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Die Lebensspuren Ulrichs von Liechtenstein

Dokumentarische Studie zur Mythisierung eines mittelalterlichen Autors zwischen Selbstinszenierung, literarischer Rezeption und außerliterarischer Nachwirkung

von Jörg Schwaiger (Autor:in)
©2020 Dissertation 374 Seiten

Zusammenfassung

Wie kaum ein anderer Autor des Mittelalters schaffte es Ulrich von Liechtenstein als prägende Dichter- und Politikerpersönlichkeit der Steiermark des 13. Jahrhunderts sowie als gleichnamiger Held seines fiktio-biographischen Versromans „Frauendienst" zu einem ikonischen, transregional verbreiteten Mythos zu werden. Dieses Buch spürt der Genese dieser faszinierenden Wirkungsgeschichte nach, indem es 132 Rezeptionszeugnisse vom Mittelalter bis in die aktuelle Gegenwart untersucht. Viele der namhaft gemachten Gedichte, Prosatexte, Bilder, Alltagsgegenstände, Denkmäler und musikalischen Bearbeitungen stellen unerwartete Funde dar, so etwa eine Büste des Dichters auf der Fassade des Grazer Rathauses, ein Wandgemälde im Wiener Rathauskeller oder Zinnfiguren aus Deutschland.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titelseite
  • Impressum
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 1.1 Einführung, Zielsetzung und Fragestellung
  • 1.2 Forschungsstand und Methodik
  • 2 Erinnerungshistorische Literaturwissenschaft
  • 2.1 Mediale Gedächtniserzeugung
  • 2.2 Erinnerungsorte
  • 2.3 Mythos
  • 2.3.1 Transformation
  • 2.4 Matrix der Transformationen
  • 3 Der ,Sezessions‐Mythos‘ der Frauendienst‐Lieder
  • 4 Rezeptionszeugnisse und Transformationen
  • 4.1 Mittelalter
  • 4.1.1 Urkunden
  • 4.1.2 Autorminiatur in der Manessischen Liederhandschrift
  • 4.1.3 Österreichische Reimchronik
  • 4.2 17. und 18. Jahrhundert
  • 4.3 Romantik
  • 4.3.1 Friedrich Haug, der Nachdichter
  • 4.3.2 Oskar Wolffs Hausbücher
  • 4.3.3 Ludwig Tiecks Frauendienst‐Übertragung
  • 4.3.4 Der Grazer Carl Gottfried von Leitner
  • 4.3.5 Felix Mendelssohn Bartholdys Frühlingslied
  • 4.3.6 Johann Ferdinand Weigl: Deutsche Liebes- und Männertreue
  • 4.3.7 Gustav Rudolf Puff: Dichter, Lehrer und Heimatforscher
  • 4.3.8 Johann Langer und Ulrichs Verkleidungsaventiuren
  • 4.3.9 Editionen: von der Hagen, Bergmann, Lachmann, Bechstein
  • 4.3.10 Das Ulrich‐Bild in der Biedermeierzeit
  • 4.3.11 Der sagenhafte Ulrich
  • 4.3.12 Adolph Tschabuschnigg: ,Hasenscharten‐Mythos‘ in der Lyrik
  • 4.3.13 Bauernburschen im Minnesänger‐Faschingskostüm
  • 4.4 Realismus
  • 4.4.1 Schloss Hollenegg: Ulrich und das Fürstenhaus Liechtenstein
  • 4.4.2 Karl Simrock: Lieder der Minnesinger
  • 4.4.3 Feuilletonisten und Kommentatoren als ,Mythenmacher‘
  • 4.4.4 Gemälde im Belvedere und Kupferstich in Großfolio‐Prachtband
  • 4.4.5 Lehr- und Lesebücher
  • 4.4.6 Heinrich von Herzogenbergs Deutsches Liederspiel
  • 4.4.7 Wiener Weltausstellung 1873
  • 4.4.8 Der Minnehof Leopold‘s des Glorreichen als Tableau vivant
  • 4.4.9 Oswald Hauenstein: Tragödie Anna von Gösting
  • 4.4.10 Straßen, Gassen und Wege
  • 4.4.11 Lied 4 und Lied 28, die beliebtesten Vertonungen
  • 4.4.12 Richard von Krafft‐Ebing: Psychopathia sexualis
  • 4.4.13 Der (fast) vergessene ,Ulrich‐Kopf‘ am Grazer Rathaus
  • 4.4.14 Bildliche Vielfalt in Graz und Wien
  • 4.4.15 Biographisches für die breite Bevölkerung
  • 4.4.16 Gedenktage
  • 4.4.17 Wilhelm Fischers Grazer Novellen
  • 4.5 Erste Hälfte des 20. Jahrhunderts
  • 4.5.1 Fünf lyrische Bearbeitungen
  • 4.5.2 Ottokar Kernstock und die Ko‐Mythisierung des ,Ulrich‐Grabsteins‘
  • 4.5.3 Epik: Pfefferbüchsel, Schwanenhaus und Venus im Kärntnerland
  • 4.5.4 Tragödie und Komödie: Hofmannsthal und Hauptmann
  • 4.5.5 Die Frauenburg
  • 4.5.6 Musikalische Tradition statt Innovation
  • 4.5.7 „Only bad news are good news“: Bekanntheit durch mediale Kritik
  • 4.5.8 Kaffee‐Reklame, Rathaus‐Sgraffito, Weihnachtsgeschenk für Hitler
  • 4.6 Zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts
  • 4.6.1 Ulrich im Alltag
  • 4.6.2 Editionen, Übertragung, Comic
  • 4.6.3 Kostümfigur in historischen Festzügen
  • 4.6.4 Gedichte der späten 1950er‐Jahre
  • 4.6.5 Der „Showmaster“ aus der „Bergprovinz“
  • 4.6.6 Ehrengalerie im Grazer Burghof
  • 4.6.7 750 Jahre Turniere in Korneuburg
  • 4.7 21. Jahrhundert
  • 4.7.1 Die „in Schokolade verpackte“ Geschichte von Friesach
  • 4.7.2 Film und Fernsehen
  • 4.7.3 Minnelieder‐CDs
  • 4.7.4 Steirische Literaturpfade des Mittelalters
  • 4.7.5 Populärwissenschaftliche Literatur
  • 4.7.6 Frau Venus auf Wanderschaft
  • 5 Zusammenführung der Ergebnisse
  • 6 Anhang
  • 6.1 Abkürzungsverzeichnis
  • 6.2 Literatur- und Quellenverzeichnis
  • 6.2.1 Editionen
  • 6.2.2 Übertragungen und Bearbeitungen
  • 6.2.3 Sekundärliteratur
  • 6.2.4 Populärwissenschaftliche Literatur, Zeitungen und Zeitschriften
  • 6.2.5 Quellen (inkl. Online‐Quellen)
  • 6.3 Abbildungsverzeichnis
  • 6.4 Verzeichnis der Transformationen chronologisch geordnet
  • 6.5 Verzeichnis der Transformationen nach Kategorien geordnet

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1Einleitung

Einst und jetzt1

Herr Ulrich von Lichtenstein war ein Prasser.
So trank er – wird berichtet – vom Wasser,
In welchem sich seine Liebste gebadet,
Und niemals, heisst es, hat’s ihm geschadet.

Das war in den Minnesängertagen,
Da konnte man so etwas noch vertragen!
Doch wer wollt’ heute so’n Mischung trinken,
Ein Höllengebräu aus Tinkturen und Schminken?

1.1Einführung, Zielsetzung und Fragestellung

Ulrich von Liechtenstein wird um 1200 geboren und stirbt im Jahr 1275. Seine für mittelalterliche Verhältnisse ungewöhnlich lange Lebenszeit erstreckt sich über die Regierungszeiten der Herzöge Leopold VI. (1198–1230) und Friedrich II. (1230–1246). Danach erlebt er die Interregnumswirren nach dem Tod des Stauferkaisers Friedrich II. 1250 mit der Ungarnherrschaft über die Steiermark und der Regentschaft Ottokars von Böhmen mit. Der Landfrieden ist erst mit der Wahl Rudolfs von Habsburg zum deutschen Kaiser 1273, zwei Jahre vor Ulrichs Tod, wiederhergestellt.2

Ulrich entstammt einer adeligen Ministerialenfamilie, steht in Diensten der jeweiligen Landesfürsten und bekleidet im Laufe seines Lebens wichtige Hofämter. In seinen letzten Lebensjahren wirkt er als Landrichter und ist somit höchster steirischer Amtsträger sowie einer der prominentesten Politiker seiner Zeit.3 Sein Œuvre umfasst die Werke Frauendienst und Frauenbuch. Ulrichs „herausragende Bedeutung in der Geschichte der ←11 | 12→deutschen Literatur“4 liegt darin, dass er mit dem Frauendienst den ersten uns bekannten Ich‐Roman in deutscher Sprache geschrieben hat. Das Werk lässt die Figur des Autors mit der Erzählung verschmelzen und verankert diese wiederum in der historischen Wirklichkeit.5 Lange Zeit wurde der Frauendienst als Autobiographie Ulrichs von Liechtenstein missinterpretiert. Zur literarischen Innovation Ulrichs zählt aber nicht nur das neue Ich‐Erzählen: Ulrichs Opus magnum ist aus 1850 achtzeiligen paargereimten sangbaren Strophen, 58 Minneliedern, sieben Briefen und drei kurzen didaktischen Büchlein aufgebaut. Mit dieser kreativen Mischung verschiedener Textsorten wagt Ulrich ein einzigartiges Form-Experiment in deutscher Sprache,6 das ihm – betrachtet man die umfangreiche Rezeptionsgeschichte – in beeindruckender Weise geglückt ist.

Im Frauendienst geht der Liechtensteiner als Kunstfigur Ulrich, seinem Alter Ego, in Begleitung eines imposanten Gefolges von Rittern, Knappen, Trommlern und Flötenspielern auf die abenteuerliche Venusfahrt, die ihn von Venedig durch die Herzogtümer Kärnten, Steiermark und Österreich bis nach Böhmen führt – alles im Minnedienst seiner bereits von Kindesbeinen an verehrten Dame. Er lässt sich ein Dutzend weißer Damenkleider und drei kostbare Seidenmäntel schneidern, setzt sich einen weiß glänzenden Helm auf den Kopf, von dem lange, perlenumwundene Zöpfe baumeln, und schlüpft so in das schillernde Kostüm der unbesiegbaren Liebesgöttin Venus. In dieser skurill‐komischen Rolle stürmt er von Turnier zu Turnier, versticht einen ganzen ,Wald‘ an Speeren, wirft einen Ritter nach dem anderen aus dem Sattel und verschenkt dutzende goldene Ringe als Kampfeslohn für die unterlegenen Gegner.

Dem Autor Ulrich von Liechtenstein gelingt es im Frauendienst, seine Zuhörerinnen und Zuhörer mit tragikomischen Elementen und Episoden zu amüsieren, mit in die Handlung integrierten Minneliedern musikalisch zu unterhalten und durch den Aufbau eines Spannungsbogens zu fesseln: Die Erzählung im sogenannten „ersten Dienst“ wird durch Ulrichs Botschaften an die vrouwe und ihren brieflichen Antworten sowie durch den ←12 | 13→,Marathon‘ an Tjosten und Buhurten vorangetrieben. In masochistischer Demut durchläuft der minnetolle Held sämtliche von seiner Herrin geforderte Prüfungen, die sich von Mal zu Mal zu immer entwürdigenderen Aufgaben auswachsen: Lange hinausgezögerter, aber schließlich doch unbefriedigender ,Höhepunkt‘ des Minnedienstes ist der Burgbesuch bei der Angebeteten. Erst nachdem der stolze Ritter Ulrich in der armseligen Kleidung eines Bettlers vor der Burg – bei Wind und Wetter und unter einer Gruppe von Aussätzigen – ausgeharrt hat, gewährt ihm die Herrin ein Stelldichein in ihrer Kemenate. Allerdings findet der heiß ersehnte Liebesausflug ein abruptes und beinahe fatales Ende, das den verzweifelten Ulrich nur mehr einen Ausweg sehen lässt: den Suizid. Diesem Unglück gerade noch entronnen, schöpft er neuen Mut – letztlich sind vergossenes Blut, Schweiß und Tränen aber umsonst: Ulrich kann das Herz seiner vrouwe nicht erobern. Als sie einen gravierenden Vertrauensbruch begeht, quittiert er verbittert seinen Dienst.

Ulrichs „zweiter Dienst“ an einer Edelfrau verläuft harmonischer. Ihr zu Ehren singt er neue Minnelieder und unternimmt eine weitere ritterliche Kostüm‐Tour, die ihn vom steirischen Eppenstein bis nach Himberg bei Wien führt. Als sagenhafter König Artus verkleidet, trifft er in Begleitung seiner Ritter von der Tafelrunde sogar auf Herzog Friedrich II. Nach der detaillierten Schilderung von dessen Tod in der Schlacht an der Leitha erzählt Ulrich von seiner eigenen schmählichen Gefangennahme auf der Frauenburg und der glücklichen Rettung durch den Grafen Meinhard von Görz. Es folgen eine Zeitklage und didaktische Passagen, schließlich endet der Text damit, dass Ulrich den von ihm gepriesenen Frauen seinen Vörden dienst widmet.

In der langen Rezeptionshistorie des Frauendienstes entwickelte sich ein trinärer Episoden‐Mythos – eine Form von ,Selektions‐Mythos –, der die ,Handwaschwasser‘‐, die ,Mundoperations‘‐ und die ,Finger‘‐Episode umfasst. Diese drei Narrative sind integrale Bestandteile des ersten Dienstes Ulrichs von Liechtenstein, in dem sich dieser als tugendhafter, tapferer und treuer Minneritter inszeniert.

Zum ersten Mal hörte der Verfasser vorliegender Arbeit in der Schule von dem mit Ulrich von Liechtenstein verbundenen grotesken, im Gedächtnis haften gebliebenen Mythos, er habe die Badewanne seiner Angebeteten leergetrunken. Dieser Mythos rund um die Waschwasser-Eskapade, der auf eine ungenaue Textauslegung zurückzuführen sein sollte und von Ulrich in einem Rückblick auf seine Jugendjahre am Beginn des Frauendienstes in nur einer einzigen Strophe erzählt wird, soll im Folgenden dekonstruiert werden.

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Darüber hinaus gilt es, den gängigen ,Hasenscharten‘‐Mythos, der breiten Interpretationsspielraum zulässt, zu hinterfragen. In 20 Frauendienst‐Strophen schildert Ulrich, wie er sich der Dame zuliebe seinen – nach ihrem Empfinden – ungefüegen (also missgestalteten) Mund „schneiden“ lässt. In Graz findet er den perfekten mittelalterlichen ,Schönheitschirurgen‘ für die gewagte Operation. Obwohl dem meister im Vergleich zu heutigen plastischen Chirurgen nur bescheidene medizinische Methoden und Instrumente zur Verfügung stehen, glückt der wundärztliche Kunstgriff.

Auch die Finger‐Episode birgt wirkungsvolles ,Mythisierungspotential‘ in Hinblick auf den Liechtensteiner. Wie erwähnt, geht Ulrichs Liebeswerben nicht ganz unblutig vonstatten: Beim Tjostieren wird seine rechte Hand schwer verwundet, ein Finger baumelt gerade noch an einer Sehne. Weil Ulrich ihnen fürstlichen Lohn verspricht, tun zwei Ärzte ihr Bestes, um den lädierten Körperteil zu retten – trotzdem bleibt er krumm und unbrauchbar. Ulrich schickt einen Boten mit einem neuen Lied und der Nachricht zu seiner Herrin, er habe einen für sie „zum Dienst geborenen“ Finger im Kampf verloren. Als sie später erfährt, dass der Finger aber lediglich verletzt wurde, wirft sie Ulrich Unehrlichkeit und Täuschung vor. Als Lügner gebrandmarkt, ergreift der gekränkte Minneheld eine drastische Maßnahme zu seiner Ehrenrettung: Er lässt sich von einem Getreuen den nutzlosen Finger kurzerhand abschlagen. Danach bettet er das Amputat gemeinsam mit einem büechelîn in ein von einem Goldschmied angefertigtes ,Reliquiar‘ und übersendet dieses seiner Dame. Ulrichs Plan geht auf: Die konsternierte Edelfrau behält das makabre Geschenk und birgt es als metonymischen ,Stellvertreter‘ ihres Minnedieners in einer Lade, die sie täglich öffnet.

Christopher Young attestiert Ulrich von Liechtenstein, heute ein „B-Autor“7 – also nur zweitklassig – zu sein. Niemand würde ihn in einem Atemzug mit Dichtern wie Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg, Walther von der Vogelweide, Heinrich von Morungen oder Neidhart von Reuental nennen.8 Allerdings geht Young davon aus, dass Ulrich im Mittelalter sehr wohl zur elitären Runde der mittelalterlichen Größen gehört hatte. Es wird eine Aufgabe dieser Arbeit sein, Ulrichs aktuellen Status im mittelalterlichen ,Autoren‐Ranking‘ zu ←14 | 15→ermitteln und damit das Bild des nur zweitklassigen Dichters präsumtiv zu relativieren. Dieser Befund geht einher mit der ausführlichen Darstellung des Mythisierungsprozesses Ulrichs von Liechtenstein. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Dokumentation und Analyse der Rezeption seines Werkes, das offenbar von Beginn an Eindruck hinterlassen hat und noch heute rezeptive Reflexe auslöst.

Als eine der Leitfragen soll erörtert werden: Wie inszeniert sich die historische Person Ulrich als Prototyp eines Minneritters in seinen Werken Frauendienst und Frauenbuch? Dieser Fragestellung liegt die These zugrunde, dass Ulrich von Liechtenstein sein poetisches Leben gezielt auf eine Automythisierung ausgerichtet hat. Seine Wortkunst sollte Anteil am Projekt der literarischen Verewigung haben.9 Franz Viktor Spechtler spricht von einer „einzigartigen Selbststilisierung und Selbstinszenierung“10. Zudem will die Arbeit den Fragen nachgehen: Wie manifestiert sich die Mythisierung des Dichters in verschiedenen Medien kollektiven Gedächtnisses? Wie entfaltet Ulrichs Œuvre auf bestimmten gesellschaftlichen Ebenen – in Politik, Medien, Wissenschaft, Kultur – Wirkung und formt so Erinnerungskultur aktiv mit?11

Für die Diskussion sämtlicher Fragen werden disziplinäre Ansätze und theoretische Positionen erinnerungshistorischer Literaturwissenschaft aufgegriffen und grundlegende Werke von Aleida und Jan Assmann, Astrid Erll sowie Ansgar Nünning zu Rate gezogen. Unter Verwendung des Sammelbandes Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels12 wird der Begriff der „Transformation“ eingehend erläutert. Den in vorliegender Arbeit zitierten mittelhochdeutschen Textstellen des Frauendienstes liegt die Frauendienst‐Ausgabe13 Reinhold Bechsteins aus dem Jahr 1888 – in der Germanistischen Mediävistik noch immer die Edition erster Wahl – zugrunde (vgl. dazu Kap. 4.3.9). Ulrichs ←15 | 16→Lieder werden nach der historisch‐kritischen Textausgabe von Carl von Kraus14 (KLD) zitiert (vgl. dazu Kap. 4.6.2).

1.2Forschungsstand und Methodik

Die Ulrich‐Überlieferung und ‐Rezeption beginnt bereits Ende des 13. Jahrhunderts und wird erstmals im Überblick in Aufsätzen von Anna Opela (1999)15 und Volker Mertens (2010)16 behandelt. Bislang blieb es ein Desiderat, das Werk Ulrichs von Liechtenstein in der Summe der Rezeption über die Jahrhunderte hinweg zu reflektieren und sämtliche rezeptive Spuren in einer elektronischen Datenbank zu verzeichnen. Für vorliegende Arbeit hat sich „Microsoft Office Access“ als das geeignetste Programm erwiesen.

Die Ulrich‐von‐Liechtenstein‐Datenbank enthält von der Forschung bisher unbemerkte und unbeachtete literarische sowie außerliterarische Rezeptionsreflexe, welche vor dem Hintergrund des jeweiligen zeithistorischen Kontextes im Hinblick auf deren Beitrag zur Mythisierung Ulrichs von Liechtenstein untersucht werden. Insbesondere wird erstmalig die Ulrich‐Rezeption des 21. Jahrhunderts bis zur aktuellen Gegenwart beachtet. In dem der Arbeit anhängenden Verzeichnis in Form einer Druckdatei der Access‐Datenbank findet sich eine Auswahl aussagekräftiger und ,mythisierungsrelevanter‘ Lebenszeugnisse des Liechtensteiners, darunter neuzeitliche werknahe Nachdichtungen, musikalische Bearbeitungen, bildliche Darstellungen sowie gegenständliche und immaterielle Objekte. Beispielsweise taucht Ulrich als Filmheld (Ritter aus Leidenschaft17), als Büste in der Ehrengalerie des Grazer Burghofs und als populäre Figur in der zwischen 2016 und 2018 im Steiermärkischen Landesarchiv gezeigten Ausstellung #dichterleben – Mittelalterliche ,tweets‘ aus ←16 | 17→der Steiermark18 auf, zudem sind Straßen und eine Bildungseinrichtung nach dem Autor benannt. In der NS‐Zeit beschenkt die Gauleitung der Steiermark darüber hinaus Adolf Hitler mit einem gezeichneten Porträt Ulrichs, dem die Autorminiatur Ulrichs aus der Manessischen Liederhandschrift zugrunde liegt.19 Insgesamt sind in der Datenbank mehr als einhundert repräsentative Transformationen dokumentiert.

Als Analyseinstrumentarium aller Transformationen fungiert eine auf Basis kulturgeschichtlicher Literaturwissenschaft mit erinnerungshistorischer Ausrichtung entwickelte Matrix, die einheitliche Kriterien zur Objekt‐Inventarisierung, ‐Kategorisierung und ‐Beschreibung enthält. In Kapitel 2.4 wird eine detaillierte Darstellung dieses Tools bzw. der Analysemethode gegeben. Nach Vorliegen der Dissertation ist eine weitere Aufbereitung der Ulrich‐Transformationen zur Verwendung für die interessierte Öffentlichkeit insbesondere im Bereich der Schuldidaktik angestrebt, vorzugsweise über das „Grazer didaktische Texportal zur Literatur des Mittelalters“20.


1 [Anonym]: Einst und jetzt. In: Wiener Caricaturen 28 (1908), H. 51, S. 2.

2 Vgl. Ulrich von Liechtenstein: Frauendienst. Hrsg. von Franz Viktor Spechtler. 2., durchges. u. verb. Aufl. Göppingen: Kümmerle 2003. (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik. 485.) S. IV.

3 Vgl. ebda, S. III.

4 Franz Viktor Spechtler: Ulrich von Liechtenstein. Literarische Themen und Formen um die Mitte des 13. Jahrhunderts in der Steiermark. In: Die mittelalterliche Literatur in der Steiermark. Hrsg. von Alfred Ebenbauer, Fritz Peter Knapp und Anton Schwob. Bern [u. a.]: Lang 1988, S. 199.

5 Vgl. Christiane Ackermann: Die Kunst der Entschleierung. Autorinszenierungen im Frauendienst. In: Ulrich von Liechtenstein. Leben – Zeit – Werk – Forschung. L. Peter Johnson zum 80. Geburtstag. Hrsg. von Sandra Linden und Christopher Young. Berlin, N. Y.: De Gruyter 2010. (= De Gruyter Lexikon.) S. 343.

6 Vgl. Spechtler, Literarische Themen, S. 199.

7 Christopher Young: Ulrich von Liechtenstein in German Literary History. The Don Quixote of the Steiermark. In: Ulrich von Liechtenstein. Leben – Zeit – Werk – Forschung. L. Peter Johnson zum 80. Geburtstag. Hrsg. von Sandra Linden und Christopher Young. Berlin, N. Y.: De Gruyter 2010. (= De Gruyter Lexikon.) S. 2.

8 Vgl. ebda, S. 1.

9 Vgl. dazu Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck 1999, S. 181.

10 Spechtler, Frauendienst, S. III.

11 Vgl. dazu Astrid Erll: Erinnerungshistorische Literaturwissenschaft: Was ist… und zu welchem Ende…? In: Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft. Hrsg. von Ansgar Nünning und Roy Sommer: Tübingen: Narr 2004, S. 122.

12 Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels. Hrsg. von Hartmut Böhme [u. a.]. München: Fink 2011.

13 Ulrich’s von Liechtenstein Frauendienst. Hrsg. von Reinhold Bechstein. 2 Bde. Leipzig: Brockhaus 1888. (= Deutsche Dichtungen des Mittelalters. 6–7.)

14 Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts. Hrsg. von Carl von Kraus. Bd. 1: Text. Tübingen: Niemeyer 1952.

15 Anna Opela: Die „Frauendienst“‐Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert. In: Ich – Ulrich von Liechtenstein. Literatur und Politik im Mittelalter. Hrsg. von Franz Viktor Spechtler und Barbara Maier. Klagenfurt: Wieser 1999. (= Akten der Akademie Friesach. 5.) S. 221–241.

16 Volker Mertens: Ulrich von Liechtenstein vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. In: Ulrich von Liechtenstein. Leben – Zeit – Werk – Forschung. L. Peter Johnson zum 80. Geburtstag. Hrsg. von Sandra Linden und Christopher Young. Berlin, N. Y.: De Gruyter 2010. (= De Gruyter Lexikon.) S. 515–534.

17 Auf den Film A Knight’s Tale/Ritter aus Leidenschaft (USA 2001) wird in Kap. 4.7.2 ausführlich eingegangen.

18 Auf die Ausstellung #dichterleben – Mittelalterliche ,tweets‘ aus der Steiermark im Steiermärkischen Landesarchiv vom 19. Mai 2016 bis 31. Juli 2018 wird in Kap. 4.7.4 ausführlich eingegangen.

19 Auf die bildliche Transformation wird in Kap. 4.5.8 ausführlich eingegangen.

20 URL: https://gams.uni-graz.at/context:lima [01.01.2019].

Details

Seiten
374
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631817612
ISBN (ePUB)
9783631817629
ISBN (MOBI)
9783631817636
ISBN (Hardcover)
9783631808283
DOI
10.3726/b16775
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (März)
Schlagworte
Germanistik Steiermark Mediävistik Dichtung 13. Jahrhundert
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 374 S., 32 farb. Abb., 13 s/w Abb., 3 Tab.

Biographische Angaben

Jörg Schwaiger (Autor:in)

Jörg Schwaiger promovierte am Institut für Germanistik der Universität Graz.

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