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Karl Spiecker, die Weimarer Rechte und der Nationalsozialismus

Eine andere Geschichte der christlichen Demokratie

von Claudius Kiene (Autor:in)
©2020 Monographie 308 Seiten

Zusammenfassung

Der christliche Demokrat Karl Spiecker zählte als Führungspersönlichkeit mehrerer republikanischer Organisationen und Sonderbeauftragter zur Bekämpfung des Nationalsozialismus schon in den Jahren der Weimarer Republik zu den entschiedensten Gegnern der radikalen nationalistischen Rechten. Im Exil in Paris, London und Nordamerika setzte er diesen Kampf ebenso einfallsreich wie unermüdlich fort. Nach 1945 wirkte er als einer der ersten Rückkehrer am Aufbau der westdeutschen Demokratie mit. Als dominante Persönlichkeit bestimmte Spiecker zunächst die Geschicke der wiedergegründeten Zentrumspartei, bevor er 1949 im Vorfeld der ersten Bundestagswahlen zur CDU wechselte. Die vorliegende Studie zeichnet mit Blick auf Spieckers Erfahrungen in der Weimarer Republik und im Exil die Leitlinien seines politischen Denkens nach, um so seine anfänglichen Vorbehalte gegenüber dem Projekt einer interkonfessionellen Volkspartei zu erklären. Darüber hinaus eröffnet die Analyse seines politischen Wirkens einen Blick auf die Ambivalenzen, von denen auch die Biographie eines Vorzeigedemokraten nicht frei ist, und fragt so nach Maßstäben, an denen demokratisches Handeln in historischer Perspektive zu bemessen ist.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Zusammenfassung
  • Summary
  • Resumé
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • 1. Annäherungen an eine Biographie
  • 1.1 „Es ist sehr schwer, ihn in wenigen Sätzen zu charakterisieren.“
  • 1.2 Herkunft und Prägungen
  • 1.3 Ausbildung und erste Tätigkeiten (1906–1919)
  • 2. „Von einer geheimnisvoll durch Oberschlesien geisternden Persönlichkeit“ (1919–1921)
  • 2.1 Die Stelle Spiecker
  • 2.2 Politische Lehrjahre?
  • 3. Im Zentrum der Macht (1922–1925)
  • 3.1 Verlagsdirektor der Germania
  • 3.2 Reichspressechef oder heimlicher Kanzler?
  • 3.3 Im Visier der politischen Rechten – Teil I
  • 3.4 Leiter des „Volksblocks“: Die Reichspräsidentenwahl 1925
  • 3.5 Ein Pyrrhussieg: Der Kasseler Reichsparteitag
  • 4. Der Abstieg (1926–1927)
  • 4.1. Isolierung innerhalb der eigenen Partei
  • 4.2. Im Visier der politischen Rechten – Teil II
  • 4.3. Publizistische Aktivitäten
  • 4.4. Die Niederlage im „Kampf um die Germania“
  • 5. Der lange Schatten Oberschlesiens (1928)
  • 5.1 Im Visier der politischen Rechten – Teil III
  • 5.2 Der Stettiner Fememordprozess
  • 5.3 Die Amnestiedebatte im Reichstag
  • 5.4 Nachwirkungen der Amnestiekampagne
  • 6. Republik(aner) in Bedrängnis (1928–1933)
  • 6.1 Spiecker und die Zukunft der Zentrumspartei
  • 6.2 Republikanisches Engagement
  • 6.3 In der beruflichen Sackgasse
  • 6.4 Sonderbeauftragter zur Bekämpfung des Nationalsozialismus
  • 6.5 Die „staatsverneinenden Parteien“ in der Analyse Spieckers
  • 6.6 Letzte Rückzugsgefechte
  • 7. Leben im Exil
  • 7.1 Flucht und Ankunft
  • 7.2 Pariser Netzwerke
  • 7.3 Spiecker und die deutsche Volksfront
  • 8. Spiecker als katholischer Exilpublizist
  • 8.1 Der Kulturkampf
  • 8.2 „Nur Kampf, nie Frieden.“ Spieckers „katholische Klarstellung und Abwehr“
  • 9. Die Deutsche Freiheitspartei
  • 9.1 Gründung und Konzeption
  • 9.2 Das Verhältnis zu Willi Münzenberg
  • 9.3 Die Deutschen Freiheitsbriefe
  • 9.4 Das wahre Deutschland
  • 9.5 Die Freiheitssender
  • 10. Vom Informanten zum Uninformierten
  • 10.1 Zusammenarbeit mit britischen Geheim- und Nachrichtendiensten
  • 10.2 „Hier ist das Leben ein wenig eintönig.“ Spiecker in Nordamerika
  • 10.3 Ein Echo aus Stettin
  • 10.4 Nachdenken über Niederlage und Neuanfang
  • 11. Bedingungen, Ablauf und Reaktionen auf die Remigration
  • 11.1 Die Rückkehr
  • 11.2 Ein britischer Spion? Ressentiments und Verdächtigungen
  • 11.3 Ein Kulminationspunkt: Spieckers Südamerikareise
  • 12 Netzwerke und persönliche Beziehungen eines Remigranten
  • 12.1 Adenauer, Arnold, Schumacher: Spiecker und die Größen der deutschen Nachkriegspolitik
  • 12.2 Die Gesellschaft Imshausen
  • 12.3 Engagement für Europa
  • 12.4 Das Schlesien-Netzwerk
  • 12.5 Der politische Erbe? Spiecker als Mentor Rainer Barzels
  • 13. Zwischen christlicher Demokratie und Christdemokratie
  • 13.1 Eine „Partei der Mitte“?
  • 13.2 Spiecker gegen die CDU (1945–1949)
  • 13.3 Der Frontenwechsel
  • 13.4 Spiecker in der CDU (1949–1953)
  • Schlussbetrachtung
  • Dank
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Quellen- und Literaturverzeichnis
  • Personenregister

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Einleitung

Als der CDU- und frühere Zentrumspolitiker Karl Spiecker1 am 16. November 1953 „völlig unerwartet“ im Alter von 65 Jahren während eines Kuraufenthalts in Königstein im Taunus verstarb, nahm die junge Bundesrepublik Abschied von einem der „bedeutendsten Nachkriegspolitiker“.2 So gut wie jede deutsche Zeitung druckte einen Nachruf auf den „Beichtvater der Bundesrepublik“, wie man den christlichen Politiker nach 1945 zuweilen nannte. Der Grund für diese Charakterisierung lag in Spieckers unbestrittener Loyalität gegenüber der demokratischen Staatsform. Nur wenige Nachkriegspolitiker, gerade im bürgerlichen Parteienlager, hatten sich diesbezüglich in den Jahren der Weimarer Republik sowie in der Emigration eine derart hohe Glaubwürdigkeit erarbeiten können.

Wilhelm Karl Papenhoff, Bonner Korrespondent der Neuen Zeitung, erklärte mit Blick auf den „Beichtvater“, es gebe wohl „keine bessere Bezeichnung für diesen Mann, dessen ganzes Sinnen darauf gestimmt war, die deutsche Demokratie auf eine breiteste Grundlage zu stellen“.3 In der Wochenzeitung das Parlament hieß es gar, man könne „den Wiederaufbau eines parlamentarischen Lebens in Deutschland nicht würdigen, ohne des am 16. November verschiedenen Ministers Dr. Carl Spiecker zu gedenken.“4 Auch im Ausland wusste man die Verdienste Spieckers anzuerkennen. Der Basler Zeitung zufolge habe mit ihm „die deutsche Demokratie einen ihrer zähesten Verteidiger verloren, die europäische Bewegung einen überzeugten und lauteren Repräsentanten.“5 Die ←17 | 18→Londoner Times würdigte Spieckers Lebenswerk vor allem als das eines „Enemy of the Nazis“.6

Wer war dieser Mann, in dessen Leben sich nach Ansicht vieler Korrespondenten das „Welttheater“ der ersten Jahrhunderthälfte,7 das „Auf und Ab der jüngeren deutschen Geschichte“8 und „alle Stadien des deutschen Schicksals seit 1914“9 widerspiegeln? Als gelernter Journalist kam der Rheinländer Spiecker infolge einer Kriegsverletzung 1917 in die Nachrichtenabteilung des Auswärtigen Amtes. Seine Kenntnisse als Medienexperte brachten ihn in die Stellung des deutschen Nachrichten- und Propagandachefs im zwischen Deutschland und Polen umkämpften Oberschlesien. Auch seine Tätigkeiten als Verlagsdirektor der Zentrumszeitung Germania sowie als Pressechef der Regierung unter Reichskanzler Wilhelm Marx folgten diesem Muster. „Immer und überall […] ein Mann des linken Flügels“,10 übernahm Spiecker Verantwortung in etlichen republikanischen Organisationen, war bekennender Opponent der Rechtskatholiken in seiner Partei um Franz von Papen und arbeitete schließlich 1930 und 1931 im Reichsministerium des Innern als Sonderbeauftragter zur Bekämpfung des Nationalsozialismus. Nach seinem Exil in Paris, London, New York und Montreal kehrte er als einer der ersten Emigranten in die britische Besatzungszone zurück und beteiligte sich dort zunächst an der Neugründung der Zentrumspartei, deren Vorsitzender er 1948 wurde, bevor er schließlich im darauffolgenden Jahr zur CDU wechselte. Als Führungspersönlichkeit in der frühen Europa-Bewegung, zeitweiliger Vorsitzender des Frankfurter Exekutivrats sowie Minister in Nordrhein-Westfalen war Spiecker zumindest bis 1949 „eine der Schlüsselfiguren in dem politischen Leben Nachkriegsdeutschlands.“11

Angesichts dieser Fülle und Vielfalt an bedeutenden Tätigkeiten überrascht der Umstand, dass Leben und Wirken Spieckers heute weitgehend vergessen sind. Dies gilt im Besonderen für den Lebensabschnitt vor 1945. Nur den wenigsten Historikerinnen und Historikern dürfte sein Name ein Begriff sein. ←18 | 19→Neben der dürftigen Quellenlage ist als nicht zu unterschätzender Grund hierfür zu nennen, dass sein politisches Engagement in der Weimarer Republik mit einem Deutungsrahmen kollidiert, der sowohl in der Historiographie wie auch der breiteren Öffentlichkeit über lange Zeit eine große Resonanz erfuhr: Die These vom „deutschen Sonderweg“ nahm vor allem das Jahr 1933 und damit das Scheitern der ersten deutschen Demokratie in den Blick. Infolge dieser Perspektive gerieten die Gegenkräfte sowie die langen demokratischen Traditionslinien der deutschen Geschichte in den Hintergrund.12 Erst in jüngerer Zeit wird das Diktum von der „Demokratie ohne Demokraten“ dezidiert mit einem Fragezeichen versehen.13 Diese Umorientierung innerhalb der geschichtswissenschaftlichen Forschung wurde auch durch eine Hinwendung zu transnationalen Perspektiven in den 1990er Jahren begünstigt.14 Im europäischen Vergleich offenbart sich die verhältnismäßige Stärke der Weimarer Republik, die vermehrt von Historikerinnen und Historikern gewürdigt wird.15

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Das öffentliche Geschichtsbild blieb von diesen Forschungstendenzen bisher weitgehend unberührt. Die breitere Demokratieerinnerung könne sich Paul Nolte zufolge „von der Projektion auf Scheitern und Untergang nur schwer lösen.“16 Zudem sei nach wie vor eine historiographische Meistererzählung wirksam, in welcher die Geschichte der Bundesrepublik „geradezu identisch mit der Geschichte einer Ankunft in der Demokratie“ ist.17 Die Zäsur des Jahres 1945 wird mit der erfolgreichen Implementierung der bundesrepublikanischen Demokratie von außen verbunden. Nolte spricht zutreffenderweise von einer „Konvergenz von Sache und Epoche“, welche den Blick auf die Demokratiegeschichte vor 1933 versperrt.18

Es gibt jedoch zivilgesellschaftliche Akteure und Institutionen, die dieser Wahrnehmung entgegenzuwirken versuchen. So fragte der Journalist Benedikt Erenz im März 2016 die Leser der Wochenzeitung Die Zeit: „Warum nur wollen so viele Deutsche nichts von der Geschichte ihrer Demokratie wissen?“19 Kaum jemand, so klagte Erenz, kenne die lange Demokratie- und Parlamentsgeschichte Deutschlands seit dem späten 18. Jahrhundert, wisse etwas von „all den Frauen und Männern, die dieser Freiheit durch bittere Niederlagen, Krisen und Katastrophen hindurch den Weg bereitet haben.“ Die bundesrepublikanische Demokratie erscheine, so Erenz polemisch, folglich als „eine Art Überraschungs-Ei, das ihnen [den Deutschen, C.K.] letztlich ein göttlicher Zufall beschert hat.“

Ein anderes Beispiel liefert die 2017 gegründete Arbeitsgemeinschaft „Orte der Demokratiegeschichte“. In ihrem Gründungsdokument, dem Hambacher Manifest zur Demokratiegeschichte, betont die Arbeitsgemeinschaft Deutschlands „Anteil an der langen europäischen Demokratie- und Freiheitstradition“ und bemängelt, dass die hierfür erbrachten Opfer und Anstrengungen vielfach vergessen sind.20 Daher streben die teilnehmenden Institutionen, zu denen 34 Stiftungen, Museen und Organisationen aus ganz Deutschland gehören, an, „die Wahrnehmung der deutschen Demokratie- und Freiheitsgeschichte lokal, regional und deutschlandweit zu fördern.“ Gegenstände dieses Gedenkens ←20 | 21→könnten Orte und Ereignisse, aber auch „Vorkämpfer/innen und Streiter/innen für Demokratie und Grundwerte“ sein.

Im Sinne dieser aktuellen wissenschaftlichen und öffentlichen Hinwendung zur deutschen Demokratiegeschichte ist die Biographie des „Vorkämpfers und Streiters“ Spiecker in mehrerlei Hinsicht besonders aufschlussreich.21 Zum einen wird in der vorliegenden Studie eine Fülle an Anschauungsmaterial für das Ausmaß an Hass, Verächtlichmachung und Verleumdungen präsentiert, dem sich ein konsequenter Weimarer Demokrat in der Auseinandersetzung mit der extremen Rechten, aber auch innerparteilichen Gegnern, auszusetzen hatte. Umso stärker waren die Bande und das gemeinsame Bewusstsein, das Spiecker mit anderen Demokraten aus dem linken und liberalen Lager teilte. Zum anderen veranschaulicht sein Leben und Wirken die Ambivalenzen, von denen auch das Leben eines ausgewiesenen Vorzeigedemokraten nicht frei ist. Aufgrund seiner politischen Mitverantwortung für die Aktivitäten der oberschlesischen Freikorps umgibt ihn eine Aura des Anrüchigen, die der Historiker trotz Spieckers großer Verdienste für die deutsche Demokratie nur schwer beiseiteschieben kann. Dies wirft die Frage auf, welche Maßstäbe anzulegen sind, um eine historische Persönlichkeit als würdigen Gegenstand einer demokratiegeschichtlichen Forschung zu identifizieren.

Christoph Schönberger hat mit Blick auf die politische Ideengeschichte der Weimarer Republik gemahnt, die damaligen Akteure nicht an heutigen pluralistischen Demokratievorstellungen zu messen. Ansonsten gerate die Weimarer Theoriegeschichte „dann im Rückblick schnell zum Helden- und Schurkenstück, in dem die ‚Demokraten‘ mit den ‚Antidemokraten‘ ringen.“22 Eine solche Betrachtungsweise, die zudem „zur kritiklosen Identifikation mit den als ‚Demokraten‘ identifizierten Autoren einlädt“, sei jedoch anachronistisch, denn die „demokratietheoretischen Gräben zwischen Anhängern und Gegnern Weimars waren keineswegs so tief, wie es die rückblickende Betrachtung unter dem Schock des Endes der Weimarer Republik gern angenommen hat.“ Statt einer Harmonisierung mit heutigen Vorstellungen bedürfe es daher einer konsequenten Historisierung der Weimarer Autoren: „Man muß ihnen ihre Fremdheit belassen oder zurückgeben. Das gilt besonders für die Anhänger der Weimarer ←21 | 22→Republik.“23 Diese für die Weimarer Ideengeschichte formulierten Gedanken können selbstverständlich genauso für die Ereignisgeschichte Geltung beanspruchen.

Vor allem aber stellt die Biographie Karl Spieckers jene „Konvergenz von Sache und Epoche“ infrage, die Nolte als Problem der breiteren Demokratieerinnerung identifiziert. Als verdienter Politiker, Journalist und Spitzenbeamter der Weimarer Republik beteiligte er sich nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur aktiv am Aufbau der westdeutschen Demokratie, mit seinem publizistischen und praktischen Engagement im Exil untergrub er zudem die postulierte Deckungsgleichheit von Deutschland und Nationalsozialismus.24 Daher trägt diese Darstellung der Forderung Peter Steinbachs Rechnung, dass die Wirkungsgeschichte des Exils einer Emigrationsforschung bedürfe, „die ihre zeitlichen Begrenzungsschwellen überwindet und die Spuren der Lebens- und Einfluß-, der Wirkungs- und Erfolgs-, aber auch der Scheiterngeschichte über das Ende des Nationalsozialismus verfolgt.“25

Diese Überwindung der „zeitlichen Begrenzungsschwellen“ wird genauso mit Blick auf Spieckers Biographie vor 1933 angestrebt. Vor dem Eindruck seines gesamten politischen Wirkens ist Spiecker schließlich ein besonderes eindrückliches Beispiel für die Feststellung Winfried Beckers, „dass Deutschland auch eine demokratische Geschichte vor 1945 hat, und dies war nicht nur eine Geschichte der sozialen oder liberalen Demokratie.“26 Nicht allein aufgrund der von ihm bekleideten Ämter oder ausgeübten Tätigkeiten, sondern insbesondere vor dem hier dargelegten Hintergrund eines defizitären Bewusstseins der deutschen Demokratiegeschichte ist das Leben Karl Spieckers ein lohnenswerter Gegenstand der geschichtswissenschaftlichen Forschung.

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Forschungsstand

Der Forschungsstand zum Zentrumspolitiker Spiecker ist trotz seiner vielfältigen Einbindung in das politische Leben der Weimarer Republik, der deutschen Emigration und der frühen Bundesrepublik äußerst überschaubar. Dies steht sowohl dem gesteigerten Interesse an den Remigranten, insbesondere denen der „ersten Stunde“, entgegen als auch der Beobachtung, dass sich die Biographie in der Forschung zum politischen Katholizismus und der christlichen Demokratie als Darstellungsform einer ungebrochenen Beliebtheit erfreut.27 So ist eine ausführliche biographische Studie zu Spiecker bislang ein „dringendes Desiderat“ der geschichtswissenschaftlichen Forschung geblieben.28

Der bisher umfangreichste und ergiebigste Forschungsbeitrag zu Spiecker ist das 1982 veröffentlichte Portrait von Detlev Hüwel, der ihn als politischen Weichensteller, „eine Art graue Eminenz der Politik“ charakterisiert.29 Bedeutsam wie zutreffend ist zudem Hüwels Hinweis auf die „kaum greifbaren Aktivitäten ←23 | 24→Spieckers“,30 die nicht nur seine schwer zu überschauenden Mitgliedschaften und Vorstandstätigkeiten umfassen, sondern auch etliche Aktivitäten, bei denen er anonym oder gar konspirativ vorging. Dies gilt für seine Tätigkeit als deutscher Nachrichten- und Propagandachef im umkämpften Oberschlesien ebenso wie für seine kreative politische und publizistische Bekämpfung des Nationalsozialismus in den letzten Jahren der Republik und im Exil. Für beinahe sämtliche anderen Aufsätze, welche explizit Spiecker als Person zum Gegenstand haben, zeichnet der Düsseldorfer Historiker Kurt Düwell verantwortlich. Diese sind zumeist Kurzportraits, mit denen Düwell dazu beigetragen hat, den Zentrumspolitiker gegenüber einem wissenschaftlichen Publikum bekannter zu machen.31 Inhaltlich aufschlussreich ist vor allem seine Analyse der Manuskripte, die Spiecker für einen im britischen Exil betriebenen „Freiheitssender“ anfertigt hat.32

Über das Wirken Spieckers in der Weimarer Republik kann mit Hilfe der vorhandenen Forschungsliteratur leider nur ein fragmentarisches Bild gezeichnet werden. Hier war der Verfasser genötigt, quellennahe Grundlagenforschung zu betreiben. Ähnlich verhält es sich mit seinen vielfältigen Aktivitäten im Exil, die aufgrund des großen wissenschaftlichen Interesses an Emigration und Widerstand dennoch in einigen Darstellungen beiläufig thematisiert werden. Zu nennen sind hier zuvorderst die umfangreichen Studien Ursula Langkau-Alex‘ zum Pariser Volksfrontausschuss sowie die Dissertationsschrift Beatrix Bouviers zur Deutschen Freiheitspartei.33 Spieckers Arbeit im wiedergegründeten Zentrum ←24 | 25→und der CDU nach 1945 sowie seine damit verbundenen politischen Ideen behandeln insbesondere Hans Georg Wieck, Joseph Nietfeld, Ute Schmidt und Noel D. Cary.34 Von großer Bedeutung sind zudem, ohne dass sie sich eindeutig einem Lebensabschnitt Spieckers zuordnen lassen, etliche wissenschaftliche Biographien zu seinen Kontrahenten und Weggefährten.35

Seine Randstellung in der Literatur zur Geschichte der Weimarer Zentrumspartei dürfte mit dem Bedeutungsverlust zusammenhängen, den Spiecker 1926 nach dem Bruch mit seinem einstigen Förderer Wilhelm Marx erlitt und der sich 1928 in einer verpassten Kandidatur für den Reichstag äußerte. So ist er trotz seines teilweise beachtlichen Einflusses zu jener zweiten Reihe der republikanischen Führungskräfte und Eliten der Weimarer Republik zu rechnen, die erst jüngst vermehrt das Interesse der Forschung auf sich gezogen hat.36 Zudem verhinderte sein frühzeitiger Tod 1953, dass ihm trotz eines Ministeramtes in Nordrhein-Westfalen eine relevantere Rolle in der Geschichte der frühen Bundesrepublik zukommen konnte. Aufgrund seiner anfänglichen Fundamentalopposition gegen das Projekt einer interkonfessionellen christlichen Volkspartei eignet sich Spiecker ferner nur bedingt als Gegenstand heutiger christdemokratischer Traditionspflege. Stärker ins Gewicht als die genannten Aspekte fällt aber die ungünstige Quellenlage.

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Quellenlage

Dass eine ausführliche wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Biographie Spieckers bislang ein Forschungsdesiderat geblieben ist, lässt sich in hohem Maße auf eine lückenhafte Quellenlage zurückführen. Detlev Hüwel konstatierte 1982 gar, dass „eine umfassendere Untersuchung […] zweifellos von großem Nutzen [wäre], […] aber angesichts der Quellensituation kaum durchführbar [erscheint].“37 Insbesondere der verwehrte Zugang zu Spieckers seinerzeit im Zentralen Staatsarchiv der DDR verwahrten Nachlass hat Hüwel daher genötigt, auf etliche Hinweise und Dokumente von Spieckers beiden Töchtern sowie einer Nichte zurückzugreifen, was der Arbeit knapp 40 Jahre nach ihrem Erscheinen einen spezifischen Informationsgehalt zukommen lässt.

Die heute im Bundesarchiv Berlin gelagerten Akten (Bestand N 2290) wurden 1940 nach Spieckers Flucht vor der heranrückenden Wehrmacht in Paris vom SD beschlagnahmt und in das Reichssicherheitshauptamt gebracht. Gegen Ende des Krieges nach Schlesien ausgelagert, konfiszierten sie 1945 wiederum die sowjetischen Truppen, bevor die Akten 1957 schließlich dem DDR-Zentralarchiv übergeben wurden.38 Ein Teilbestand, der anscheinend vor allem Spieckers Tätigkeit in Oberschlesien betrifft,39 lagert allerdings bis heute im Sonderarchiv Moskau (Fond 645). Ein weiterer Teilnachlass befindet sich im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen (RWN 26) und beinhaltet die bereits angesprochenen und von Kurt Düwell ausgewerteten Rundfunkmanuskripte.40

Weitere ergiebige, bisher nicht berücksichtigte Bestände sind die Personalakten Spieckers aus der Reichskanzlei (R 43-I/3405–3406) sowie dem Reichsinnenministerium (R 1501/211084). Briefwechsel mit verschiedenen Korrespondenzpartnern befinden sich außerhalb des Nachlasses im Bundesarchiv ←26 | 27→Koblenz,41 dem Archiv der Sozialen Demokratie in Bad-Godesberg,42 dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz,43 dem Historischen Archiv der Stadt Köln,44 dem Archiv des Instituts für Zeitgeschichte in München45 sowie dem Landesarchiv Berlin.46 Für die Zeit nach 1945, die für diese Studie von nachgeordnetem Interesse ist, dürften ferner die Bestände des Archivs für Christlich-Demokratische Politik in Sankt Augustin informativ sein. Unter den edierten Quellen ist vor allem der von Hugo Stehkämper bearbeitete Nachlass des Reichskanzlers Wilhelm Marx aufschlussreich.47

Darüber hinaus lassen sich viele von Spieckers Tätigkeiten durch die veröffentlichten Lebenserinnerungen weiterer persönlicher und politischer Weggefährten erschließen. Besondere Beachtung verdient die 1996 erschienene Autobiographie seiner Tochter Adelheid, die Hüwel in seinem Portrait noch nicht berücksichtigen konnte.48 Nicht zuletzt kommt dem Historiker zu Gute, dass Spiecker als ausgebildeter Journalist etliche publizistische Erzeugnisse hinterlassen hat. Wenn in diesem Buch die Quellen teilweise ausführlich zitiert werden, ist dies nicht nur ihrer überschaubaren Anzahl geschuldet, sondern dient auch dem Zweck, Anknüpfungspunkte aufzuzeigen und Spiecker sowie seine Abhandlungen als lohnenswerten Gegenstand anderweitiger Fragestellungen nahezulegen.

Aufbau und Schwerpunkte der Untersuchung

Die vorliegende Studie stellt vor dem Hintergrund der verbesserten Quellenlage den ersten umfangreicheren Versuch dar, sich mit der politischen Biographie Karl Spieckers zu beschäftigen. Viele Aspekte seines Lebens und Wirkens ←27 | 28→werden dem Leser jedoch auch nach Lektüre dieses Buches nicht hinreichend geklärt vorkommen. Der Anspruch auf Vollständig- und Lückenlosigkeit, den eine politische Biographie im engeren Sinne einzulösen versucht, lässt sich angesichts der nach wie vor unzureichenden Quellenlage im vorliegenden Fall nicht aufrechterhalten. Auch wenn die Arbeit in mancherlei Hinsicht gar mehr Fragen aufwerfen mag als sie beantwortet, ist die Biographie Karl Spieckers doch zu interessant, um sie nicht zu schreiben. Darüber hinaus hat der Verfasser von seinem Recht Gebrauch gemacht, einige Aspekte besonders zu vertiefen, während anderen eine verhältnismäßig geringe Aufmerksamkeit zuteilwird. Um keine falschen Erwartungen zu wecken, wird daher im Folgenden ein Überblick über den Aufbau der Untersuchung und die Schwerpunkte der einzelnen Kapitel gegeben.

Die vorliegende Studie versteht sich als Beitrag zur Politikgeschichte der Weimarer Republik, des deutschen Exils in der Zeit des Nationalsozialismus sowie der frühen Bundesrepublik. Jedoch dürften auch Leser mit einem Interesse an der Ideengeschichte des politischen Katholizismus, der Remigrationsforschung oder der Mediengeschichte persönliche Befunde machen. Wer hingegen hofft, angesichts von Spieckers Rolle als „schillerndste Persönlichkeit des 1945 wiedergegründeten Zentrums“ (Ute Schmidt) eine Darstellung zur Parteiengeschichte zu finden, sei auf die bereits erwähnten, einschlägigen Arbeiten von Wieck, Nietfeld, Schmidt und Cary verwiesen.49 Gemäß den hier gemachten Ausführungen zur deutschen Demokratiegeschichte liegt der Schwerpunkt dieser Untersuchung auf der bisher nur unzureichend erschlossenen Biographie Spieckers vor 1945. Damit wird die genannte Forschungsliteratur aber insofern ergänzt, dass Kontinuitäten in Spieckers Denken und Wirken sichtbar werden, die sich mangels einer quellengesättigten Darstellung bisher nicht identifizieren ließen. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf Spieckers anfängliche Aversion gegen den „Bürgerblock“ CDU.

Insofern verfolgt die vorliegende Studie eine andere Geschichte der christlichen Demokratie, da sie ein Gegenbeispiel für die – aus guten Gründen – in der Forschungsliteratur vertretene Deutung liefert, wonach der interkonfessionelle Zusammenschluss christlicher Politiker in der CDU in der Erfahrung der nationalsozialistischen Diktatur begründet liegt.50 Diese Annahme, die sich im Begriff ←28 | 29→des „Katakombengeistes“ (Leo Schwering) verdichtet, findet im zweifelsohne besonders gelagerten Fall des Emigranten Spiecker keine Bestätigung.51 Stattdessen lässt sich hier biographisches Anschauungsmaterial für die unter anderem von Frank Bösch vertretene These finden, wonach sich der interkonfessionelle Zusammenschluss keinesfalls als Selbstläufer aus bereits in der Weimarer Republik formulierten Konzepten ableiten ließ, sondern innerhalb der Adenauer-CDU ein kontroverses Thema blieb.52 Damit werden zugleich die Bedeutung der Überwindung der konfessionellen Spaltung sowie die integrative Leistung der CDU deutlich. Für den Fall Spieckers wird im Folgenden die These vertreten, dass sich sein verspäteter Parteieintritt auf seine Erfahrungen mit der politischen Rechten der Weimarer Republik sowie eine durch die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus konturierte Abneigung gegenüber dem Modell der „Weltanschauungspartei“ zurückführen lässt.

Das erste Kapitel versucht auf Grundlage zeitgenössischer Urteile von Journalisten, Wegbegleitern und Familienangehörigen die Eigenarten seiner Person zu ergründen. Zudem werden seine Ausbildung, erste Tätigkeiten wie auch der Weg in die Zentrumspartei in den Blick genommen. Im Mittelpunkt des zweiten Kapitels steht die bereits angesprochene Tätigkeit als deutscher Nachrichten- und Propagandachef im national umkämpften Oberschlesien. Die Kapitel drei bis sechs beschäftigen sich ausführlich mit seinem Wirken und Denken in der Weimarer Republik. Als übergeordnete Entwicklungslinie wird hier sichtbar, wie gegen Spiecker gerichtete Pressekampagnen, die scharf geführte Auseinandersetzung mit innerparteilichen Gegnern und letztlich der Bruch mit seinem Förderer, dem Reichskanzler Marx, zu einem vorläufigen Ende seiner vielversprechenden Parteilaufbahn führten. Als anderes Betätigungsfeld entdeckte Spiecker für sich die Arbeit in den republikanischen Verbänden, die schließlich in seiner Tätigkeit als Sonderbeauftragter zur Bekämpfung des Nationalsozialismus eine konsequente Fortsetzung fand.

Die Kapitel sieben bis zehn wenden sich den Jahren im Exil zu. Neben einer detaillierten Beschreibung der vielfältigen Konflikte, Verbindungen und Loyalitäten, die sich ohne Kenntnis seiner Aktivitäten in Weimar kaum angemessen einordnen ließen, werden die diversen Anstrengungen, mit denen Spiecker aus dem Exil heraus dem NS-Regime zu schaden hoffte, ausführlich dargestellt. Für sein politisches Denken wird hier insbesondere die Frage aufgeworfen, wie sich ←29 | 30→Spiecker als Vertreter des politischen Katholizismus intellektuell mit dem Erstarken, der Herrschaft und schließlich dem Ende und der Überwindung des Nationalsozialismus auseinandergesetzt hat.

Die Kapitel elf und zwölf widmen sich schließlich seinem Wirken nach der bereits im Spätsommer 1945 erfolgten Rückkehr in die britische Besatzungszone. Hier werden vor allem die Netzwerke analysiert, in denen sich Spiecker als Remigrant bewegte. Schließlich wird im dreizehnten Kapitel eine Antwort auf die Frage formuliert, warum sich mit Spieckers Biographie die titelgebende „andere Geschichte der christlichen Demokratie“ erzählen lässt, und welche Gründe und Folgen sein Übertritt in die CDU hatte. Im Anschluss an die jüngere theoretische und methodische Diskussion in den Geistes- und Kulturwissenschaften soll die Person Spiecker in all diesen verschiedenen Kontexten nicht als „ein individuelles, in sich geschlossenes Selbst“ betrachtet werden, sondern ist in ihren soziokulturellen und politischen Bezügen zu verorten.53


1 Ich folge der von Spiecker vorwiegend verwendeten Schreibweise seines Vornamens mit „K“. Geboren wurde Spiecker am 7. Januar 1888 in München-Gladbach, dem heutigen Mönchengladbach.

2 Minister Dr. Carl Spiecker✝. Ein bedeutender Nachkriegspolitiker hinterläßt unerfüllte Aufgabe, in: Frankfurter Neue Presse, 17. November 1953. Eine überaus umfangreiche Zeitungsausschnittsammlung zum Tode Spieckers befindet sich im Nachlass Johannes Maier-Hultschins: BArch Koblenz, N 1043/38; sofern keine Seitenangaben gemacht werden, wird aus besagter Sammlung zitiert.

3 Wilhelm K. Papenhoff, Einer, dem Demokratie über alles ging, in: Die Neue Zeitung, 17. November 1953.

4 F. K., Ein Verlust für die Demokratie. Zum Tode Dr. Carl Spieckers, in: Das Parlament, 25. November 1953.

5 M. H., Zum Tode von Carl Spiecker, in: Basler Nachrichten, 17. November 1953.

6 Dr. Karl Spiecker. Enemy of the Nazis, in: The Times Nr. 52781, 17. November 1953, S. 10. Auch die New York Times druckte eine Meldung zum Tod Spieckers ab: New York Times Nr. 34,996, 17. November 1953, S. 31.

7 W[alter] H[enkels], Carl Spiecker✝, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. November 1953, S. 2.

8 Der „große Weg“ blieb Spiecker verschlossen. Gegenspieler Stresemanns, Brünings, Papens – und Adenauers, in: Husumer Tageszeitung, 18. November 1953.

9 B. R., Mit dem deutschen Schicksal verbunden, in: Weser Kurier, 17. November 1953.

Details

Seiten
308
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631811092
ISBN (ePUB)
9783631811108
ISBN (MOBI)
9783631811115
ISBN (Hardcover)
9783631808405
DOI
10.3726/b16511
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (März)
Schlagworte
Politischer Katholizismus Remigration Exilforschung Demokratiegeschichte Republikanische Verbände Fememordprozesse Exilpublizistik Europaideen
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, 2020., 304 S.

Biographische Angaben

Claudius Kiene (Autor:in)

Claudius Kiene studierte Geschichte und Politikwissenschaft in Hamburg, Wien und Berlin. Zu seinen Forschungsinteressen gehören die neuere deutsche Geschichte, die Geschichte der Demokratie und des Parlamentarismus sowie die politische Ideengeschichte.

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Titel: Karl Spiecker, die Weimarer Rechte und der Nationalsozialismus
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