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Franz Ficker (1782 - 1849)

Österreichische Ästhetik unter Staatsaufsicht vor dem Herbartianismus

von Tomáš Hlobil (Autor:in)
©2020 Monographie 320 Seiten
Reihe: Wechselwirkungen, Band 24

Zusammenfassung

Die vorliegende erste, auf zahlreichen Archivquellen basierende Monografie über Franz Fickers Ästhetik untersucht die Theorie des institutionell wichtigsten Universitätsästhetikers der österreichischen Monarchie des Vormärz aus zwei Gesichtspunkten: institutionell als Bestandteil der österreichischen Universitätspolitik und ideell als Bestandteil der Geschichte der mitteleuropäischen Ästhetik. Sie stellt drei Instrumente (Studienpläne der philosophischen Studien, Konkursprüfungen und Lehrbücher) dar, die der Wiener Hof in der Restaurationszeit zur Regelung der Universitätsästhetik benutzt hat, beschreibt den Inhalt und die Quellen von Fickers Ästhetik-Vorlesungen und Lehrbüchern und gliedert sie in die Geschichte der Ästhetik ein.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Danksagung
  • Einleitung
  • Gegenstand, Problemstellung, Forschungslage, Methode
  • Erster Teil Unter Staatsaufsicht
  • 1. Studienpläne
  • 2. Konkursprüfungen
  • 3. Lehrbuch
  • Zweiter Teil Vor dem Herbartianismus
  • I. Vorlesungen und Lehrbücher
  • 1. Olmützer Vorlesungen
  • Quellen
  • Inhalt
  • 2. Mitschriften und Lehrbücher
  • Themenauswahl und -ordnung
  • Olmützer Vorlesungen und Erstausgabe der Aesthetik
  • Erst- und Zweitausgabe der Aesthetik
  • Ästhetische Grundbegriffe
  • Olmützer Vorlesungen, Erst- und Zweitausgabe der Aesthetik
  • II. Reaktionen
  • 1. Rezensionen und Kommentare
  • Deutsche Rezensionen
  • Österreichische Rezensionen und Kommentare
  • Vergleich der deutschen und österreichischen Rezensionen
  • 2. Johann Ludwig Deinhardstein
  • 3. Rudolf Eitelberger (Robert Zimmermann, Eduard Hanslick)
  • Schluss
  • Anhang: Ästhetik-Themen in den österreichischen deutschsprachigen Lehrbüchern der theoretischen Philosophie der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der Rolle Immanuel Kants
  • Apparat
  • 1. Abkürzungsverzeichnis
  • 2. Handschriftliche Quellen
  • 3. Gedruckte Quellen
  • a. Vorlesungsverzeichnisse
  • b. Sonstige gedruckte Quellen
  • 4. Forschungsliteratur
  • 5. Nachweise der ursprünglichen Veröffentlichungen
  • 6. Namenregister
  • Reihenübersicht

Danksagung

Das vorgelegte Buch wäre nicht ohne die Unterstützung vieler Institutionen und ohne die Hilfe zahlreicher Einzelner zustande gekommen. Finanziell wurde das Werk von der Grant-Agentur der Tschechischen Republik (Projekt Nr. 18-04863S) und von dem Institut für Kunstgeschichte der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik (Programm RVO 68378033) getragen. Das Entgegenkommen der ersten Institution ermöglichte mir, mitteleuropäische Archive und Bibliotheken zu bereisen sowie das Buch ins Deutsche übersetzen zu lassen, die Mittel der zweiten Institution machten Herausgabe des Buchs möglich. Was nun Einzelpersonen angeht, so möchte ich in erster Linie, wie schon in meinen früher erschienenen Büchern, allen tschechischen und österreichischen Bibliothekaren und Archivaren meinen Dank abstatten, mit denen ich zusammenarbeiten konnte. Ohne deren Bereitwilligkeit, die verschiedensten, vielfach obskuren Quellen herauszusuchen, hätte diese Arbeit nie die hier präsentierte Gestalt angenommen. Insbesondere bin ich Herrn Dozent Johannes Seidl (Archiv der Universität Wien) in Dank verbunden, dessen außergewöhnliches Entgegenkommen, mit dem er auf meine Fragen reagierte, mir viele ungeplante Entdeckungen erlaubt hat. Ich danke Herrn Professor Wynfrid Kriegleder und weiteren Betreuern der Editionsreihe Wechselwirkungen, die meinen Text in diese Reihe angenommen haben. Ich sehe mich wiederum tief in der Schuld von Frau Regine Mez für gewährtes Obdach in Freiburg im Breisgau, wo ich den meisten Kapiteln ihre Endgestalt geben konnte. Ganz herzlichen Dank möchte ich meinem getreusten Leser der Manuskriptversion der einzelnen Kapitel – meinem Vater – aussprechen. Nicht zuletzt bin ich meiner Familie, in Přerov, Prag und Beyren-lès-Sierck, für die ständige Unterstützung dankbar. Es war für mich eine einzigartige Erfahrung, das Buch auf dem französischen Lande mit zwei Enkelinnen zu Ende zu komplettieren. Last but not least bedanke ich mich bei meiner Frau Daria.

Tomáš Hlobil

Přerov, den 15. Januar 2020

Einleitung

Gegenstand, Problemstellung, Forschungslage, Methode

In der Geschichte der europäischen Ästhetik dürfte man kaum auf einen Autor stoßen, bei dem tieferer Abgrund zwischen seiner Bedeutung zu Lebzeiten und der Ignorierung durch die spätere ästhetische Historiografie klaffte, als bei Franz Ficker (1782–1849).1 Im nordböhmischen Nokowitz (tschechisch Nebovazy) geboren, hat er Philosophie und Jura an der Universität in Prag studiert, war ab 1806 an mehreren böhmischen Gymnasien und ab 1816 am Lyzeum in Olmütz tätig. Im Jahr 1823 wurde er von Kaiser Franz I. zum außerordentlichen Professor für Ästhetik, Geschichte der Künste und Wissenschaften an der Universität Wien ernannt. Zwei Jahre drauf wurde seine Professur durch kaiserlichen Entscheid um klassische Philologie erweitert und zu einer ordentlichen Professur erhoben.2 Auf diesem Posten verblieb er bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1848.3 Aus seinem Titel eines Metropolitan-Professors war Ficker für mehr als ein Vierteljahrhundert der institutionell bedeutendste akademische Ästhetiker der österreichischen Monarchie in der Vormärzzeit. Er beurteilte alle Anwärter in den Konkursverfahren auf frei gewordene Ästhetik-Lehrstühle an weiteren österreichischen Universitäten und Lyzeen, ebenso alle Ersuchen um außerordentliche Vorlesungszyklen mit Bezug auf Ästhetik.4 Er schrieb Stellungnahmen ←11 | 12→zu allen Lehrbüchern für Fächer, die unter seine Professur fielen, und hat auch selbst Lehrbücher verfasst.

Fickers Aesthetik oder Lehre vom Schönen und der Kunst in ihrem ganzen Umfange (Wien, Heubner 1830) verwendeten laut den Vorlesungsverzeichnissen in Lemberg Michael Franz von Canaval (1830/1831) und Carlmann Tangl (1832/1833, 1834/1835, 1836/1837, 1838/1839), in Graz Albert von Muchar (1834/1835), in Innsbruck Lorenz Gabriel (1833/1834) und Aloys Flir (1835/1836, 1837/1838, 1839/1840), in Olmütz Joseph Leonhard Knoll (1830/1831) und Michael Franz von Canaval (1832/1833, 1836/1837, 1838/1839, 1840/1841, 1842/1843). Die Zweitausgabe (1840)5 hat Kaiser Ferdinand I., genannt der Gütige, zum offiziellen Ästhetik-Lehrbuch an den deutschsprachigen Lyzeen und Universitäten Österreichs erklärt. Diese Ausgabe verwendeten in Olmütz Carl L. Kopetzky (1844/1845, 1846/1847) sowie in Prag Joseph Wessely (1843/1844) und Michael Franz von Canaval (1845/1846, 1847/1848). Nach dem Druck der zweiten Ausgabe wurde Fickers Aesthetik ohne Angabe in den Vorlesungsverzeichnissen, mit welcher Ausgabe gearbeitet wurde, von Tangl in Lemberg (1840/1841, 1842/1843, 1844/1845) und Muchar in Graz (1844/1842, 1843/1844, 1845/1846, 1847/1848) verwendet.6 Fickers Aesthetik wurde mehrmals ins Italienische übersetzt und man kann annehmen, dass sie auch an Universitäten in den italienischen Provinzen der österreichischen Monarchie verwendet wurde.7 Piroska Balogh hat deren Einfluss in ungarischen Lyzeal- und ←12 | 13→Gymnasiallehrbüchern entdeckt.8 Die Zweitausgabe wurde auch jenseits der Grenzen der Monarchie, im bayerischen Würzburg von Franz Joseph Fröhlich und im fernen russischen Charkow von Wassilij Alexejewitsch Jakimov, verwendet.9 Beide Ausgaben wurden mehrfach in österreichischen und ausländischen (sächsischen, bayerischen und württembergischen) Zeitschriften rezensiert und kommentiert. Im Jahr 1845 haben die Akademie der Künste und Wissenschaften in Padua sowie die Großherzogliche Toskanische Gelehrte Gesellschaft in Arezzo Ficker ihre Ehrendiplome verliehen.10

Zusammenfassend gesagt: Der Einfluss und Widerhall des Ästhetikers Franz Ficker haben sich von Stuttgart über Tübingen, Innsbruck, Graz, Würzburg, München, Olmütz, Lemberg bis Charkow, von Göttingen über Leipzig, Prag, Wien und Padua bis nach Arezzo ausgebreitet. Einen derartigen Einfluss und Widerhall im In- und Ausland hat kein anderer österreichischer11 Universitätsästhetiker seit Einführung dieses Fachs in das hiesige Curriculum an der Prager Universität im Jahr 1763 bis zur Reform der philosophischen Studien nach dem Jahr 1848 erlangt. Stellt man Fickers akademischem Einfluss und Widerhall noch seine rege Publikationstätigkeit in Zeitschriften, insbesondere seine Rezensionen12 mit Bezug auf Werke über Ästhetik, an die ←13 | 14→Seite,13 ist es nur zu begreiflich, warum Silvester Lechner ihn als den „Wiener akademischen ,Ästhetik-Papst‘ in der Restaurationszeit“ bezeichnet hat.14

Wie bereits vorausgeschickt, steht die große zeitgenössische Bedeutung Franz Fickers in scharfem Kontrast zum verschwindend geringen Interesse an seiner Ästhetik-Theorie und seinen Schriften vonseiten der späteren ästhetischen Historiografie. Über Fickers Ästhetik liegt bislang kein Buchtitel, ja nicht einmal eine Studie vor. Die bisherige Forschung hat sich ausschließlich auf gelegentliche Glossen über seine Teilstandpunkte in thematisch anders ausgerichteten Arbeiten beschränkt. Die historischen Darstellungen der allgemeinen Ästhetik (Zimmermann, Croce, Allesch)15 erwähnen Ficker ganz kurz im Rahmen des Kapitels über die deutsche Ästhetik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die historischen Darstellungen der böhmischen und österreichischen Musikästhetik (Grimm, Boisits) bieten eine kurzgefasste Charakteristik von seinen Ansichten ←14 | 15→über Musik an, die von Petr Víts Buch zum ästhetischen Denken über Musik in den böhmischen Ländern der Jahre 1760 bis 1860 ausgeht.16 Die historischen Darstellungen der poetologischen Begriffe und Themen (G. Jäger, H.-W. Jäger, Eisenbeiss, Bachleitner, Kucher, Holtermann)17 führen Fickers gattungspoetologische Ansichten über gelehrte Poesie, Idylle, Roman oder das Komische in Übersichten deutscher und österreichischer Theorien des untersuchten Begriffs oder Themas ein. Die Studien zur Geschichte der österreichischen Literatur (Seidler, Schöckl)18 zeigen eine Bindung zwischen seiner Theorie und der zeitgenössischen, auf Deutsch verfassten, österreichischen Literatur auf.19

Die bisherige, Fickers Ästhetik kommentierende Literatur leidet unter zwei Mängeln, die sie aus dem Blickwinkel des Themas dieses Buches nahezu unbrauchbar erscheinen lässt. Der erste besteht im bereits erwähnten Umstand, dass sie Fickers Ästhetik als Bestandteil einer primär anders gerichteten Forschung thematisiert, keineswegs als Zentralthema, und sich folglich dazu nur kurz und marginal ausdrückt. Der zweite Mangel ergibt sich aus der Tatsache, dass die Forscher Fickers Ästhetik konsequent weder mit der österreichischen Schulpolitik noch mit den zeitgenössischen Lehrbüchern in Verbindung gebracht haben. Die meisten suchen sie bevorzugt an die großen Leistungen anzuknüpfen, die in der traditionellen ästhetischen Historiografie festgehalten ←15 | 16→werden: chronologisch und namentlich insbesondere an Alexander Gottlieb Baumgarten, Immanuel Kant, Friedrich Schiller, Johann Gottfried Herder, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, die Gebrüder Schlegel, Jean Paul und Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Die Vernetzung von Fickers Theorien mit den zeitgenössischen Größen mündete in zahlreiche unhaltbare Thesen aus, deren Aufzählung hier keinen Sinn hätte. (Auf die gravierendsten Irrtümer verweise ich in den einzelnen Kapiteln.) Hier genügt eine zusammenfassende Feststellung, dass viele Thesen, mit denen die Literatur eine Verankerung von Fickers Ästhetik-Theorie in den großen Theorien belegt, als unmittelbare Reaktion auf die amtlichen Beurteilungen seiner Lehrbücher entstanden sind. Gerade diese Beurteilungen haben Ficker genötigt, eine Reihe von Änderungen vorzunehmen, die von der Literatur als Direktbeweise für das Studium neuer Ästhetik-Werke einschließlich des in Österreich unter Verbot gestellten Hegel aufgefasst wurden.

Der scharfe Kontrast zwischen der zeitgenössischen Bedeutung Franz Fickers und dem geringen Interesse der Historiografie der Ästhetik wirft die Frage auf, was diesen Widerspruch hervorgerufen hat. Entscheidend sind meiner Meinung nach zwei Gründe. Der erste – historiografische – hängt mit der von der außerordentlich starken, nach 1848 antretenden österreichischen Philosophen-, Ästhetiker- und Kunstwissenschaftlergeneration gegen die von der Zensur geknebelten akademischen Verhältnisse in der Restaurationszeit geführten Kampagne zusammen.20 Diese Generation, die sich nach der Universitätsreform vom Jahr 1849, welche die philosophische Fakultät mit den sog. höheren oder Professionsfakultäten (Theologie, Jura und Medizin) gleichgestellt hatte, bemühte, neue Fächer institutionell zu etablieren, tat sich unter anderem durch ein konsequentes Verschweigen der Leistungen ihrer Vorgänger hervor. Das Resultat ist ein von breiten Forscherkreisen geteilter und später nicht mehr gründlich untersuchter Schluss, dass die früheren österreichischen Dozenten für Ästhetik, Kunstgeschichte und weitere Kunstwissenschaften unfähig waren, dem Konzept einer modernen, forschungsorientierten Hochschulwissenschaft gerecht zu werden, folglich, dass diese Fächer in den propädeutischen philosophischen Studien in Österreich vor dem Jahr 1848 eigentlich nicht existierten.

←16 | 17→

Diese Nachmärz-Kampagne war soweit erfolgreich, dass heute, wenn die Rede auf die Anfänge der österreichischen Ästhetik kommt, in den meisten Fällen erst von den Herbartianern gesprochen wird. Die vorherbartianische Ästhetik ist mit Ausnahme Bernard Bolzanos bislang noch nicht zu einem vollwertigen, systematischen historiografischen Forschungsobjekt gemacht worden.21 Die derzeitige Erforschung der frühen Prager Universitätsästhetik22 wies jedoch auf die faktografische und historische Unhaltbarkeit dieses Vorgehens hin, bei dem verschwiegen wird, dass eine österreichische (Universitäts-)Ästhetik bereits mehr als achtzig Jahre vor dem Aufkommen des Herbartianismus existiert, sich entfaltet und markant gewandelt hatte. Ohne gründliche Kenntnis dieser Frühetappe der österreichischen Ästhetik, die Hunderte von Studenten an österreichischen Universitäten und Lyzeen geprägt und die hiesige Literatur-, Kunst-, Theater- und Musikkritik23 und mittels dieser das Kunstschaffen überhaupt mitgestaltet hatte, kann man nicht einmal gehörig die Neuheit des herbartianischen Umschwungs begreifen, ja feststellen, ob die Verdammung der Vorgänger gerechtfertigt und richtig war.

Der zweite Grund für Fickers historiografische Hintansetzung ist ein heuristischer. Die Überzeugung, dass die österreichische Universitätsästhetik vor dem Jahr 1848 nicht systematisch erforscht werden müsse, wurde vom Umstand bestärkt, dass die meisten ihrer Quellen nicht im Druck erschienen sind. Die Vorlesungen wurden mündlich verbreitet und sind am häufigsten in handgeschriebenen, entweder von den Vorlesenden oder deren Hörern angefertigten Mitschriften erhalten. Diese häufig in Hast entstandenen, nicht selten viele hundert Seiten umfassenden Manuskripte sind nicht in jeder Universitätsbibliothek zu entleihen wie die gedruckten Arbeiten Bolzanos und der Herbartianer, sondern müssen vorher ausfindig gemacht, häufig erst identifiziert und mühsam gelesen werden. Das Resultat ist ein Zustand, in dem die Kenntnis der frühen ←17 | 18→österreichischen Universitätsästhetik als Rückgrat der damaligen österreichischen Ästhetik mit Ausnahme von Prag24 unzulänglich ist.25 (Es fehlt sogar ein entsprechendes Quellenverzeichnis.) Dieser Schluss gilt auch für die Ästhetik Franz Fickers.

Die ausstehende Durchforschung von Fickers Ästhetik stellt eine erhebliche Lücke in der Geschichte der frühen österreichischen (Universitäts-)Ästhetik dar, die vom nachstehenden Buch teilweise geschlossen wird. Dessen Vorgehen unterscheidet sich von der traditionellen ästhetischen Historiografie, die sich vordergründig auf die immanente Entwicklung des Nachsinnens über ästhetische Themen konzentriert. Diese nur die Erfassung der sog. großen Theorien ermöglichende Forschungsweise erlaubt nicht aufzuzeigen, was sich in einer bestimmten Region zu einer bestimmten Zeit wirklich ereignet hat. Das gilt auch für Fickers Ästhetik. Diese kann man angesichts ihrer von der Staatsbürokratie erzwungenen Abhängigkeit von der Schulpolitik des Wiener Hofs nicht allein ideell als Bestandteil der europäischen Geschichte der Ästhetik untersuchen, sondern man muss sie auch institutionell als Bestandteil des von den österreichischen Kaisern erzwungenen Systems der philosophischen Studien und der darin vertretenen Fächer einschließlich der Ästhetik auffassen.

Das Buch besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil – Unter Staatsaufsicht – untersucht aufgrund bislang weitgehend übersehener Dokumente aus tschechischen und österreichischen Archiven die Regeln für das Funktionieren der österreichischen Universitätsästhetik, die vom Staat in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchgesetzt wurden. Der österreichische Staat hat insbesondere in der Restaurationszeit zu diesem Zweck geradezu filigranartig drei Instrumente ausgearbeitet. Das erste ←18 | 19→Instrument waren die Studienpläne der philosophischen Studien als propädeutischer Verbindungslinie zwischen Gymnasium und Studium an den Professionsfakultäten. Mit deren Hilfe bestimmte der Staat, welche Fächer in die philosophischen Studien eingereiht wurden, schrieb deren Inhalt sowie Unterrichtsumfang, -weise und -ziel vor. Das zweite Instrument stellten die Konkursprüfungen dar. Mittels dieser Prüfungen wählte der Staat die „geeignetsten“ (was dieses Attribut bedeutete, legt das entsprechende Kapitel offen) Dozenten für das gegebene Fach aus und gewährleistete deren zweckmäßige Rotation zwischen Lyzeen und Universitäten. Das dritte Instrument war die Genehmigung von Lehrbüchern, nach denen unterrichtet werden durfte einschließlich der Deklarierung ausgewählter Bücher zu offiziellen österreichischen Lehrbüchern. Untersuchungen zur Weise, wie diese staatlich-bürokratischen Prozeduren im Fall von Franz Fickers Ästhetik zur Anwendung kamen, stellen den Gegenstand des ersten Buchteils dar.

Der zweite Teil – Vor dem Herbartianismus – befasst sich mit dem Inhalt von Fickers am Lyzeum in Olmütz und an der Universität Wien gehaltenen Ästhetik-Vorlesungen aufgrund einer Analyse der Zentralthemen von Studenten-mitschriften und beiden Ausgaben seines Lehrbuchs Aesthetik oder Lehre vom Schönen und [von] der Kunst in ihrem ganzen Umfange. Die Untersuchung enthüllt die Quellen seiner Theorie und beschreibt die Weise, wie er damit gearbeitet hat. Er untersucht die Reaktion auf beide Ausgaben der Aesthetik – in- und ausländische Rezensionen und Kommentare einschließlich des Nachhalls in Gestalt der Stellungnahmen profilierender Persönlichkeiten der österreichischen Ästhetik und Kunstgeschichte nach 1848 mit Rudolf Eitelberger an der Spitze. Damit fügt das Buch Fickers Ästhetik in die Geschichte der europäischen Ästhetik ein.

Am Schluss des Buchs habe ich einen Anhang über Ästhetik-Themen in österreichischen deutschsprachigen Lehrbüchern der theoretischen Philosophie aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingereiht. Die Präsentation von Ästhetik-Themen in den Philosophielehrbüchern der Universitätskollegen Fickers ermöglicht eine vielseitigere Einsicht in die beim Verfassen von Lehrbüchern unter den damaligen österreichischen Verhältnissen üblichen Verfahren und macht mit der zeitgenössischen Auffassung der Ästhetik seitens der österreichischen Philosophie bekannt.

Das Hauptziel der gewählten Methode, der Verknüpfung des institutionellen und ideellen Zugangs, ist, so komplex und plastisch wie möglich vorzuführen, was Franz Fickers Ästhetik-Theorie verkündete, wovon sie ausging und wie sie mit den Ausgangsimpulsen arbeitete. Das alles unter voller Berücksichtigung der komplizierten Zeit, in der er tätig war. Denn der österreichische Staat griff in der Restaurationszeit gezielt und systematisch in den akademischen Betrieb ein, dass man von einer Universitätserziehung zur Staatsästhetik sprechen kann.

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1 Grundlegende biografische Literatur über Ficker: Gräffer – Czikann 1835, S. 138; Hirsch 1836; A.W.B. 1838; Wurzbach 1856–1891, IV, S. 219–220; Will 1972, S. 41–43; Anonymos 1972, Sp. 1000.

2 So geschehen am 3. November 1825: Rangordnung sämtlicher Professoren der philosophischen Studien im Laufe des verschlossenen Schuljahrs 1825 vom 1. November bis letzten October. AUW, PhF, Vizedirektorat, 1826, K. 14, Fasz. XII, 233.

3 Im Jahr 1839 wurde Ficker zum Dekan der philosophischen Fakultät gewählt. Anonymos, Wien. Oesterreichisch-Kaiserliche privilegirte Wiener Zeitung, 14. Dezember 1839, Nr. 288, S. 1807.

4 Zum bekanntesten und einzigen in der Literatur behandelten Fall von Fickers Gutachten zu Ästhetik-Vorlesungen, die außerhalb des offiziellen Curriculums der Universität Wien stehen sollten, ist die Beurteilung eines Antrags von Adalbert Stifter. S. Gerlitsch – Pochat – Wiltschigg 1992, S. 204–205. Stifters Gesuch einschließlich Auszügen aus Fickers Gutachten und weiteren Reaktionen abgedruckt in Adalbert Stifter, Werke und Briefe. Bd. 8,1. Schriften zur Literatur und Theater. Hg. von Werner M. Bauer. Stuttgart – Berlin – Köln, Kohlhammer 1997, S. 22–27, 151, 201–215. Im Archiv der Universität Wien befindet sich eine Vielzahl von Fickers Stellungnahmen zu verschiedenen Angelegenheiten. Diese wurden bislang noch nicht systematisch aufgearbeitet.

5 Franz Ficker, Aesthetik oder Lehre vom Schönen und der Kunst in ihrem ganzen Umfange. Wien, Heubner 1830. Derselbe, Aesthetik oder Lehre vom Schönen und von der Kunst in ihrem ganzen Umfange. Zweite vermehrte und verbesserte Auflage. Wien, Heubner 1840. Ferner im ganzen Buch Ficker, Aesthetik I und Ficker, Aesthetik II.

6 Detaillierte Angaben über die Verwendung von Fickers Aesthetik an den österreichischen Universitäten und Lyzeen Hlobil 2018a, S. 29–68.

7 Die Vorlesungsverzeichnisse der relevanten Universitäten in Pavia und Padua blieben für mich unerreichbar. Ich kann also nicht direkt belegen, dass neben den deutschsprachigen Lyzeen und Universitäten auch österreichische Universitäten in den italienischen Provinzen Fickers Aesthetik verwendet haben. Einen Unterricht lassen jedoch Übersetzungen ins Italienische, insbesondere die vom Professor für Ästhetik an der Universität Padua Vincenze de Castro, annehmen. Vgl. Franz Ficker, Estetica ossia teoria del bello e dell’arte die Francesco Ficker. Prima versione italiana con note di Vincenzo de Castro. Venezia, Naratovich 1845/6. Weitere Ausgaben Neapel 1852, 1856 und 1857. Zu anderen italienischen Übersetzungen s. ÖStA – AVA, SHK, K. 879, Sign. 24, Publikationen, Lehrbücher, Schulbücher: C Philosophie, Ästhetik. Benedetto Croce erwähnt noch eine von den vorigen Archivalien nicht erfasste italienische Übersetzung. In diesem Fall handelt es sich aber wahrscheinlich um einen Irrtum, verursacht durch die Ähnlichkeit der Bezeichnung von Castros Übersetzung und Pietro Lichtenthals Estetica ossia dottrina del bello e delle arti belle (Milano, Pirotta 1831). Croce 1930, S. 368.

Details

Seiten
320
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631820537
ISBN (ePUB)
9783631820544
ISBN (MOBI)
9783631820551
ISBN (Hardcover)
9783631819418
DOI
10.3726/b17347
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (August)
Schlagworte
Ästhetik als Universitätsfach Geschichte der Ästhetik Vormärz Österreichische Universitäten Österreichische Universitätspolitik Ästhetik in Österreich Ästhetik in Mitteleuropa
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 320 S., 1 farb. Abb.

Biographische Angaben

Tomáš Hlobil (Autor:in)

Tomáš Hlobil ist Professor für Geschichte der Ästhetik an der Karls-Universität in Prag und Mitarbeiter des Instituts für Kunstgeschichte der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der europäischen Ästhetik des 18. und 19. Jahrhunderts, Ästhetik als Universitätsfach und Geschichte der Historiografie der Ästhetik.

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Titel: Franz Ficker (1782 - 1849)
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