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Dostojewskij und St. Petersburg

Die Stadt und ihr literarischer Mythos

von Christoph Garstka (Band-Herausgeber:in)
©2020 Sammelband 176 Seiten

Zusammenfassung

Wohl kein anderer Schriftsteller ist im internationalen Bewusstsein so eng mit der Stadt St. Petersburg verbunden wie Fjodor M. Dostojewskij. Der Sohn eines Moskauer Armenarztes hat das Bild der Stadt an der Newa, ihr „Image" in der Welt und ihren Mythos bestimmt und verewigt. Seit der große Zar Peter in den finnischen Sümpfen seine Hauptstadt buchstäblich auf den Knochen tausender Zwangsarbeiter errichtet hat, hat die nördliche Metropole zahllose russische Denker beschäftigt. Welche Bedeutung hat St. Petersburg für die russische Kultur, welche Stellung nimmt diese zweite Hauptstadt im russischen Denken gerade in Opposition zur „Mutter aller russischen Städte", Moskau ein?

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort (Christoph Garstka)
  • St. Petersburg und seine Bedeutung für die russische Kultur: Von der Geschichte zum Mythos (Christoph Garstka)
  • Dostojewskij und Sankt Petersburg. Biographie und Topographie einer Beziehung (Karla Hielscher)
  • Dostojewskijs Petersburgbild im Wandel (Renate Hansen-Kokoruš)
  • Städtische Armut in Russland im 19. Jahrhundert. Der Petersburger Heumarkt (Sennaja ploščad’) als sozialer Brennpunkt und sozialer Raum (Hans-Christian Petersen)
  • Die Leningrader Blockade im russischen und deutschen Gedächtnis (Yvonne Pörzgen)
  • Persönlichkeitstypen in Dostojewskijs Roman Der Idiot (Christoph Bauer)
  • F. M. Dostojewskijs Prestuplenie i nakazanie als Graphic Novel (Comic): Adaptionen zwischen Bild und Text, Affirmation und Distanzierung (Brigitte Schultze, Beata Weinhagen)
  • Deutsche Dostojewskij-Bibliographie 2018

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Christoph Garstka

Vorwort

Als der Westdeutsche Rundfunk Ende der 1960er Jahre eine Filmreihe mit dem Obertitel „Der Dichter und seine Stadt“ veranstaltete, sollte als letzte Produktion in dieser Reihe eine Dokumentation über Dostojewskij und St. Petersburg angefertigt werden. Der Schriftsteller Heinrich Böll persönlich fuhr mit einem Filmteam in die damals noch Leningrad benannte Stadt und sorgte für zeitgenössische Aufnahmen von Gebäuden, Straßen und Menschen, von Palästen, Parks und Armenvierteln, vom Wasser und dem einmaligen Licht in der nördlichen Metropole, die dann mit Zitaten des russischen und des deutschen Romanciers unterlegt wurden. Doch die sowjetischen Behörden hatten die Drehgenehmigung nur unter der Bedingung erteilt, dass sie sich vor der Ausstrahlung den Film ansehen und Änderungswünsche einbringen durften. Und was sie dann zu sehen bekamen, muss die russische Seite so entsetzt haben, dass es zu einem Verbot kam: Der Film durfte in der vorgelegten Form nicht gesendet werden, einer der wenigen Fälle, in denen die sowjetische Zensur in der Bundesrepublik wirksam wurde: „Dieser Film ist eine Beleidigung für alle Russen“,1 so hieß es in der Protestnote. Er zeige ein viel zu düsteres Stadtbild und nur hässliche Menschen. Aber, so sei die Frage gestattet, was sollte man denn erwarten von einem Dichter, der einen seiner Helden aus einem „Kellerloch“ (podpol’e) rufen lässt, es sei ein besonderes Unglück in Petersburg zu leben, der „abstraktesten und ausgedachtesten“ Stadt der Welt? An anderer Stelle heißt es gar in einem seiner Romane:

Mir ist in diesem [Petersburger] Nebel hundertmal die sonderbare aber unabweisliche Phantasie aufgestiegen: ‚Was aber, wenn dieser Nebel sich teilt und aufwärts steigt? Wird nicht mit ihm auch diese verfaulte, schleimige Stadt aufwärts steigen, wird sie sich nicht erheben mit dem Nebel und schwinden wie Rauch? Und wird nicht nur der ehemalige finnische Sumpf übrigbleiben, und mitten darin vielleicht zur Zier der Eherne Reiter auf dem heiß schnaufenden abgejagten Rosse?‘ […] ‚Da hasten und jagen sie nun alle, aber wer weiß, vielleicht ist das alles nur ein Traum von irgend jemand, und hier ist nicht ein einziger wirklicher, richtiger Mensch, nicht eine einzige wirkliche Tat? Es wird auf einmal einer aufwachen, der dies alles träumt – und alles wird plötzlich verschwinden.‘2

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Diese Worte legt Fjodor Dostojewskij dem Helden seines Romans Der Jüngling (Podrostok), Arkadij Dolgorukij, in den Mund. Düster, faulig und stinkend, charakterlos, gesichtslos und abgeschmackt, das ist nur ein kleiner Teil jener Bezeichnungen, mit denen Dostojewskij die Hauptstadt des russischen Zarenreichs belegt. Vielleicht sind solche Beschreibungen verständlich, blickt man auf die Biographie des Schriftstellers: Er hat die ersten 16 Jahre seines Lebens in Moskau verbracht und ist dann, nach seinem Umzug nach St. Petersburg, dort verhaftet und zum Tode verurteilt worden.

Der Dichter Joseph Brodsky, der selbst, kurz bevor deutsche Soldaten einen erbarmungslosen Belagerungsring um die Stadt legten, in Leningrad geboren wurde, hat auf den erstaunlichen Umstand aufmerksam gemacht, dass erst mit Alexander Blok ein wirklich bedeutender Petersburger Dichter auch in Petersburg geboren wurde. Alexander Puschkin ist ebenso wie Dostojewskij in Moskau geboren, Nikolaj Gogol in der Zentralukraine, Anna Achmatowa in der Nähe von Odessa und Ossip Mandelstam in Warschau. Jeder einzelne dieser Dichter hat in Werk und Leben eine besondere Beziehung zu Petersburg, Petrograd oder Leningrad aufgebaut. Und doch: wohl kein anderer Schriftsteller als Dostojewskij ist im internationalen Bewusstsein derart eng mit der Stadt Sankt Petersburg verbunden, hat ihr Bild, ihr Image in der Welt und ihren Mythos so sehr bestimmt und verewigt wie eben dieser Sohn eines Moskauer Armenarztes.

Die hier versammelten Aufsätze basieren zum überwiegenden Teil auf den Vorträgen, die auf der Jahrestagung der Deutschen Dostojewskij-Gesellschaft 2018 in Bensberg mit dem Oberthema „Dostojewskij und St. Petersburg. Die Stadt und ihr literarischer Mythos“ gehalten wurden. Dabei ging es nicht allein um das Petersburg Dostojewskijs. Seit der ‚große Zar‘ Peter in den finnischen Sümpfen seine Hauptstadt buchstäblich auf den Knochen tausender Zwangsarbeiter errichtet hat, hat die nördliche Metropole zahlreiche russische Denker dazu angehalten, darüber zu spekulieren, welche Bedeutung St. Petersburg für die russische Kultur besitzt, welche Stellung diese zweite Hauptstadt im russischen Denken gerade in Opposition zur „Mutter aller russischen Städte“, Moskau, einnimmt und wie die mit der Stadtgründung einhergehende Öffnung Russlands für die westliche Moderne zu bewerten ist. Der erste Beitrag will eine Bestandsaufnahme des auf diese Fragen bezogenen Meinungsspektrums liefern, bevor Dostojewskij seinen ganz eigenen Beitrag zum Petersburgtext beginnend gleich mit seiner ersten Erzählung Arme Leute (Bednye ljudi, 1846) geliefert hat. Ausgehend von den bewusst symbolischen Gründungshandlungen Peters I. bei der Grundsteinlegung verfolgt die Studie die Entwicklung der zwei gegensätzlichen Haltungen zur Stadt und ihrem Gründer: einmal als notwendige Öffnung Russlands hin zu Europa und dem Projekt der westlichen Aufklärung und das ←8 | 9→andere Mal als Frevel an der russischen, nach innen ausgerichteten Geistigkeit und Ausgangspunkt für eine tiefe Zerrissenheit der russischen Kultur bis in die Gegenwart hinein.

Im Beitrag von Karla Hielscher werden danach die Petersburger Stationen im Leben Dostojewskijs von seiner Ankunft in der Hauptstadt des Russischen Imperiums im Mai 1837 bis zu seinem Tod am 28. Januar 1881 ebendort vorgestellt. Etwa 20 verschiedene Petersburger Adressen sind vom Schriftsteller bekannt und seine Umzüge in jeweils etwas bessere Wohnviertel der Stadt spiegeln auch seinen stetig ansteigenden literarischen Ruhm und zunehmenden ökonomischen Erfolg wider. Diese Petersburger Wohnstätten sind ebenfalls Ausgangspunkt für den profunden Überblick über die kulturwissenschaftliche Forschung zu Dostojewskijs Petersburgbild, den Renate Hansen-Kokoruš im Anschluss präsentiert. Mit Nikolai Anziferow, dem Begründer der „Exkursionistik“ in seinem Werk Die Seele Petersburgs, nimmt sie den Leser mit auf einen Stadtspaziergang und erklärt dabei in einer Werktopographie die Veränderungen in Dostojewskijs Petersburgbild.

Die Petersburger Schauplätze der Romane Dostojewskijs sind oftmals nicht in den großen Palästen am Newskij Prospekt oder in den großbürgerlichen Wohnungen der höheren Beamtenschaft zu finden. Im Roman Verbrechen und Strafe z.B. ist es besonders die Gegend um den Heumarkt (Sennaja ploščad‘) herum, die zum Zentrum der Ereignisse wird. Zwar ist es in der Dostojewskij-Forschung zu einem Gemeinplatz geworden, auf die verarmte Bevölkerungsschicht in diesem Viertel zu verweisen, aber wie lebten die Menschen dort tatsächlich in den 1860er Jahren, wie sah ihre Wohn- und Lebenssituation aus in dem städtischen Slum der an den Heumarkt grenzenden Vjazemskaja lavra, und welche sozialen Schichtungen und Hierarchien existierten unter den dort ansässigen unterprivilegierten Bewohnern? All diese Aspekte erläutert Hans-Christian Petersen in seiner Studie, in der zugleich deutlich wird, dass der „großstädtische Miethai“ keinesfalls ein modernes Problem in München, Frankfurt oder Berlin ist, sondern in der Person des Fürsten Wjazemskij durchaus auch schon im 19. Jahrhundert in Russland existierte.

Yvonne Pörzgen greift in ihrem folgenden Beitrag ein Thema auf, das nur indirekt eine Verbindung zu Dostojewskij erkennen lässt, das aber in einem die Stadt Petersburg ins Zentrum setzenden Jahrbuch einer deutschen Dostojewskij-Gesellschaft nicht fehlen sollte. Es geht um die Blockade der zu der Zeit Leningrad genannten Stadt durch deutsche Soldaten der Wehrmacht im 2. Weltkrieg, der nach Schätzungen etwa 1 Million Menschen zum Opfer gefallen sein soll. In ihrem Blockadebuch erklären Adamowitsch und Granin, dass sie mit der idiotischen Liebe des Fürsten Myschkin auf dieses Verbrechen blicken wollen und ←9 | 10→Pörzgen stellt fest, dass die Hinweise auf mit Dostojewskij verbundene Schauplätze an Petersburger Häusern manchmal nur wenige Meter entfernt hängen von Erinnerungstafeln an die Opfer der Blockade.

Die beiden letzten Aufsätze dieses Jahrbuchs sprengen schließlich den thematischen Rahmen. Dostojewskijfreunde weltweit haben im Jahr 2019 ein kleines Jubiläum gefeiert: Es ist nun 150 Jahre her, dass der Schriftsteller seinen Roman Der Idiot in Florenz vollendet hat. Auch wir wollen daran erinnern mit dem Beitrag von Christoph Bauer, in dem eine Engführung zwischen Psychologie und Literatur unternommen wird. Die vier (! auch Aglaja Jepantschina zählt Bauer neben dem Fürsten, Nastasja Filippowna und Rogoschin dazu) Hauptpersonen des Romans werden vor dem Hintergrund von C.G. Jungs psychologischer Typenlehre analysiert. Am Ende steht die überlegenswerte Feststellung, dass man auf den Gedanken kommen kann, Figuren aus Dostojewskijs Idiot hätten dem Züricher Psychiater Modell gestanden. Der abschließende Beitrag von Brigitte Schultze und Beata Weinhagen stellt einen spannenden „ersten Versuch“ dar, moderne „Graphic Novels“ oder „Comics“ zu untersuchen, die Dostojewskijs Roman Verbrechen und Strafe graphisch adaptieren. Es stellt schon eine besondere Herausforderung dar, Dostojewskijs so wortlastiges Werk auf wenigen Seiten zeichnerisch umzusetzen. Die Autorinnen stellen fest, dass diese „Graphic Novels“ gleichwohl, jede auf ihre Art, dazu geeignet seien, „auf den klassischen Text neugierig zu machen“. Es wäre tatsächlich zu begrüßen, wenn durch dieses eher auf ein jüngeres Publikum abzielendes Medium neue Leser und Leserinnen an den Ausgangstext und seinen Autor herangeführt werden könnten. Und wenn nun auch ein „Kenner“ von Schultze/Weinhagen angeregt wird, sich den einen oder anderen dieser „Comics“ anzuschauen, dann sollte er besonders darauf achten, wie der Zeichner die Stadt St. Petersburg dargestellt hat, die ja gerade in diesem Roman eine Hauptrolle spielt.


1 Zitiert nach Der Spiegel 20/1969 vom 12.05.1969, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45741462.html – letzter Zugriff 05.12.2019.

Details

Seiten
176
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631836750
ISBN (ePUB)
9783631836767
ISBN (MOBI)
9783631836774
ISBN (Paperback)
9783631826010
DOI
10.3726/b17643
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (September)
Schlagworte
Sozialgeschichte Stadtsemiotik Kulturgeschichte Russischer Realismus F.M. Dostojewskij St. Petersburg Petersburg-Text
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 176 S., 7 s/w Abb.

Biographische Angaben

Christoph Garstka (Band-Herausgeber:in)

Christoph Garstka ist als Professor für Russische Kultur am Seminar für Slavistik/Lotman-Institut für Russische Kultur an der Ruhr-Universität Bochum tätig.

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Titel: Dostojewskij und St. Petersburg
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