitfrage führt zu einer Zweiteilung aller kodierten sprachlichen Elemente in solche, die eine wissenschaftstypische Funktion übernehmen, und andere, die das nicht tun. Bei der linguistischen Beschreibung ausgewählter Textbeispiele werden die wissenschaftstypischen bzw. die wissenschaftsfremden Funktionen erläutert. Anschließend wird anhand einer Frequenzanalyse der Entwicklungsverlauf des wissenschaftlichen Schreibens für ausgewählte sprachliche Mittel graphisch dargestellt und beschrieben. Auf Basis der Frequenzanalyse wird außerdem der Erwerbsprozess der einzelnen wissenschaftlichen Textprozeduren in den vier analysierten Fallbeispielen rekonstruiert. Die Interpretation der Daten dient abschließend der Generierung von Hypothesen zum Erwerb des wissenschaftlichen Schreibens in der Fremdsprache Deutsch.

Die vorliegende Untersuchung ist im Überschneidungsbereich von Schreibforschung, linguistischer DaF-Forschung und Korpuslinguistik zu verorten und knüpft an eine Reihe weiterer Untersuchungen aus den genannten Bereichen an. Hier seien nur einige dieser Studien im Sinne eines Forschungsüberblicks kurz erwähnt: Die Arbeiten von Pohl (2007) und Steinhoff (2007) über Erwerbsprozesse wissenschaftlichen Schreibens in der Muttersprache Deutsch bilden nicht nur theoretisch einen wichtigen Anhaltspunkt, sondern sind auch vor dem Hintergrund hervorzuheben, dass sie Pionierarbeit geleistet haben, indem sie das wissenschaftliche Schreiben in einen Entwicklungsprozess einbetten, der Zeit in Anspruch nimmt, nämlich ein ganzes Studium. Dadurch aber, dass ihre Erkenntnisse vorwiegend auf Texten muttersprachlicher Verfasser basieren, bleibt in beiden Studien die Frage des Erwerbs in der Fremdsprache Deutsch offen. Die Untersuchung von Stezano Cotelo (2008) bietet entscheidende Erkenntnisse im Zusammenhang mit der Verarbeitung wissenschaftlichen Wissens in Seminararbeiten fremdsprachiger Studierender und den damit einhergehenden Herausforderungen, wie beispielsweise das Ersetzen von Forschungswissen durch ←19 | 20→Alltagswissen. Da sich Stezano Cotelo hauptsächlich auf die intertextuellen Stellen in den Seminararbeiten konzentriert, bleiben die anderen Bereiche wissenschaftlichen Handelns unberücksichtigt. Auch die Arbeit von Völz (2016) lässt sich als wichtiger Baustein zur Schließung der Forschungslücke hinsichtlich des Erwerbs wissenschaftlicher Kompetenzen fremdsprachiger Studierender betrachten. Aufgrund der Fokussierung auf textorganisierende Ausdrücke in den studentischen Texten bleiben die weiteren Funktionsbereiche wissenschaftlichen Schreibens ebenfalls unberücksichtigt. Aus dem spanisch-deutschsprachigen Vergleich sind die Arbeiten von Eßer (1997) und Kaiser (2002a) hervorzuheben, die in ihren kontrastiven Untersuchungen zwar auf kulturgeprägte Merkmale wissenschaftlichen Schreibens aufmerksam machen, aber die Erwerbsperspektive nicht berücksichtigen. Zurzeit sind also keine umfangreichen Untersuchungen bekannt, die sich dem Erwerbsprozess wissenschaftlichen Schreibens in der Fremdsprache Deutsch widmen. Als echte Longitudinalstudie, die mit authentischen Texten arbeitet und sich sowohl kulturübergreifenden als auch einzelsprachlichen Phänomenen widmet, stellt die vorliegende Arbeit einen Beitrag zur kulturübergreifenden Schreibforschung und zur linguistischen DaF-Forschung dar. Darüber hinaus wird hierdurch Roelckes Aufruf (2015) nachgegangen, den Lernern des Deutschen als fremder Fachsprache „eine […] gezielte […] Förderung allgemeiner wie besonderer fachsprachlicher Kompetenzen“ zu ermöglichen (ebd.: XIII). Dies wird in der Untersuchung gewährleistet, indem auf besondere Herausforderungen beim Wechsel vom Schreiben in der L1 auf das Schreiben in der L2 eingegangen und über mögliche didaktische Schlussfolgerungen reflektiert wird.

Die Arbeit mit Texten von kolumbianischen Verfassern stellt sich als besonders gewinnbringend dar und zwar aus folgenden Gründen: In Lateinamerika gilt Kolumbien zurzeit im Bereich der Hochschulbildung als „Boomland“ (Babel 2018: 3). Nicht nur die Studierendenzahlen haben sich seit dem Jahr 2000 mehr als verfünffacht und betragen heute ca. 2,3 Mio. (ebd.: 17), sondern auch die Anzahl der DaF-Lerner im Inland ist im letzten Jahrzehnt erheblich gestiegen: Lernten noch im Jahr 2005 ca. 7.800 Kolumbianer Deutsch als Fremdsprache, beträgt diese Zahl im Jahr 2014 laut Angaben des Auswärtigen Amtes 16.729.3 Die Zunahme an Deutschlernern spiegelt sich zum Teil im Anstieg der kolumbianischen Studierenden in Deutschland wider: Während im Jahr 1999 ←20 | 21→noch ca. 450 Kolumbianer an deutschen Hochschulen eingeschrieben waren, stieg diese Zahl im Jahr 2016 auf 2.961 Studierende.4 Die Einrichtung neuer Studiengänge mit Schwerpunkt DaF bestätigt den positiven Entwicklungstrend des Deutschen als Fremdsprache in Kolumbien.5 Die Nachfrage nach qualifizierten Lehrern steigt, die bestehenden Studiengänge müssen die zukünftigen Lehrkräfte auf alle Herausforderungen vorbereiten. Dazu gehört die Vermittlung von wissenschaftlichen Kompetenzen, die sie befähigen, ein Studium in der Fremdsprache Deutsch zu absolvieren. Die Erkenntnisse aus der vorliegenden Arbeit finden also in zweierlei Hinsichten Anwendung: Einerseits können grundständige Studiengänge mit einer DaF-Lehrerbefähigung propädeutische Maßnahmen ergreifen, um ihre Studierenden auf die wissenschaftssprachlichen Anforderungen eines Masterstudiengangs in einem deutschsprachigen Land vorzubereiten. Andererseits können die Erkenntnisse in studienbegleitende Maßnahmen während des Masterstudiums münden, um den Erwerbsprozess wissenschaftlichen Schreibens in der Fremdsprache Deutsch zu unterstützen.

Die vorliegende Arbeit ist wie folgt aufgebaut: In Kapitel 2 wird auf Basis der jüngeren Linguistikforschung aus dem deutschsprachigen und dem kolumbianischen Raum das Verständnis von Wissenschaftlichkeit beim Schreiben für die vorliegende Untersuchung erläutert. Im dritten Kapitel wird ein Forschungsüberblick über das wissenschaftliche Schreiben geboten, wobei hier sowohl auf Untersuchungen eingegangen wird, die sich mit kulturgeprägten Merkmalen wissenschaftlichen Schreibens beschäftigen, als auch auf diejenigen, die die Besonderheiten des L2-Erwerbs im Fokus haben. Es werden zudem Entwicklungsmodelle wissenschaftlichen Schreibens vorgestellt. Im Fokus des vierten Kapitels stehen das Untersuchungsdesign, die Vorgehensweise bei der ←21 | 22→Datenaufbereitung und die Methoden der Datenauswertung. In Kapitel 5 werden die zwölf zu analysierenden Lernertexte inhaltlich zusammengefasst, wobei zunächst auf die wichtigsten Merkmale der drei verschiedenen Textsorten – der kolumbianischen Abschlussarbeit, der deutschsprachigen Seminararbeit und der deutschsprachigen Masterarbeit – eingegangen wird. Kapitel 6 bis 10 bilden den Kern der Untersuchung: Kapitel 6 widmet sich den verfasserreferentiellen Prozeduren in den Lernertexten, Kapitel 7 der Intertextualität, Kapitel 8 der konzessiven Argumentation, Kapitel 9 der Kritik und Kapitel 10 der Begriffsbildung. Alle Analysekapitel folgen der gleichen Struktur: Zunächst werden theoretische Grundlagen aus der deutschsprachigen und der kolumbianischen Forschungsliteratur über die jeweilige wissenschaftliche Textprozedur präsentiert. Daraus leitet sich das methodische Verständnis für die Analyse der jeweiligen wissenschaftlichen Textprozedur ab. Anschließend erfolgt die Analyse der sprachlichen Realisierung der jeweiligen wissenschaftlichen Prozedur in den Lernertexten, wobei hier sowohl sprachliche Mittel mit einer wissenschaftsspezifischen als auch solche mit einer wissenschaftsfremden Funktion anhand von Textbeispielen aus dem Korpus vorgestellt und im Hinblick auf die Fragestellung interpretiert werden. Im dritten Teil der Analyse wird der Erwerbsprozess der jeweiligen wissenschaftlichen Textprozedur mithilfe einer Frequenzanalyse rekonstruiert. Dabei werden zunächst Entwicklungstendenzen einzelner sprachlicher Mittel erläutert, sowie der Erwerbsprozess jedes einzelnen Fallbeispiels graphisch dargestellt und beschrieben. Die wichtigsten Ergebnisse der Analyse werden anschließend zusammengefasst. In Kapitel 11 werden die Ergebnisse der Arbeit zusammenfassend dargestellt. Dies dient als Basis für die Generierung von Hypothesen hinsichtlich des Erwerbs des wissenschaftlichen Schreibens in der Fremdsprache Deutsch. Ein Ausblick über didaktische Schlussfolgerungen und Forschungsdesiderata beschließt die Arbeit.


1 Im Interesse einer besseren Lesbarkeit wird nicht ausdrücklich in geschlechterspezifische Bezeichnungen differenziert. Die männliche Form schließt die weibliche Form ein.

Details

Seiten
384
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631825976
ISBN (ePUB)
9783631825983
ISBN (MOBI)
9783631825990
ISBN (Hardcover)
9783631810330
DOI
10.3726/b17121
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (September)
Schlagworte
Schreibbiographien Schreibkompetenz Kulturvergleich Wissenschaftssprache DaF Erwerbstypologien Hochschulkultur Textsorten Wissenschaftsdidaktik Schreibdidaktik
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 384 S., 3 farb. Abb., 35 s/w Abb., 92 Tab.

Biographische Angaben

Lissette Mächler (Autor:in)

Lissette Mächler studierte Germanistik mit Schwerpunkt Linguistik, Medienkultur und Lateinamerika Studien an der Universität Hamburg. Sie wurde als Schreibberaterin an der Pädagogischen Hochschule Freiburg ausgebildet. Ihre Promotion erfolgte an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.

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