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Strategien des Begehrens: Homotextualität in der deutschen und mexikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts

von Raquel Soledad López Torres (Autor:in)
©2021 Dissertation 312 Seiten

Zusammenfassung

Im Rahmen der Gender und Cross Cultural Studies vergleicht die mexikanische Germanistin Raquel Soledad López Torres im Ausgang von Jacob Stockingers Ansatz zur Analyse von ‹Homotextualität› Werke deutscher und mexikanischer Autoren des 20. Jahrhunderts – Bruno Vogel, Hubert Fichte, Detlev Meyer, Luis Zapata, Raúl Rodríguez Cetina und Luis González de Alba – im Hinblick auf die interkulturell und ‹homotextuell› unterschiedliche literarische Verarbeitung ihrer eigenen sexuellen Identität. Das besondere Augenmerk der Verfasserin gilt dabei nicht nur der Homosexualität als eines literar-ästhetischen Sujets, sondern auch den sozial-historischen Bedingungen, unter denen die Autoren ein zu ihrer Zeit tabuisiertes Thema in ihren verschiedenen Kulturen angesprochen haben. Exemplarisch stellt sie in ihrer Untersuchung jeweils die Modellierung der Figur zweier schwuler Soldaten, die provokative Schreibweise zweier bisexueller Autoren und die (auto-)biographisch heikle Behandlung der Aids-Problematik einander gegenüber. Angesichts der zuletzt vielerorts wieder zunehmenden Homophobie und Xenophobie kommt diese Studie genau zur rechten Zeit, um das Bewusstsein der Leser für die Diskriminierungserfahrung von Minderheiten zu schärfen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Title
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 2 Historischer Hintergrund
  • 2.1 Deutschland
  • 2.1.1 Robert Beachys Gay Berlin. Birthplace of a Modern Identity
  • 2.1.2 Die Literatur
  • 2.2 Mexiko
  • 2.2.1 Das alte Mexiko
  • 2.2.2 Der Effeminierte
  • 2.2.3 Der Ball der 41 Transvestiten
  • 2.2.4 Eduardo A. Castrejón (Pseud.): Los cuarenta y uno: Novela crítico social (1906)
  • 2.2.5 Die Zeitgenossen
  • 2.2.6 Salvador Novo (1904–1974): La estatua de sal (1998)
  • 2.2.7 Carlo Cóccioli (1920–2003): Fabrizio Lupo (1952)
  • 3 Literarisierung der eigenen Homosexualität in einem homophoben Milieu
  • 3.1 Bruno Vogel (1898–1987)
  • 3.1.1 Alf. Eine Skizze (1929)
  • 3.1.2 Vorstellung des Protagonisten
  • 3.1.3 Die Doppelmoral bürgerlicher Normen
  • 3.1.4 Die Ich-Findung des homosexuellen Protagonisten
  • 3.1.5 Die Sprache
  • 3.1.6 Der Soldat als Rollenbild und literarisches Motiv
  • 3.1.7 Der Tod als eine positive Utopie
  • 3.2 Luis Zapata (1951–2020)
  • 3.2.1 De amor es mi negra pena (1983)
  • 3.2.2 Vorstellung des Protagonisten
  • 3.2.3 Orte der „Homosozialität“
  • 3.2.4 Der Soldat als Rollenbild und literarisches Motiv
  • 3.2.5 Die Sprache
  • 3.2.6 Der Tod als Flucht vor der Demütigung
  • 3.3 Fazit
  • 4 Provokative Schreibweise und Darstellung des Themas
  • 4.1 Hubert Fichte (1935–1986), Versuch über die Pubertät (1974)
  • 4.1.1 Autobiografisches Schreiben: Die Literarisierung der eigenen sexuellen Erfahrung
  • 4.1.2 Das transgressive Benehmen des Protagonisten
  • 4.1.3 Der gewalttätige Geschlechtsverkehr
  • 4.1.4 Die Sprache
  • 4.1.5 Eros und Thanatos
  • 4.2 Raúl Rodríguez Cetina (1953–2009)
  • 4.2.1 El Desconocido (1978)
  • 4.2.2 Autobiografisches Schreiben: Die Literarisierung der eigenen sexuellen Erfahrung
  • 4.2.3 Das transgressive Benehmen der Protagonisten
  • 4.2.4 Der gewalttätige Geschlechtsverkehr
  • 4.2.5 Die Sprache
  • 4.2.6 Merkmale einer Stigmatisierung
  • 4.3 Fazit
  • 5 Die Literarisierung von Aids und Homosexualität
  • 5.1 Detlev Meyer (1948–1999), Biographie der Bestürzung (1985–1989)
  • 5.1.1 Darstellung des Protagonisten
  • 5.1.2 Die Literarisierung von Aids und die Stigmatisierung der Homosexuellen
  • 5.1.3 Zerstörung der Männerliebe durch die Krankheit
  • 5.1.4 Die Sprache
  • 5.2 Luis González de Alba (1944–2016)
  • 5.2.1 Agápi Mu (Amor mío) (1993)
  • 5.2.2 Darstellung des Protagonisten
  • 5.2.3 Die Literarisierung von Aids und die Stigmatisierung der Homosexuellen
  • 5.2.4 Zerstörung der Männerliebe durch die Krankheit
  • 5.2.5 Die Sprache
  • 5.3 Fazit
  • 6 Schlussfolgerungen
  • Literaturverzeichnis

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1 Einleitung

Ein Teil des Interesses für das Thema Homosexualität1 und Literatur hat mit persönlichen Erlebnissen zu tun. Die Idee entstand, nachdem die Autorin immer wieder Berichte in der Presse über Angriffe gegen die LGBTI-Gemeinschaft gelesen hat. Beispielsweise wurde am 10. August 2019 der 21-jährige schwule Aktivist Miguel Ángel Medina Lara südwestlich von Mexiko missbraucht und brutal ermordet. Sowohl die regionale als auch die nationale Exekutive Mexikos zeigten wie gewohnt ihre Gleichgültigkeit vor dem homophoben Aspekt des Angriffs und weigerten sich, diesen als Hassverbrechen zu bezeichnen.

Gewalt ist also für die LGBTI-Gemeinschaft nicht neu: Erpressungen, Demütigungen, Straftaten, Misshandlungen und Morde gehören zu deren Alltag. Deshalb hat sich die Autorin zum Ziel gesetzt, herauszufinden, was im Kopf eines Menschen vorgehen muss, damit er solch schreckliche Taten begeht. Wie entsteht der Hass gegen das Anderssein?

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Andererseits war es interessant, sich mit Homosexualität auseinanderzusetzen, da diese ein relativ neues Forschungsfeld in der Literaturwissenschaft ist. Obwohl das Thema innerhalb der Queer und Gender Studies vor allem in den USA langsam an Bedeutung gewonnen hat, wird immer noch sowohl in Mexiko als auch im deutschsprachigen Raum wenig darüber geforscht und oftmals mit zu wenig Sorgfalt dokumentiert.

Über das Verhältnis von Homosexualität und Literatur erklärt Heinrich Detering (2005: 11), dass dieses nicht neu sei, „sondern schon so alt wie die theoretische Beschäftigung mit Entstehung, Beschaffenheit, Verbreitung der Homosexualität selbst“. Weiterhin gibt er einen Überblick über die Vorkämpfer der Schwulenbewegung und die Entstehung des Wortes „Homosexualität“. Der Schweizer Heinrich Hössli (1784–1864) sei der Erste gewesen, der „das Modell eines ‚dritten Geschlechts‘ entwarf“ (ebd.). In seinem zweibändigen Buch Eros. Die Männerliebe der Griechen, ihre Beziehungen zur Geschichte, Erziehung, Literatur und Gesetzgebung aller Zeiten (1836/38) stützt er sich auf Texten der Antike, um zu beweisen, dass „die Geschlechtsliebe der Griechen“ oder „die platonische Liebe“ Natur und nicht etwas Strafbares oder Krankes ist. So legt er zum Beispiel Folgendes dar:

[…] Wir rechnen die platonische Liebe zu unserer allgemeinen Natur des Mannes, denn wir kennen nur eine; oder wir rechnen sie nicht zur Natur des Menschen – in beidem ist nun keine Wahrheit; diese ist in den Lehren der Griechen, die sie als einen besondern bestimmten Theil vom männlichen Geschlecht darstellen und in allen Richtungen behandeln. Als Natur kann er nie zu einer andern gehören, als zu der so – er ist. Der das andere Geschlecht liebende große und allgemeine Theil kann nicht die das andere Geschlecht nichtliebende Natur sein, und die ihr eigenes Geschlecht liebende kann nicht die ein anderes liebende sein. Wir anerkennen doch hoffentlich ganz erweislich, daß die Zweigeschlechtsliebe eine völlig unwillkührliche, mehr innerliche als äußere Menschennatur sei; hätten wir dies vereint mit allem dem, so von der Männerliebe der Griechen auf uns gekommen ist, recht wissenschaftlich und ohne Wahn und Vorurtheile fest gehalten: wir hätten die uns da fehlende Wahrheit längst schon finden müssen und gefunden; so wie sie die Griechen nur durch und in der Natur, ihr jederzeit näher als wir, fanden. Wo wir etwas zu einem Theil der Natur rechnen, das nicht zu ihm gehöret, da mißhandeln und mißverstehen wir schon diesen Theil an und für sich selbst, ohne daß wir das nicht zu ihm Gehörende ebenfalls gewaltsam und blind von seiner Stelle gerissen, der Natur entrissen, ihre Zwecke übersehen, das eine geschunden und das andere mit einer Ueberhaut bekleidet haben müssen. Wo wir zwei Naturen für eine behandeln, und wieder eine für zwei, da ist nothwendig Nacht und Unrecht mit allen ihren Folgen links und rechts (Hössli 1996: 5 f.).

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Im Jahr 1852 begutachtete der Rechtsmediziner Johann Ludwig Casper (1796– 1864) „die Päderasten“ in einem Aufsatz mit dem Titel Ueber Nothzucht und Päderastie und deren Ermittlung Seitens des Gerichtsarztes. Obwohl er darin das gleichgeschlechtliche Begehren stereotypisiert und es ein ekelhaftes „Geschlechtsverbrechen“, ein „Laster“ oder „solche Gräuel“ nennt (1852: 57 f.), betrachtet er dieses als ein angeborenes Merkmal und nicht als eine sexuelle Perversion. Somit begann Casper „eine Modernisierung der Medikalisierung sexueller Abweichungen“ (Herrn 1999: 12). „Die Päderastie“ erklärte Casper (1852: 62) wie folgt:

Die gleichgeschlechtliche Hinneigung von Mann zu Mann ist bei vielen Unglücklichen – ich vermute aber bei der Minderzahl – angeboren, während sie bei vielen anderen Männern erst im spätern Leben, als Folge einer Uebesättigung im gewöhnlichen Dienste der Venus, auftaucht. Nicht wenige dieser Männer pflegen ein mehr weibisches Aeussere zu haben. Sie sind weibisch eitel in ihrem Anzuge, die Haare in Locken gekräuselt, Ringe bedecken die Finger und Riechwasser werden reichlich verbraucht.

Der Jurist Karl Heinrich Ulrichs (1825–1895) wird der „erste große Theoretiker der Homosexualität“ (Detering 2005: 12) und der „‚Vater‘ der Homosexuellenbewegung“ genannt (Sigusch: 2000: 20). Weil das Preußische Strafgesetzbuch Homosexualität mit Gefängnis und der Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte bestrafte, bemühte sich Ulrichs jahrelang in seinen Schriften Forschungen über das Rätsel der mannmännlichen Liebe (1864–1897) um die Rechte der „Urninge“, die er nach dem griechischen Gott Uranus nannte, und so beschrieb:

§. 1. Thatsache ist es, dass es unter den Menschen Individuen giebt, deren Körper männlich gebaut ist, welche gleichwohl aber geschlechtliche Liebe zu Männern, geschlechtlichen Horror vor Weibern empfinden, d. i. Horror vor geschlechtlicher Körperberührung mit Weibern.

§. 2. Diese Individuen nenne ich nachstehend „Urninge“ […]

Eine poetische Fiction Plato’s leitet nämlich den Ursprung der mannmännlichen Liebe ab vom Gotte Uranus, den der Weiberliebe von der Dione (Plato’s Gastmahls, Cap. 8 und 9) (Ulrichs 1898a: 21 f.).

Ferner entwickelte er die Theorie von einer weiblichen Seele in einem männlichen Körper. Alle „Urninge“, so Ulrichs, trügen „ein anderes weibliches Element“ in sich, „welches […] den positiven Beweis liefert, dass die Natur in uns körperlich den männlichen Keim entwickelte, geistig aber den weiblichen“ (Ulrichs 1898b: 25, Hervorh. im Original). Ebenfalls sprach er zum ersten Mal von einem „dritten Geschlecht“:

§. 7. […] Es giebt eine eigene Klasse geborener Urninge, eine eigene Klasse von Individuen, denen neben männlichem Körperbau weiblicher Geschlechtstrieb angeboren ist, eine eigene Unterart von Männern, denen mannmännliche Liebe angeboren ist […].

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§. 8. Unter „angeboren“ ist zu verstehen: geschlechtlich angeboren, organisch angeboren, dem geistigen Geschlechtsorganismus nach angeboren […].

§. 9. Das Angeborensein männlicher Liebe ist ein Angeborensein in dem Masse, dass das Individuum, dem sie angeboren ist, der Urning, in Folge dessen gar nicht vollständig Mann ist, sondern nur „Quasi-Mann“ oder „Halbmann“ genannt zu werden verdient […].

§. 10. Wir Urninge bilden eine zwitterähnliche besondere geschlechtliche Menschenklasse, ein eigenes Geschlecht, dem Geschlecht der Männer und dem der Weiber als drittes Geschlecht coordiniert […] (Ulrichs 1898a: 25 f., Hervorh. im Original).

In seinen Beiträgen beschrieb Ulrichs die homosexuellen Männer und Frauen, ihre innerlichen und äußerlichen Merkmale, ihre Leiden und Leidenschaften sowie die Ungerechtigkeiten, die sie durch das System und seine Gesetze erlitten. Somit wirkte er bei den ersten „homosexuellen Emanzipationsbewegungen“ (Detering 2005: 12) mit, in denen „seit dem Ende des 19. Jahrhunderts […] die Auseinandersetzung mit homosexuellen Dichtern so selbstverständlich wie die naturwissenschaftliche und psychologische Forschung“ wurde (ibid.: 11). Volkmar Sigusch (2000: 19) beschreibt Ulrichs’ Bemühungen wie folgt:

Viel von dem, was eine ‚Bewegung‘ ausmacht, nahm Ulrichs als Einzelkämpfer voraus: öffentliche Widerreden, Demonstrationen und Anklagen; Streitschriften und Eingaben an die Gesetzgeber und ihre Kommissionen; Vernetzung der ‚Genossen‘; Einrichten eines Archivs des Pro und Kontra und damit der Individual-, Sozial- und Kriminalgeschichte bis dahin Geschichtsloser; Auflisten berühmter Männer der Vergangenheit, die Männer geliebt haben sollen; Androhen, namhafte Urninge der Gegenwart als solche zu entlarven, heute Outing genannt; Umwerben und Auflisten der sich für eine Entpönalisierung aussprechenden Nichturninge; Konzeption eines „Urningsbundes“; Einrichten einer Unterstützungskasse für in Not geratene Gleichgesinnte; Gründung der ersten Zeitschrift für sie; und nicht zuletzt das, was erst einhundert Jahre später kollektiv möglich wurde: öffentliches Sichbekennen, heute Coming out genannt – alles, wohlgemerkt, nicht im 20. Jahrhundert, sondern bereits vor 130 Jahren […].

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Die Begriffe „Homosexualität“, „Heterosexualität“ und „Sexualforscher“ sind zum ersten Mal 1869 in verschiedenen Dokumenten des Schriftstellers Karl Maria Kertbeny (1824–1882) erschienen (Siehe Herzer 2000: 7), die er anonym gegen die Bestrafung sexueller Handlungen zwischen Männern in Preußen und im Norddeutschen Bund veröffentlichte. Damit sei er „sehr wahrscheinlich auch der Erfinder dieser Wörter, die im zwanzigsten Jahrhundert in alle Weltsprachen Eingang fanden und das Denken und Forschen über das Geschlechtsleben beeinflussten“ (ebd.). So wie Ulrichs versuchte auch Kertbeny, die gleichgeschlechtliche Liebe zu erklären und die Straffreiheit für diese Liebe zu begründen (ebd.). So kritisiert er zum Beispiel die Doppelmoral einer Gesellschaft, die viele Laster, wie die Prostitution, erlaubt, aber die Homosexualität bestraft:

Und solch einer Gesellschaft gegenüber, wie es unsere heutige, besonders in den grossen und mittelgrossen Städten ist […] will man noch mittelalterliche Anschauungen über sexuale Ausschweifungen aufrecht erhalten, will man die gleichen Thaten bei der immensen Majorität der gegengeschlechtlichen Naturen völlig straflos lassen, bei der verhältnissmässig doch noch so ungemein geringen Minorität der homosexualen Naturen hart und brutal gleich wirklichen Verbrechen und sogar noch mit Ehrloserklärung strafen? Das ist nicht mehr bloss ungerecht, das ist von unserm heutigen Standpunkte der Weltanschauung aus eine sträfliche Absurdität (Kertbeny 2000: 97).

Auf diese Weise begann die Auseinandersetzung mit der männlichen Liebe. Seitdem wurden regelmäßige literarische, juristische und medizinische Publikationen veröffentlicht. So nennt Detering zum Beispiel Der Eigene, eine von Adolf Brand (1874–1945) herausgegebene Literaturzeitschrift, die von 1896 bis 1932 erschien und vor allem homosexuellen Schriftstellern gewidmet war, deren Werke „als ästhetischer Gegenentwurf zu einer zugleich ‚unmännlich‘ und kunstfeindlich degenerierten Gesellschaft“ erörtert wurden (Detering 2005: 12). Das von Magnus Hirschfeld (1868–1935) herausgegebene Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen wurde zwischen 1899 und 1923 gedruckt. Es umfasste interdisziplinäre Aufsätze „über zweifellos oder mutmaßlich homosexuelle Schriftsteller“ aber auch psychologische oder medizinische Artikel (ebd.). Allein zwischen 1898 und 1908 erschienen laut Hirschfeld (1984: III) „in Deutschland und Österreich über 1000 größere und kleinere Originalaufsätze, Broschüren und Monographien“ über Homosexualität. Das heißt, als das Thema in den Fokus der Wissenschaft rückte, wurde anfänglich auch intensiv darüber geforscht und publiziert.

Die Repression und die Stigmatisierung der Homosexualität haben auch die Organisation der homosexuellen Gemeinschaft und deren Kampf um ihre Rechte ausgelöst. So wurden das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee (1897) und das Institut für Sexualwissenschaft (1919) gegründet, um Forschungen über Homosexualität durchzuführen und mithin die Streichung des Paragrafen 175 zu fordern, der Homosexualität in den Jahren 1872 bis 1994 bestraft hat.

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Während sich all diese geschilderten Entwicklungen im Verlauf des 19. Jahrhunderts in Deutschland vollzogen, war das Thema zu dieser Zeit in Mexiko noch ein Tabu. Erst am Anfang des 20. Jahrhunderts kam es öffentlich zur Sprache, als im Jahr 1901 ein Transvestitenball durch eine Polizeirazzia in Mexiko-Stadt abgebrochen wurde, obwohl Homosexualität nicht gesetzlich strafbar war. Auf diese Weise kam „das Unaussprechliche“ ans Licht. In der Literatur trat das Thema ebenfalls erst recht spät auf. Werke mit homosexuellen Protagonisten und Forschungen über Homosexualität erschienen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Was vorher in der Literatur vorkam, war die Figur eines „effeminierten“ Mannes, der wie eine Frau aussah oder „weiblichen“ Tätigkeiten nachging. Diese Figuren wurden aber in einem höhnischen Ton beschrieben. Autoren, Forscher, Aktivisten oder Wissenschaftler, die sich vor dem 20. Jahrhundert für die Rechte der homosexuellen Gemeinschaft engagiert und oder geäußert haben, sind in der mexikanischen Geschichte leider nicht zu finden.

Das Forschungsinteresse richtet sich in dieser Arbeit unter anderem auf die Reaktionen derjenigen schwulen Intellektuellen, die den Mut aufbrachten, in feindlichen Milieus über gleichgeschlechtliches Begehren zu schreiben. Deshalb wird hier dargelegt, wie und ob Schriftsteller aus zwei verschiedenen Kulturen mitgewirkt haben, gegen die Unterdrückung zu kämpfen: Wollten sie durch die Literatur Menschen über Homosexualität aufklären, oder haben sie nach Jahren der Repression nur die Absicht zu provozieren?

In Bezug auf die Diskriminierung erklärt Hans Mayer in seinem Buch Außenseiter (1977), dass Minderheitsgruppen wie Frauen, Homosexuelle und Juden dazu gezwungen werden, sich der Mehrheit anzupassen und nach deren Normen zu leben. Deshalb seien Homosexuelle stets von einem „Doppelleben“, der „Flucht“ und dem „Skandal“ begleitet (ibid.: 169 f.). Diesbezüglich wird in dieser Analyse betrachtet, auf welche Art und Weise die hier untersuchten schwulen Autoren durch die Literatur ihre Erfahrungen in einer Gesellschaft geschildert haben, die sie verstoßen, unterdrückt und lächerlich gemacht hat. Kann die Literatur dabei mithelfen, das negative Bild der Homosexualität zu wandeln, so wie Doris Feldmann es erklärt (1997: 133), wenn sie schreibt, dass „Literatur Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit nicht nur reflektiert, sondern auch formt und verändert“?

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In diesem Sinne ist für die vorliegende Analyse auch die Fragestellung nach der herrschenden Homophobie wichtig: Wie wurde diese im kollektiven Gedächtnis in allen Kulturen der Welt verankert? Ist diese eine Folge der Darstellung und Konstruktion der Homosexualität und des Homosexuellen? Hat sie mit der Verbreitung einer Haltung zu tun, die der Homosexualität in den Medien und der Wissenschaft entgegengebracht wurde? Oder hat sie mehr mit dem zu tun, was Mayer erklärt (1977: 174): „Erotik zwischen Männern war niemals unangefochten und bedenkenlos integriert. Wo sie generell praktiziert und toleriert wurde, verstieß sie stets gegen das geschriebene Gesetz und die anerkannte Religion.“ Es ist wohl bekannt, dass die Religion weltweit Einfluss auf das soziale Verhalten und in einigen Fällen auf die Politik ausgeübt hat. Wie wurde die Moral der Religion von den hier analysierten Autoren rezipiert? Spielt diese eine Rolle in der beschriebenen Problematik der homosexuellen Protagonisten?

Details

Seiten
312
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631841204
ISBN (ePUB)
9783631841211
ISBN (MOBI)
9783631841228
ISBN (Hardcover)
9783631811597
DOI
10.3726/b17817
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Mai)
Schlagworte
Komparatistik Gay Literatur Gender Studies Queer Studies Cultural Studies Homosexualität
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 312 S.

Biographische Angaben

Raquel Soledad López Torres (Autor:in)

Raquel Soledad López Torres studierte Germanistik an der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko und an der Universität Bern in der Schweiz, wo sie auch promoviert hat.

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