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Schulische Literaturvermittlungsprozesse im Fokus empirischer Forschung

von Christian Dawidowski (Band-Herausgeber:in) Anna Rebecca Hoffmann (Band-Herausgeber:in) Angelika Ruth Stolle (Band-Herausgeber:in) Jennifer Witte (Band-Herausgeber:in)
©2020 Konferenzband 320 Seiten

Zusammenfassung

Die Literaturdidaktik versteht sich von Beginn an als handlungsleitende Wissenschaft. Dabei wurde lange Zeit vernachlässigt, gängige Methoden sowie unterrichtliche Praxis auch empirisch zu erforschen. So ist über Literaturvermittlungsprozesse wenig bekannt. Der Band versammelt verschiedene Forschungsprojekte und Studien, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen: Neben unterschiedlichen Forschungsansätzen und -methoden, die erörtert werden, nähern sich die Aufsätze sowohl der Erforschung der Unterrichtsprozesse als auch den zu Literaturvermittlungszwecken eingesetzten Medien und Hilfsmitteln aus unterschiedlichen Perspektiven an.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Zum Geleit
  • Medien und Inklusion in der Primarstufe
  • Leseförderung mit Antolin – Anlage und Ergebnisse einer empirischen Studie (Carolin Meier)
  • Was beeinflusst den Einsatz von Antolin im Unterricht? Eine Analyse der Nutzung der digitalen Leseplattform Antolin durch niedersächsische Grundschullehrkräfte (Stefan Walter, Michael Viertel, Yvonne Ehrenspeck-Kolasa)
  • Von Monstern, Drachen und Autoren – Kindliche Fiktionsvorstellungen als Einflussgröße gelingender literarischer Verstehensprozesse (Lisa König)
  • Literatur für alle? Voraussetzungen und Perspektiven literarischen Lernens in inklusiven Lernsettings (Jan M. Boelmann)
  • Literarisches Verstehen in der Sekundarstufe I
  • Vom Üben des Unverstandenen oder Wie das Neue im Literaturunterricht inszeniert wird. Eine Fallrekonstruktion zu literarischer Wirkung (Lydia Brenz und Torsten Pflugmacher)
  • Lernerseitige Verstehensprozesse literarischer Metaphorik und lehrerseitige Modellierungen im wechselseitigen Horizont (Dorothee Wieser und Irene Pieper)
  • Gegenstandskonstitution und literarisches Lernen im Unterrichtsgespräch: Die Videostudie im Projekt TAMoLi – Texte, Aktivitäten und Motivationen im Literaturunterricht der Sekundarstufe I (Simone Depner, Nora Kernen und Irene Pieper)
  • Literaturvermittlung und literarische Deutungsmuster in der Sekundarstufe II
  • Am Einzelfall – Ko-Konstruktion literarischer Bildungsvorstellungen im Leistungskurs Deutsch (Christian Dawidowski, Anna R. Hoffmann, Angelika R. Stolle und Jennifer Witte)
  • Über die Entwicklung literarischer Deutungsmuster – methodologisch-methodische Anmerkungen zur Konzeption einer qualitativen Längsschnittstudie (Jennifer Witte)
  • Literaturvermittlung und Lektürehilfen. Ergebnisse aus Fragebogenerhebungen zur Nutzung durch Schülerinnen und Schüler, Entwurf eines qualitativen Forschungsprojekts (Sebastian Susteck und Valeria Koudich)
  • Aufgaben und Operatoren
  • Zum Matthäus-Effekt bei Support im Literaturunterricht. Befunde zur Wirksamkeit von Interpretationsaufgaben mit optionaler Unterstützung (Michael Steinmetz)
  • Zum Desiderat operatorenbezogener Reflexionsangebote in Deutschbüchern (Carsten Bothmer und Katharina Schuncke)
  • Aufgabenpräferenzen von Studierenden (Marco Magirius)
  • Die AutorInnen
  • Reihenübersicht

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Carolin Meier

Leseförderung mit Antolin – Anlage und
Ergebnisse einer empirischen Studie

Zusammenfassung: Das Online-Portal Antolin wird, trotz bisher fehlender Erkenntnisse zur Wirkung, in einer Vielzahl von Grundschulen in Deutschland intensiv zum Zweck der Leseförderung eingesetzt. Antolin dient in diesem Forschungsprojekt als ein Beispiel für den konvergenten Einsatz von Computer und Büchern. Ziel war es, zu untersuchen, ob und inwiefern eine solche Form der Leseförderung unter Einbeziehung digitaler Medien, genauer die intensive Nutzung von Antolin, die Einstellung der SchülerInnen zum Lesen und damit ihre Lesesozialisation, sowohl kurz- als auch langfristig, beeinflusst. Es handelt sich um eine qualitative Studie mit Kindern. Die Ergebnisse dieses Forschungsprojekts zeigen, dass sich die Nutzung digitaler Medien in Form von Antolin kurzfristig stark auf das Leseverhalten, die Lesemotivation, die Buchauswahl und auch auf die Einstellung der SchülerInnen zum Lesen im Allgemeinen auswirkt.

Abstract: The online portal Antolin is, despite the lack of knowledge on the impact, used in a variety of elementary schools in Germany intensively for the purpose of reading promotion. Antolin serves as an example of the convergent use of computers and books in this research project. The aim was to investigate if and to what extent such a form of reading promotion involving digital media, more specifically the intensive use of Antolin, influences students' attitudes toward reading and thus their reading socialization, both short and long term. It is a qualitative research with children. The results of this research show that the use of digital media in the form of Antolin has a short-term impact on reading habits, reading motivation, book selection and student attitudes to reading in general.

Keywords: empirical study, reading promotion, reading socialization, group discussion

1 Forschungsgegenstand

Lesefähigkeit ist eine Schlüsselqualifikation für gesellschaftliche Teilhabe. Bei der Schulung dieser spielt zunächst einmal die Grundschule eine bedeutende Rolle. Die Aufgabe des Leseunterrichts in der Grundschule ←13 | 14→ist, bei allen SchülerInnen gleichermaßen sowohl Lesekompetenz als auch Lesemotivation auszubilden und zu festigen (vgl. Schaffner et al. 2004; Artelt et al. 2001; Bos 2017; Bock 2010; Pfaff-Rüdiger 2011). Große Hoffnung wird dabei auf die Integration digitaler Medien in den Leseunterricht gesetzt. Ein Beispiel für die Verbindung von Leseförderung und den Einsatz von digitalen Medien im Kontext des Grundschulunterrichts ist das Online-Portal Antolin. Es ist kostenpflichtig im Internet nutzbar und richtet sich an SchülerInnen der ersten bis zehnten Klasse. Es handelt sich um eine Datenbank mit Quizfragen zu Büchern aus dem Kinder- und Jugendbereich. Diese sind im Multiple-Choice-Format gestellt. Bei der Bearbeitung der Quizfragen können für richtig beantwortete Fragen Punkte erzielt werden, falsche Antworten führen zu Punktabzug. Letztlich wird aus der Punktebilanz die Leseleistung errechnet. Es erfolgt eine statistische Darstellung der Daten, die sowohl für die SchülerInnen als auch für die LehrerInnen einsehbar ist (vgl. Kepser 2013; Abraham/Kepser 2009; Homepage Antolin1).

Auf der Internetseite des Programms wird deutlich, welche Zielsetzungen verfolgt werden sollen: Die Nutzung von Antolin fördere SchülerInnen „auf ihrem Weg zum eigenständigen Lesen und in der Entwicklung der eigenen Leseidentität. […] Es wird intrinsisches Interesse für Literatur geweckt.“ (Was ist Antolin?) Außerdem mache es gezielte Leseförderung möglich. Nach der Überarbeitung der Internetseite im Jahr 2017 werden die Ziele etwas anders formuliert. Nun heißt es „Antolin schafft Anreize zum Lesen […][,]; […] macht motivieren leicht […][,] Kinder üben flüssiges […] [und] sinnerfassendes Lesen […][und] Kinder […] bekommen Anerkennung […]“ (Das leistet Antolin). Ein Leitspruch des Programms ist: „Mit Antolin zum Lesen motivieren“ (Antolin in der Grundschule: Anregungen und Tipps aus der Praxis zur Leseförderung). Zur Motivation beitragen sollen hauptsächlich das Sammeln von Punkten, die Aussicht auf eine Urkunde sowie die Arbeit im Internet. Außerdem sei der Einsatz von Antolin eine unkomplizierte und sinnvolle Möglichkeit, Leseförderung ←14 | 15→und Einsatz neuer, digitaler Medien zu verbinden (vgl. Antolin-Prospekt; Das Online-Programm zur Leseförderung von Klasse 1 bis 10. Präsentation zur Einführung).

Im Jahr 2017 untersuchten Michael Viertel et al., inwieweit Antolin an Grundschulen in Niedersachsen angewendet wird und welchen Stellenwert Lehrkräfte einer solchen Form der onlinegestützten Leseförderung beimessen. Die Ergebnisse der Studie zeigen eine starke Präsenz von Antolin an niedersächsischen Grundschulen (vgl. Viertel et al. 2017). Die Informationen und Empfehlungen auf dem deutschen Bildungsserver und den Bildungsservern der einzelnen Bundesländer lassen darüber hinaus auf eine recht intensive Nutzung von Antolin in ganz Deutschland schließen, denn auf dem allgemeinen deutschen Bildungsserver und nahezu allen Landesbildungsservern sowie der Internetseite der Stiftung Lesen ist ein Verweis, meist in Form eines Links, zur Internetseite des Antolin-Portals zu finden. Einige Länder empfehlen die Arbeit mit Antolin konkret, sei es primär zur Leseförderung oder um digitale Medien einzusetzen (vgl. Deutscher Bildungsserver; Bildungsportal des Landes Nordrhein-Westfalen und Medienberatung NRW; Bildungsserver Berlin-Brandenburg; Bildungsserver Mecklenburg-Vorpommern; Bildungsserver Rheinland-Pfalz; Bildungsserver Sachsen-Anhalt; n-21; Hamburger Bildungsserver; Hessischer Bildungsserver; Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen 2008; Landesbildungsserver Baden-Württemberg; Saarland; Niedersächsischer Bildungsserver Deutsch; Thüringer Schulportal; Stiftung Lesen). Es ist folglich eine feste Etablierung von Antolin im Grundschulbereich festzustellen.

Die Frage, die diesem Forschungsprojekt zugrunde liegt, ist, ob eine solche Form der Leseförderung unter Einbeziehung digitaler Medien tatsächlich dazu führt, dass die intrinsische Lesemotivation der SchülerInnen erhöht wird, sie eine positive Einstellung zum Lesen entwickeln und eine gelingende Lesesozialisation unterstützt wird. Da sich die Untersuchung auf den Einsatz von Antolin bezieht, geht es im Speziellen darum, herauszufinden, ob der Einsatz von Antolin im Leseunterricht der Grundschule Einfluss auf die Einstellung der Kinder zum Lesen und damit auf ihre Lesesozialisation hat.

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2 Untersuchungsdesign

Die Forschung mit Kindern stellt besondere Anforderungen an das Forschungsdesign und ist daher „immer auch eine Methodenforschung“ (Fuhs 2012, S. 93). Um Einstellungen von Kindern zu ermitteln, ist es wichtig, dass die Datenerhebung offen gestaltet und interpretatives Vorgehen bei der Datenauswertung möglich ist. Aus diesem Grund sind qualitative Methoden für diese Studie am besten geeignet (vgl. Heinzel 2012b).

Grundlegend für dieses Forschungsprojekt ist zunächst einmal das Verständnis des Begriffs Einstellung. Da Einstellungen nicht direkt beobachtbar sind, handelt es sich um hypothetische Konstrukte. Die Erforschung der Einstellung dient folglich dazu, diese latente Dimension erfassbar zu machen (vgl. Bierbrauer 2005; Meinefeld 1977). Hierfür wurden Einstellungen als Subjektive Theorien konzeptualisiert. Grundlegend ist hierfür die Konzeption von Groeben et al. (1988). Die Nutzung des Begriffs Subjektive Theorie ist jedoch sehr psychologisch geprägt und eignet sich daher für diese fachdidaktische Arbeit nicht optimal, weshalb zwar der Konzeption der Subjektiven Theorie nach der weiten Definition des Konstrukts gefolgt wurde, aber der Begriff der Einstellung für den definierten Untersuchungsgegenstand verwendet wird. An der Konzeption von Groeben et al. (1988) zur Erhebung Subjektiver Theorien wird jedoch die Fokussierung auf das Individuum und Nichtberücksichtigung des Kollektiven kritisiert, denn soziale Erfahrungen spielen eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Einstellungen (vgl. Steinke 1999; Bierbrauer 2005; Aronson et al. 2014). Da das Ziel des Forschungsprojekts die Erhebung der Gruppenmeinungen im Sinne Mangolds (1960) war, erschien das Gruppendiskussionsverfahren zur Datenerhebung besonders geeignet. Für die Forschung mit Kindern wurde die Gruppendiskussionsmethode allerdings bisher nur selten angewandt und musste daher an die besonderen Anforderungen, die mit der Forschung mit Kindern einhergehen, angepasst werden. Die Gruppendiskussion ermöglicht in besonderem Maße eine Datenerhebungssituation, die die Verbalisierung der Subjektiven Theorien der Kinder begünstigt. Dies gilt vor allem für Kinder zwischen etwa neun und elf Jahren (vgl. Vogl 2005; Heinzel 2012a.). Für die Ermittlung von Subjektiven Theorien älterer Kinder ist der Einsatz von Leitfadeninterviews zielführender. Diese sind das gebräuchlichste Erhebungsinstrument ←16 | 17→für die Erforschung von Subjektiven Theorien (vgl. Kunze 2004; Groeben/Scheele 2000). Eine Teilstrukturierung der Datenerhebungssituation ist in beiden Fällen für die Aktualisierung und Erhebung Subjektiver Theorien sinnvoll, da den Kindern auf diese Weise ausreichend Freiraum für eigene Schwerpunktsetzungen und Themen eingeräumt und trotzdem sichergestellt wird, dass die im Hinblick auf das Erkenntnisinteresse wichtigen Aspekte angesprochen werden.

Das Herausarbeiten inhaltlich-thematischer Aspekte, welches die Erhebung von Einstellungen notwendig macht, ist mittels der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2015) sowohl für das Datenmaterial, das aus den Gruppendiskussionen als auch aus den Leitfadeninterviews hervorgegangen ist, durchführbar. Die Methode ermöglicht es, neben manifesten auch latente Inhalte und Deutungen, wie es für die Erhebung Subjektiver Theorien notwendig ist, interpretativ zu erschließen. Um subjektive Sichtweisen aus auf diese Art und Weise generiertem Material herauszuarbeiten, hat sich die Strukturierung als gewinnbringendste Form der qualitativen Inhaltsanalyse erwiesen, und da es sich bei der Ermittlung von Einstellungen um ein thematisch-inhaltliches Forschungsinteresse handelt, liegt es nah, nach inhaltlichen Gesichtspunkten zu strukturieren. Der induktivistischen Orientierung und dem Ziel der Theoriegenerierung wird die Methode durch eine kleine Modifikation gerecht. Das deduktive Analysevorgehen anhand des auf dem Leitfaden für Diskussionen und Interviews basierenden Kodierleitfadens wird durch einen zusätzlichen Arbeitsschritt ergänzt, der eine induktive Ausdifferenzierung der Kategorien vorsieht. Auf diese Weise bietet die Auswertung anhand der qualitativen Inhaltsanalyse ausreichend Offenheit für die Erfassung kindlicher Subjektiver Theorien.

Im Folgenden soll nun das Untersuchungsdesign dieses Forschungsprojekts zusammengefasst werden. Die hauptsächliche Datenerhebung in diesem Forschungsprojekt, das als Querschnittstudie angelegt ist, erfolgte mittels Gruppendiskussionen mit ViertklässlerInnen. In der vierten Klasse sollten die Kinder bereits ausreichend Lesefähigkeiten erworben haben, um selbstständig und auch lustorientiert lesen zu können. Insgesamt wurden 14 Gruppendiskussionen mit jeweils sechs bis zehn Kindern komparativ ausgewertet. Es handelte sich um natürliche Gruppen. Diese sind hinsichtlich der schulischen Antolin-Nutzung sowie der sekundären ←17 | 18→Lesesozialisation und meist auch bezüglich ihrer primären Lesesozialisation homogen. Die Auswahl der Stichproben in dieser Untersuchung erfolgte anhand des Kriteriums der Nutzung des Antolin-Programms im Unterricht.

Tab. 1: Diskussionsgruppen (Meier 2019, S. 252).

Die Informationen zur Antolin-Nutzung der ViertklässlerInnen basieren auf den Angaben der Lehrkräfte. Ist bei den ViertklässlerInnen von Antolin-Nutzung (vgl. Tab. 1 Code A) die Rede, bedeutet dies, dass Antolin sowohl innerhalb des Unterrichts als auch zu Hause von den SchülerInnen genutzt wird. Die Arbeit mit dem Online-Portal hat einen festen Platz im Stundenplan. Keine Antolin-Nutzung (vgl. Tab. 1 Code B) bedeutet, dass diese Integration in den Unterricht nicht gegeben ist. In vielen Fällen haben die SchülerInnen aber dennoch einen Zugang zu dem Portal und können es freiwillig zu Hause nutzen. Außerdem existieren Mischformen der Nutzung (vgl. Tab. 1 Code C). In diesem Fall wird Antolin in der Regel nicht in der Schule eingesetzt, die Nutzung zu Hause ist aber verpflichtend für die SchülerInnen und wird von der Lehrkraft kontrolliert.

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Da es sich um eine komparative Analyse handelt, wurden ebenso viele SchülerInnengruppen befragt, die das Antolin-Programm intensiv in der Schule nutzen (vgl. Tab. 1 Code A), sowie Gruppen, die in der Schule nicht damit arbeiten (vgl. Tab. 1 Code B). Ein weiteres Kriterium war die primäre Lesesozialisation der Kinder. Die Hälfte der befragten SchülerInnengruppen besteht aus Kindern, die eher weniger primäre Lesesozialisation erfahren haben (vgl. Tab. 1 Code sw). Außerdem wurden sieben SchülerInnengruppen mit mehr familiären Leseerfahrungen befragt (vgl. Tab. 1 Code st). Die primäre Lesesozialisation wurde von der Lehrkraft eingeschätzt und mittels Elternfragebogens kontrolliert. Das Ziel war es, diese Gruppen jeweils untereinander zu vergleichen, aber auch in Kontrast setzen zu können. Die Auswahl der einzelnen Kinder pro Gruppe übernahmen die Lehrkräfte. Sie wurden gebeten, SchülerInnen auszuwählen, die einen Querschnitt durch das Leseleistungsspektrum der Klasse repräsentierten.

Zusätzlich wurde auch der längerfristige Einfluss der intensiven Nutzung des Antolin-Programms in der Grundschule ermittelt. Hierfür wurden in einem künstlichen Längsschnitt 31 SiebtklässlerInnen mittels Leitfadeninterview befragt. Bei den SiebtklässlerInnen bezieht sich die Einordnung der Antolin-Nutzung auf die Grundschulzeit und wurde den Angaben, die die Kinder in einem SchülerInnenfragebogen im Anschluss an das Interview machten, sowie den Erzählungen während der Interviews entnommen. Der Leitfaden ist an dem für die Gruppendiskussionen orientiert. Interviewt wurden sowohl SchülerInnen, die das Gymnasium besuchen, als auch SchülerInnen, die auf die Real- und die Gesamtschule gehen. Auf diese Weise ist auch hier die Abbildung eines Querschnitts durch das Leseleistungsspektrum gewährleistet. Die Gruppendiskussionen und Leitfadeninterviews wurden jeweils separat und wie bereits erläutert mittels qualitativer Inhaltsanalyse nach Mayring (2015) analysiert. Hierauf folgte eine kontrastive und generalisierende Analyse, sodass Grundtendenzen mit dem Ziel der Hypothesengenerierung und Theoriebildung herausgearbeitet werden konnten. Die im Folgenden zusammengefassten Ergebnisse sind demnach als Hypothesen zu charakterisieren.

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3 Zusammenfassung der Ergebnisse

Die Auswertung der Gruppendiskussionen zeigt, dass die auf der Internetseite von Antolin genannten Ziele, speziell die Förderung der intrinsischen Lesemotivation und die Unterstützung der Kinder bei der Entwicklung einer eigenen Leseidentität durch die intensive Nutzung des Programms nicht erfüllt werden. Auf Basis der Auswertung der für dieses Projekt erhobenen Daten können auch die erwarteten Vorteile des computerunterstützten Unterrichts im Hinblick auf den intensiven Einsatz von Antolin nicht belegt werden.

Insgesamt konnten anhand des Datenmaterials der Gruppendiskussionen vier Einstellungen zum Lesen extrahiert werden. Da Einstellungen sehr vielschichtige Konstrukte sind, ist diese Einteilung stark generalisiert und nicht immer trennscharf abgrenzbar.

1. Eskapistisches Lesen

Für SchülerInnen, die eskapistisch lesen, ist das Lesen eine Freizeitbeschäftigung, sie lesen vorrangig zur Unterhaltung sowie zur Entspannung und die Leseaktivität beruht auf Freiwilligkeit. Das Lesen ermöglicht es den SchülerInnen, aus ihrem Alltag zu fliehen, hinein in die Fantasiewelten der Bücher. Dies führt gelegentlich zu Flow-Erlebnissen. Oftmals ist das eskapistische Lesen allerdings gegenstandsspezifisch motiviert. Schulisch motiviertes Lesen spielt für eskapistisch motivierte SchülerInnen nur eine sehr rudimentäre Rolle.

2. Intrinsisch motiviertes kompetitives Lesen zu Lernzwecken

Für SchülerInnen, die diese Einstellung aufweisen, dient das Lesen vorrangig schulischen Zielen, allerdings sind sie intrinsisch motiviert, diese zu erreichen. Das Lesen ist für diese SchülerInnen eine Schlüsselqualifikation für Erfolg und da sie erfolgreich sein möchten, lesen sie. Sie empfinden das Lesen nicht als Pflicht, sondern messen ihm besondere Wichtigkeit bei und bewerten es positiv.

3. Dualität von eskapistischem und kompetitivem Lesen

Die SchülerInnen, bei denen diese Einstellung zu erkennen ist, befinden sich in einer Art Konflikt: Lesen ist für sie zum einen eine Freizeitbeschäftigung, zum anderen aber auch Arbeit für die Schule. Diese beiden Funktionen des Lesens konkurrieren, meist zulasten des ←20 | 21→genussorientierten Lesens, woraus oftmals eine Frustration der SchülerInnen resultiert.

4. Extrinsisch motiviertes kompetitives Lesen als Pflichterfüllung

SchülerInnen, die primär kompetitiv lesen, haben kaum oder keine positiven Erfahrungen mit dem Lesen und mit Büchern gemacht. Sie lesen ausschließlich funktional und extrinsisch motiviert, um ihre schulische Pflicht zu erfüllen. Spaß haben sie beim Lesen nicht (Meier 2019, S. 439).

Tab. 2: Übersicht zur Leseeinstellung der ViertklässlerInnen (Meier 2019, S. 441).

Die SchülerInnen, die regelmäßig mit dem Programm arbeiten, lesen hauptsächlich kompetitiv und extrinsisch motiviert oder befinden sich in einem Konflikt zwischen ursprünglich vorhandener intrinsischer Lesemotivation und damit verbundenem Lesen zu eskapistischen Zwecken und der schulischen Verpflichtung zum Lesen, die letztlich ihre Einstellung zum Lesen dominiert. Tatsächlich als Lesepersönlichkeiten, die primär intrinsisch motiviert lesen, sind nur SchülerInnen zu charakterisieren, die Antolin maximal freiwillig zu Hause nutzen (Code B). Die primäre Lesesozialisation der SchülerInnen spielt dabei den Ergebnissen zufolge keine entscheidende Rolle (vgl. Tab. 2). Anstatt intrinsischer Lesemotivation scheint die Nutzung von Antolin eher extrinsische Lesemotivation zu fördern und dadurch dazu beizutragen, dass die Kinder das Lesen mehr mit Arbeit verknüpfen als mit Vergnügen, was dem Anschein nach die Entwicklung einer positiven Einstellung zum Lesen eher behindert. Die Gründe dafür werden im Folgenden zusammengefasst und sind im Detail nachzulesen in Meier (2019).

Details

Seiten
320
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631827895
ISBN (ePUB)
9783631827901
ISBN (MOBI)
9783631827918
ISBN (Hardcover)
9783631805985
DOI
10.3726/b17209
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (September)
Schlagworte
Unterrichtsforschung Schülerforschung Lehrerforschung literarische Deutungsmuster Lektürehilfen Literaturdidaktik qualitative Forschung quantitative Forschung literarisches Verstehen Antolin
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 320 S., 20 S/W-Abb., 16 Tab.

Biographische Angaben

Christian Dawidowski (Band-Herausgeber:in) Anna Rebecca Hoffmann (Band-Herausgeber:in) Angelika Ruth Stolle (Band-Herausgeber:in) Jennifer Witte (Band-Herausgeber:in)

Christian Dawidowski ist Professor für Literaturdidaktik an der Universität Osnabrück. Anna Rebecca Hoffmann, Angelika Ruth Stolle und Jennifer Witte sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen in der Literaturdidaktik an der Universität Osnabrück.

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