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Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen im Europäischen Verfassungsverbund

von Kevin Marschhäuser (Autor:in)
©2020 Dissertation 260 Seiten

Zusammenfassung

Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen ist ein klassisches Thema der Rechtswissenschaft. In der rechtsvergleichenden Arbeit befasst sich der Autor mit Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen im Europäischen Verfassungsverbund. Hierzu vergleicht er die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen in zehn Mitgliedstaaten der Europäischen Union, in der Charta der Grundrechte der Union und in der Europäischen Menschenrechtskonvention. Der Autor leistet dadurch einen Beitrag zur Identifikation gemeinsamer Verfassungsüberlieferungen im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Einleitung
  • A Forschungsfrage
  • B Methode
  • I Rechtsvergleichung
  • II Begriffsbestimmungen
  • C Gang der Untersuchung
  • Kapitel 1: Grundrechtsberechtigung juristischer Personen in ausgewählten Mitgliedstaaten der Europäischen Union
  • A Verfassungsrechtliche Situation in den Mitgliedstaaten
  • I Deutschland
  • 1 Juristische Personen des Privatrechts
  • a) Strukturelle Anforderungen
  • b) Grundrechtsberechtigung im Einzelfall
  • 2 Juristische Personen des Offentlichen Rechts
  • 3 Öffentliche Unternehmen
  • II Frankreich
  • 1 Juristische Personen des Privatrechts
  • a) Strukturelle Anforderungen
  • b) Grundrechtsberechtigung im Einzelfall
  • 2 Juristische Personen des Öffentlichen Rechts
  • 3 Öffentliche Unternehmen
  • III Irland
  • 1 Juristische Personen des Privatrechts
  • a) Strukturelle Anforderungen
  • b) Grundrechtsberechtigung im Einzelfall
  • 2 Juristische Personen des Öffentlichen Rechts
  • 3 Öffentliche Unternehmen
  • IV Österreich
  • 1 Juristische Personen des Privatrechts
  • a) Strukturelle Anforderungen
  • b) Grundrechtsberechtigung im Einzelfall
  • 2 Juristische Personen des Öffentlichen Rechts
  • 3 Öffentliche Unternehmen
  • V Belgien
  • 1 Juristische Personen des Privatrechts
  • a) Strukturelle Anforderungen
  • b) Grundrechtsberechtigung im Einzelfall
  • 2 Juristische Personen des Öffentlichen Rechts
  • 3 Öffentliche Unternehmen
  • VI Niederlande
  • 1 Juristische Personen des Privatrechts
  • a) Strukturelle Anforderungen
  • b) Grundrechtsberechtigung im Einzelfall
  • 2 Juristische Personen des Öffentlichen Rechts
  • 3 Öffentliche Unternehmen
  • VII Spanien
  • 1 Juristische Personen des Privatrechts
  • a) Strukturelle Anforderungen
  • b) Grundrechtsberechtigung im Einzelfall
  • 2 Juristische Personen des Öffentlichen Rechts
  • 3 Öffentliche Unternehmen
  • VIII Italien
  • 1 Juristische Personen des Privatrechts
  • a) Strukturelle Anforderungen
  • b) Grundrechtsberechtigung im Einzelfall
  • 2 Juristische Personen des Öffentlichen Rechts
  • 3 Öffentliche Unternehmen
  • IX Polen
  • 1 Juristische Personen des Privatrechts
  • a) Strukturelle Anforderungen
  • b) Grundrechtsberechtigung im Einzelfall
  • 2 Juristische Personen des Öffentlichen Rechts
  • 3 Öffentliche Unternehmen
  • XII Schweden
  • 1 Juristische Personen des Privatrechts
  • a) Strukturelle Anforderungen
  • b) Grundrechtsberechtigung im Einzelfall
  • 2 Juristische Personen des Öffentlichen Rechts
  • 3 Öffentliche Unternehmen
  • B Rechtsvergleich
  • I Beeinflussungswege und Chronologie
  • 1 Beeinflussung in der Verfassungsgebung
  • 2 Beeinflussungswege in Rechtsprechung und Literatur
  • 3 Einfluss der EMRK
  • II Konvergenzen
  • 1 Juristische Personen des Privatrechts
  • a) „Ob“ und „Wie“ der Grundrechtsberechtigung
  • b) Strukturelle Anforderungen
  • c) Einzelne Grundrechte
  • 2 Grundrechtsberechtigung der Gewerkschaften
  • 3 Grundrechtsberechtigung der politischen Parteien
  • 4 Grundrechtsberechtigung der privaten Religionsgemeinschaften
  • 5 Juristische Personen des Öffentlichen Rechts
  • a) Grundlagen
  • b) Grundrechtsberechtigung der Gemeinden
  • c) Grundrechtsberechtigung der Kirchen und Religionsgemeinschaften
  • 6 Grundrechtsberechtigung öffentlicher Unternehmen
  • III Divergenzen
  • 1 Juristische Personen des Privatrechts
  • a) „Ob“ und „Wie“ der Grundrechtsberechtigung
  • b) Strukturelle Anforderungen
  • c) Einzelne Grundrechte
  • 2 Juristische Personen des Öffentlichen Rechts
  • a) Grundlagen
  • b) Grundrechtsberechtigung der Gemeinden
  • c) Grundrechtsberechtigung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten
  • d) Grundrechtsberechtigung der Universitäten
  • C Fazit
  • Kapitel 2: Grundrechtsberechtigung juristischer Personen nach der EMRK
  • A Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des Privatrechts
  • I Normative Grundlage
  • II Voraussetzungen der Grundrechtsberechtigung
  • 1 Nichtstaatliche Organisationen
  • 2 Geltendmachen eigener Rechte
  • 3 Herrschaftsbezug
  • III Grundrechtsberechtigung im Einzelnen
  • 1 Verfahrensgarantien
  • 2 Materielle Gewährleistungen
  • a) Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens
  • b) Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit
  • aa) Religionsgemeinschaften als juristische Personen des Privatrechts
  • bb) Sonstige juristische Personen
  • c) Freiheit der Kommunikation
  • d) Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
  • aa) Gewerkschaften
  • bb) Parteien
  • cc) Religionsgemeinschaften als juristische Personen des Privatrechts
  • e) Diskriminierungsverbot
  • f) Eigentumsschutz
  • g) Freizügigkeit
  • h) Allgemeines Diskriminierungsverbot
  • 3 Zwischenfazit
  • B Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des Öffentlichen Rechts
  • I Einzelfälle
  • 1 Gemeinden
  • 2 Kirchen und Religionsgemeinschaften
  • 3 Öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten
  • 4 Universitäten
  • II Zwischenfazit
  • C Öffentliche Unternehmen
  • I Öffentliche Unternehmen in mehrheitlich staatlichem Eigentum
  • II Öffentliche Unternehmen in überwiegend privatem Eigentum
  • D Fazit
  • Kapitel 3: Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen nach der Grundrechte-Charta
  • A Juristische Personen des Privatrechts
  • I Strukturelle Anforderungen an die Grundrechtsberechtigung
  • 1 Zulässigkeit der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen
  • 2 Der Begriff der juristischen Person in der GRC
  • II Prozessuale Gewährleistungen der GRC
  • 1 Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht
  • 2 Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte
  • 3 Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen
  • 4 Das Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlichverfolgt oder bestraft zu werden
  • III Materielle Gewährleistungen
  • 1 Achtung des Privat- und Familienlebens
  • 2 Schutz personenbezogener Daten
  • 3 Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit
  • 4 Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit
  • 5 Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
  • 6 Freiheit von Kunst und Wissenschaft
  • 7 Recht auf Bildung
  • 8 Berufsfreiheit und Recht zu arbeiten
  • 9 Unternehmerische Freiheit
  • 10 Eigentumsrecht
  • 11 Gleichheit vor dem Gesetz
  • 12 Spezielle Diskriminierungsverbote
  • 13 Gleichheit von Frauen und Männern
  • 14 Recht auf Unterrichtung und Anhörung im Unternehmen
  • 15 Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen
  • 16 Recht auf Zugang zu Dokumenten
  • 17 Der Europäische Bürgerbeauftragte
  • 18 Petitionsrecht
  • 19 Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit
  • 20 Diplomatischer und konsularischer Schutz
  • 21 Sonstige grundrechtliche Gewährleistungen
  • B Juristische Personen des Öffentlichen Rechts
  • I Grundlagen
  • 1 Verfahrensgrundrechte
  • 2 Materielle Grundrechte
  • II Gemeinden
  • III Rundfunkanstalten
  • IV Religionsgemeinschaften
  • V Universitäten
  • C Öffentliche Unternehmen
  • I Grundlagen
  • 1 Begriff des öffentlichen Unternehmens
  • 2 Strukturelemente der Grundrechtsberechtigung
  • a) Verfahrensgrundrechte
  • b) Materielle Grundrechte
  • II Öffentliche Unternehmen im staatlichen Alleineigentum (Eigengesellschaften)
  • 1 Öffentliches Unternehmen als juristische Person des Öffentlichen Rechts
  • 2 Öffentliches Unternehmen als juristische Person des Privatrechts
  • a) Grundrechtstypische Gefährdungslage
  • b) Öffentliche Unternehmen als Teil der Mitgliedstaaten
  • c) Bestimmung anhand der Eingriffsrichtung
  • d) Fazit
  • III Öffentliche Unternehmen unter Beteiligung Privater (gemischtwirt schaftliche Unternehmen)
  • 1 Öffentliche Unternehmen in mehrheitlich staatlichem Eigentum
  • a) Literatur
  • b) Rechtsprechung
  • 2 Öffentliche Unternehmen in mehrheitlich privatem Eigentum
  • D Fazit
  • Kapitel 4: Grundrechtliche Wechselwirkungen im Mehrebenensystem
  • A Beeinflussungswege und Chronologie
  • I Beeinflussung bei der Verfassungsgebung in den Mitgliedstaaten
  • II Beeinflussung der europäischen Grundrechtsregime bei ihrer Entstehung
  • 1 Beeinflussung der EMRK durch mitgliedstaatliches Recht
  • 2 Beeinflussung der GRC durch mitgliedstaatliches Recht
  • 3 Beeinflussung der EMRK durch die EU-Grundrechte
  • 4 Beeinflussung der GRC durch die EMRK
  • 5 Beeinflussung der GRC durch die Rechtsgrundsatz-Grundrechte
  • III Horizontale Beeinflussungswege
  • 1 Beeinflussungswege auf mitgliedstaatlicher Ebene
  • 2 Beeinflussungswege auf europäischer Ebene
  • a) Einflüsse des EuGH auf die EMRK
  • b) Einflüsse auf die GRC
  • aa) Einflüsse der Rechtsgrundsatz-Grundrechte
  • bb) Einflüsse der EMRK
  • IV Vertikale Beeinflussungswege
  • 1 Mitgliedstaatlicher Einfluss auf den europäischen Grundrechtsschutz
  • a) Einfluss auf die EMRK
  • b) Einfluss auf die GRC
  • 2 Europäischer Einfluss auf den mitgliedstaatlichen Grundrechtsschutz
  • a) Einfluss der EMRK
  • b) Einfluss der GRC
  • B Übergreifende Strukturen
  • I Konvergenzen
  • 1 Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des Privatrechts
  • a) „Ob“ und „Wie“ der Grundrechtsberechtigung
  • b) Strukturelle Anforderungen
  • c) Einzelne Grundrechte
  • aa) Vertikale Konvergenzen
  • (1) Verhältnis GRC – nationale Grundrechte
  • (2) Verhältnis EMRK – nationale Grundrechte
  • bb) Horizontale Konvergenzen
  • 2 Gewerkschaften
  • 3 Politische Parteien
  • 4 Privatrechtliche Religionsgemeinschaften
  • 5 Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des Öffentlichen Rechts
  • a) Grundlagen
  • b) Verfahrensgrundrechte
  • c) Gemeinden
  • d) Öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaften
  • e) Öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten
  • 6 Grundrechtsberechtigung öffentlicher Unternehmen
  • II Divergenzen
  • 1 Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des Privatrechts
  • a) Strukturelle Anforderungen
  • b) Einzelne Grundrechte
  • aa) Vertikale Divergenzen
  • bb) Horizontale Divergenzen
  • 2 Juristische Personen des Öffentlichen Rechts
  • a) Grundlagen
  • b) Verfahrensgrundrechte
  • c) Gemeinden
  • d) Universitäten
  • Zusammenfassung
  • Literaturverzeichnis
  • Hinweis zum Zugang zu den Urteilen der mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte

Einleitung

A Forschungsfrage

In der Europäischen Union wird nur in der deutschen, italienischen und portugiesischen Verfassung die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen ausdrücklich erwähnt.1 In Deutschland ist eine inländische juristische Person nach Art. 19 Abs. 3 GG grundrechtsberechtigt, sofern ein Grundrecht seinem Wesen nach auf sie anwendbar ist. In Italien wird in Art. 2 der Verfassung die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen vorgesehen. Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen ist in der portugiesischen Verfassung in Art. 12 Abs. 2 geregelt, wonach diese die mit ihrer Rechtsnatur zu vereinbarenden Rechte haben. Entsprechend der Situation in der überwiegenden Zahl der Mitgliedstaaten ist die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen auch auf Ebene des Unionsrechts nicht ausdrücklich geregelt. So enthält die GRC keine allgemeinen Vorschriften über die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen. Lediglich unter der EMRK kann der EGMR nach der prozessualen Regelung des Art. 34 EMRK von jeder nichtstaatlichen Organisation, die behauptet, durch einen Vertragsstaat in einem der Grundrechte der EMRK oder ihrer Zusatzprotokolle verletzt zu sein, mit einer Beschwerde befasst werden.2

Da die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen im europäischen Mehrebenensystem3 über die genannten Fälle hinaus nicht erwähnt wird, haben Rechtsprechung und Literatur zu den jeweiligen Grundrechtsregimen teils verschiedene Ansätze zur Bestimmung der Grundrechtsberechtigung entwickelt. Dadurch, dass sie in Deutschland bereits seit 1949 mit Inkrafttreten des Grundgesetzes in Art. 19 Abs. 3 GG normiert ist, hat sich im europäischen Vergleich in der deutschen Rechtsprechung und Literatur die ausgeprägteste Dogmatik zur Grundrechtsberechtigung juristischer Personen entwickelt.4 Nichtsdestotrotz ist ←21 | 22→die Frage der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen auch in Deutschland noch nicht abschließend beantwortet. Dies zeigte nicht zuletzt die bereits im Vorfeld kontrovers diskutierte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 06.12.2016 zum Atomausstiegsgesetz aus dem Jahr 2011.5 In diesem Verfahren ging es unter anderem um die Frage der Beschwerdebefugnis und damit der Grundrechtsberechtigung eines zu 100 Prozent im Staatseigentum Schwedens stehenden, deutschen Unternehmens. Grundsätzlich lehnt das Bundesverfassungsgericht die Grundrechtsberechtigung solcher staatlich beherrschten, öffentlichen Unternehmen ab.6 Dagegen bejahte es in der Entscheidung vom 06.12.2016 dessen Grundrechtsberechtigung.7 Zur Begründung eines umfassenderen Grundrechtsschutzes juristischer Personen durch Art. 19 Abs. 3 GG stützte sich das Bundesverfassungsgericht zum einen auf völkerrechtliche Vorgaben der EMRK und zum anderen auf die Grundfreiheiten des AEUV und damit auf europäisches Primärrecht.8 In dieser Entscheidung zeigt sich neben der Entwicklungsoffenheit des deutschen Grundrechtsregimes auch beispielhaft der (vertikale) Einfluss supranationalen Rechts auf mitgliedstaatliches Verfassungsrecht.9

Im europäischen Mehrebenensystem ist die vertikale Beeinflussung der Grundrechtsregime aber nicht nur auf dem Weg „von oben nach unten“, das heißt vom Völker- beziehungsweise Unionsrecht auf das nationale Recht, sondern auch in umgekehrter Richtung denkbar: So bestimmt Art. 52 Abs. 4 GRC, dass die Grundrechte der GRC, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, im Einklang mit diesen Überlieferungen ←22 | 23→ausgelegt werden.10 Mitgliedstaatliches Verfassungsrecht als Teil dieser gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen ist daher eine Rechtserkenntnisquelle für die Auslegung der Grundrechte-Charta und nimmt somit Einfluss auf die Reichweite des europarechtlichen Grundrechtsschutzes.11 Dabei kommt es für das Vorliegen gemeinsamer Verfassungsüberlieferungen nicht darauf an, dass in allen Mitgliedstaaten identische Regelungsansätze bestehen, sondern nur darauf, dass es sich bei einem Regelungsansatz um einen „von einem hinreichend breiten Konsens der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen getragenen Rechtsgedanken“12 handelt. Weiter folgt auch aus Art. 6 Abs. 3 EUV, dass Grundrechte, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts sind.13 Bekanntlich hat der EuGH schon vor Inkrafttreten der GRC unter Rückgriff auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen einen primärrechtlichen Grundrechtsschutz in Form der sogenannten allgemeinen Rechtsgrundsatz-Grundrechte richterrechtlich entwickelt.

Neben der eben skizzierten vertikalen Beeinflussung findet sich in der Rechtsprechung auch eine horizontale Beeinflussung unterschiedlicher nationaler Grundrechtsregime. So hat etwa das Bundesverfassungsgericht in einem Fall italienisches, in einem anderen Fall französisches Verfassungsrecht zur Ermittlung der Reichweite des deutschen Grundrechtsschutzes herangezogen.14

←23 | 24→

Ausgehend von der vorstehenden unterschiedlichen Ausgestaltung der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen in den EU-Mitgliedstaaten und der dargestellten wechselseitigen Beeinflussung soll zunächst ermittelt werden, ob eine gemeinsame Verfassungsüberlieferung der Mitgliedstaaten im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV beziehungsweise Art. 52 Abs. 4 GRC im Hinblick auf die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen besteht und wie diese aussieht. Auf Grundlage dessen und der Regelungskonzepte zur Grundrechtsberechtigung juristischer Personen in der EMRK und der GRC sollen im Anschluss daran allgemeine Rechtsgrundsätze der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen im europäischen Raum identifiziert werden. Hierzu werden die Wechselwirkungen der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen im Mehrebenensystem analysiert, um eine eventuelle Konvergenz herauszuarbeiten. Dabei wird auch auf gegebenenfalls verbleibende Divergenzen eingegangen. Auf diese Weise soll folgende Forschungsfrage beantwortet werden: Inwieweit hat das gegenseitige „Geben und Nehmen“ im europäischen Mehrebenengrundrechtssystem (Europäischer Grundrechteverbund) zur Annäherung der nationalen Grundrechtsregime und damit zu einem gemeineuropäischen Grundrechtsstandard für juristische Personen geführt?15

B Methode

I Rechtsvergleichung

Gemeinsame Methode der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des EuGH bei der Bezugnahme auf fremdes Verfassungsrecht ist die Rechtsvergleichung.16 Die Rechtsvergleichung kann aber nicht nur als „fünfte ←24 | 25→Auslegungsmethode“17 zur Klärung von Rechtsfragen oder zur Rechtsfortbildung beitragen. Vielmehr können mit ihrer Hilfe allgemeine Erkenntnisse gewonnen werden, so zum Beispiel für eine gemeinsame europäische Grundrechtstheorie.18 An diese Erkenntnisfunktion knüpft die vorliegende Untersuchung an.

Zur Beantwortung der Forschungsfrage werden hier zwei Rechtsvergleiche durchgeführt. Zuerst findet ein horizontaler Rechtsvergleich der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union statt (Kap. 1). Im letzten Kapitel (Kap. 4) folgt ein mehrdimensionaler Rechtsvergleich in Form einer Gegenüberstellung der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen im Europäischen Mehrebenensystem, der neben der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen auf europäischer Ebene auch auf die Ergebnisse des ersten Kapitels Bezug nimmt. Im Detail hat sich ein standardisiertes Vorgehen im Rahmen einer Rechtsvergleichung bisher noch nicht etabliert.19 Es besteht daher eine große Freiheit bei der Gestaltung einer rechtsvergleichenden Untersuchung. Zwingend ist lediglich, dass das Vorgehen sich am verfolgten Ziel beziehungsweise dem Zweck zu orientieren hat.20

Strukturell orientiert sich der Aufbau dieser Arbeit und auch der Rechtsvergleiche am Drei-Phasen-Modell nach Constantinesco.21 Die Länderberichte des ersten Kapitels sowie die Darstellungen der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen in der EMRK (Kap. 2) und GRC (Kap. 3) dienen dazu, die ←25 | 26→nötigen Kenntnisse über die zu vergleichenden Regelungsregime zu erlangen. Hierzu soll auch die Differenzierung zwischen der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des Privatrechts, des öffentlichen Rechts und öffentlicher Unternehmen beitragen. Für einen umfassenden Vergleich wird sich die Darstellung der Regelungsregime nicht auf eine rein textliche Wiedergabe der Grundrechtsnormen beschränken. Sie wird, soweit für die Untersuchung nötig, auch deren Rezeption in Rechtsprechung und Literatur sowie gegebenenfalls weitere kontextuelle Elemente erfassen.22

Die Vergleiche im ersten und vierten Kapitel sind grundsätzlich identisch aufgebaut. Herausgearbeitet werden ausdrückliche gegenseitige Bezugnahmen im Entstehungsprozess der jeweiligen Grundrechtsregime und in der Rechtsanwendung durch die Rechtsprechung beziehungsweise Literatur. Auf diese Weise kann auch geklärt werden, ob es für die konkrete Frage möglicherweise eine besonders einflussreiche „Leitordnung“ gibt. In einem nächsten Schritt werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des Privatrechts, des öffentlichen Rechts und öffentlicher Unternehmen systematisiert und auf die ihre Gründe hin untersucht.23 Die Kriterien, die dabei zugrunde gelegt werden, sind zum einen Merkmale, die im Entstehungsprozess der (Länder-)Berichte zur Grundrechtsberechtigung juristischer Personen aufgefallen sind. Zum anderen sind es Strukturelemente, die sich in den meisten europäischen Rechtsordnungen wiederfinden. Daher wird neben der Betrachtung der Grundlagen der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen im jeweiligen Regelungsregime zur Feststellung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden wie folgt differenziert: Zunächst werden die Grundrechte nach ihrer Anwendbarkeit auf juristische Personen des Privatrechts geordnet. Im Anschluss daran werden die Voraussetzungen einer Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts und die Reichweite ihres Grundrechtsschutzes erörtert. Nach der Analyse dieser Grundlagen werden spezifische Erscheinungsformen juristischer Personen betrachtet. Dabei handelt es sich im Einzelnen um Gewerkschaften, politische Parteien, Gemeinden, Religionsgemeinschaften, Rundfunkanstalten und Universitäten. Schließlich findet eine Untersuchung der Grundrechtsberechtigung öffentlicher Unternehmen statt.

←26 | 27→

Trotz der insgesamt breit angelegten Untersuchung wird es im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich sein, in jeder Hinsicht gesicherte Antworten zur Konvergenz beziehungsweise Divergenz der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen zu geben. Es können häufig nur Tendenzen herausgearbeitet werden. Dies ergibt sich daraus, dass eine Betrachtung aller 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union den Umfang der Arbeit sprengen würde. Daher wurde erstens versucht, einen möglichst repräsentativen Querschnitt herauszugreifen. Im Einzelnen wurden Deutschland, Frankreich, Irland, Österreich, Belgien, die Niederlande, Spanien, Italien, Polen und Schweden ausgewählt.24 Diese Auswahl orientiert sich zum einen an der damit erfassten Vielfalt an Regelungen der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen. Es werden Staaten mit ausdrücklicher verfassungsrechtlicher Regelung der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen genauso wie solche ohne positive Normierung dieser Frage erfasst. Auch wurden Verfassungen unterschiedlichen Alters sowie mit auf den ersten Blick unterschiedlicher Reichweite des Grundrechtsschutzes juristischer Personen ausgewählt. Die Auswahl folgt zweitens aber auch den limitierten Sprachkenntnissen des Verfassers. Diese erstrecken sich nicht auf die Amtssprachen aller 28 Mitgliedstaaten, nicht einmal auf alle Sprachen der von dieser Untersuchung erfassten Staaten. Soweit es dem Verfasser nicht möglich war, Rechtsprechung und Literatur in der Originalsprache zu lesen,25 wurde auf Sekundärliteratur in einer anderen Sprache (zumeist Englisch) zurückgegriffen.

Details

Seiten
260
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631818145
ISBN (ePUB)
9783631818152
ISBN (MOBI)
9783631818169
ISBN (Paperback)
9783631811252
DOI
10.3726/b16799
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (April)
Schlagworte
Grundrechte Europarecht Verfassungsrecht Rechtsvergleich EMRK Unionsrecht
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 260 S.

Biographische Angaben

Kevin Marschhäuser (Autor:in)

Kevin Marschhäuser studierte Rechtswissenschaften mit wirtschaftswissenschaft-licher Zusatzausbildung an der Universität Bayreuth. Er wurde an der Rupprecht-Karls-Universität Heidelberg promoviert.

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