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‚Gotische‘ Architektur in der russischen Literatur

von Tatjana Kantsavenka (Band-Herausgeber:in)
©2020 Dissertation 234 Seiten

Zusammenfassung

Die vorliegende Untersuchung basiert auf der Relation zwischen Architektur und Literatur. Im Mittelpunkt der Betrachtung befindet sich das Syntagma ‚gotische Architektur‘ und deren Rezeption in der russischen Literatur. Der begriffsgeschichtlichen Herangehensweise annähernd stütz sich der Diskurs auf einen Textkorpus, dessen Bestandteile zwischen 1700 und dem Anfang des 20. Jh. entstanden. Die literarischen Werke wurden nach dem semantischen Wandel und der Funktion der ‚gotischen‘ Bauten befragt. Mithilfe kunsthistorischer Aspekte und eines vielschichtigen Ideen- bzw. Metaphergehalts zeigte sich, dass Begriffe komplexe Inhalte und weitreichende Interpretation in sich tragen können.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • a. Forschungsbericht
  • I. Begriffsgeschichtliche Ansätze des Begriffes ‚gotisch‘ in Russland
  • II. Begriffsgeschichte
  • b. Aufbau der Arbeit und Zusammensetzung des Textkorpus
  • 2 ‚Gotisch‘ im westeuropäischen Kontext
  • a. Grundlegendes
  • b. Die Frage nach der Herkunft ‚gotischer‘ Architektur
  • c. ‚Gotisch‘ in der Zeit der Romantik
  • d. ‚Gotisch‘ als ein ‚universales Prinzip‘
  • e. Das ‚Gotische‘ in der Ausprägung des Nationalbewusstseins westeuropäischer Staaten
  • 3 Westeuropäische Literaturquellen mit den Motiven ‚gotischer‘ Architektur in Russland im ausgehenden 17. und 18. Jahrhundert
  • 4 Notizen über ‚gotische‘ Architektur in den russischen Reiseberichten
  • a. Peter I., Petr A. Tolstoj und Andrej A. Matveev
  • b. Nikita D. Demidov und Ekaterina R. Daškova
  • c. Aleksandr B. Kurakin und Nikolaj M. Karamzin
  • d. Zwischenfazit
  • 5 Prosatexte mit den Motiven der ‚russischen‘ Architektur
  • a. Nikolaj M. Karamzin und Vasilij N. Tatiščev
  • b. Aleksandr P. Sumarokov und Michail N. Zagoskin
  • c. Petr I. Šalikov und Ivan V. Kireevskij
  • d. Nikolaj A. Bestužev, Fedor P. Lubjanovskij, Aleksandr P. Brjullov und Nikolaj I. Greč
  • e. Elena A. Gan und Ivan I. Martynov
  • f. Nikolaj V. Gogol’, Vladimir F. Odoevskij und Fedor M. Dostoevskij
  • g. Vladimir P. Titov, Aleksandr A. Bestužev und Aleksej K. Tolstoj
  • h. Zwischenfazit
  • 6 ‚Gotisch‘ in ästhetischen Überlegungen
  • a. 19. Jahrhundert
  • I. Aleksandr I. Galič, Petr Ja. Čaadaev, Nikolaj V. Gogol’ und Nikolaj I. Nadeždin
  • II. ‚Gotizm‘: Aleksandr I. Gercen und Pavel V. Annenkov
  • b. Das Silberne Zeitalter
  • I. Maksimilian A. Vološin, Petr M. Bicilli und Osip Ė. Mandel’stam
  • c. Zwischenfazit
  • 7 Beispiele aus der russischen Lyrik
  • a. Stepan P. Ševyrev, Platon A. Kuskov und Konstantin K. Slučevskij
  • b. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts
  • c. Zwischenfazit
  • 8 Fazit
  • 9 Literaturverzeichnis
  • a. Quellen
  • I. Texte russischsprachiger Autoren
  • II. Sonstige
  • b. Sekundärliteratur

1 Einleitung

Für viele geisteswissenschaftliche Disziplinen ist es gebräuchlich geworden, historische Kunstwerke im geschichtlichen Zusammenhang zu sehen und zu versuchen, diese anhand einzelner Zeitabschnitte und ihrer Charakteristiken zu kategorisieren. So ist es heute beinahe eine Selbstverständlichkeit über Stilepochen wie Romanik, Gotik, Renaissance, Barock usw. zu sprechen. Nicht nur die Einteilung der Stile, sondern auch deren Bezeichnung hat noch keine lange Tradition. Im Grunde ist sie im 19. Jahrhundert entstanden, obwohl die einzelnen Begriffe bereits eine lange Begriffsgeschichte vorweisen konnten. In deren Verlauf wurden die Termini nicht immer positiv konnotiert. So hatte beispielsweise der Begriff ‚Barock‘, der die Bezeichnung für die Kunst des 17. und 18. Jahrhunderts ist, eine recht abwertende Bedeutung.1 Eine ähnliche Problematik hatte auch der Terminus ‚gotisch‘, der den Forschungsgegenstand der vorliegenden Arbeit bildet. Im Folgenden basieren die Überlegungen auf der Relation zwischen ‚gotischer‘ Architektur und ‚russischer‘ Literatur.

Die Anregung zu dieser Untersuchung entwickelte sich während eines jahrelangen Studiums der Slavistik sowie der Kunstgeschichte. Es war keine Seltenheit, dass auf dem kunsthistorischen Gebiet eine mittel-/westeuropäische Darstellung zum Nachdenken bewegte, und sich die Frage stellte, ob sich außerhalb dieser Perspektive ähnliche Vorgänge bei den östlichen benachbarten Kulturkreisen vorfinden lassen. Deshalb verknüpften sich die beiden Fachbereiche, die Kunstgeschichte mit ‚gotischer‘ Baukunst und die Slavistik im Schwerpunkt der russischen Literatur, zu der Fragestellung, wie sich die ‚gotische‘ Architektur in der russischen Literatur wiederfindet und welcher Sinngehalt dem Begriff ‚gotisch‘ dabei zugewiesen wurde. Vor dem Hintergrund, dass es in Russland keine mittelalterliche Bautradition der Gotik gab, wanderte das Motiv der ‚gotischen‘ Architektur trotzdem in das reflektierende Schaffen der russischen Literaten ein, sodass mithilfe eines Textkorpus gearbeitet werden kann. Es gilt nun eine Darstellung zu erarbeiten, die sich der begriffsgeschichtlichen Methode annähert, aber nicht primär eine sprachwissenschaftliche Analyse der Entwicklungsgeschichte anstrebt. Neben dem eventuellen semantischen Wandel soll gegebenenfalls auch die Bedeutung bzw. die Funktion des ‚gotischen‘ Bauwerkes in einem Text betrachtet werden. Ein weiteres Kriterium der vorliegenden ←9 | 10→Untersuchung bezieht ebenso den kunsthistorischen Aspekt mit ein, denn es soll überprüft werden, ob die Bezeichnung ‚gotisch‘ in Bezug auf ein Bauwerk seine kunsthistorische Richtigkeit hat.

Es sei ausdrücklich darauf verwiesen, dass hier eine bewusste Wahl des Syntagmas ‚gotische Architektur‘ getroffen wurde. Es bieten sich natürlich auch weitere syntagmatische Kombinationen des Terminus ‚gotisch‘ an, beispielsweise die ‚gotische‘ Schrift, der ‚gotische‘ Reim oder die ‚gotische‘ Seele. Diese sind jedoch im Weiteren irrelevant. Es wird sich außerdem noch zeigen, dass sich der Gebrauch der Alternativbezeichnungen für das Syntagma, die auf einen Oberbegriff der Epoche wie ‚gotizm‘ und ‚gotika‘ zurückgehen, nicht vermeiden lässt. Doch auch diese Begrifflichkeiten in die Diskurse miteinzubeziehen, wird aus zwei Gründen nicht für ratsam erachtet. Zum einen, weil die anfängliche und die gebräuchlichste Bezeichnung ‚gotisch‘ seit der Renaissance in erster Linie in einem Zusammenhang mit der Architektur auftrat. Erst im späteren Verlauf erstreckte sich die Anwendung auf weitere Bereiche wie Malerei, Bildhauerei etc., sodass der allgemeine Begriff ‚Gotik‘ zunehmend die gesamten Ebenen der mittelalterlichen Kultur umfasste. So liegt der Schwerpunkt der Eingrenzung auf die Wortgruppe ‚gotischer‘ Architektur ausdrücklich nur bei der Formensprache, welche in der Mitte des 12. Jahrhunderts in der Île-de-France aufkam und sich vor allem durch den Spitzbogen, das Rippengewölbe und weitere innovative Baumaßnahmen auszeichnet.

Zum anderen rechtfertigt die Wahl und die Eingrenzung auch die Tatsache, dass im 19. Jahrhundert in Russland im aktiven Wortschatz kein nachweisbares Stichwort ‚gotika‘ o. ä. für die Bezeichnung der Baukunst des Mittelalters oder der Epoche in den wenigen Nachschlagewerken vorhanden ist. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts finden sich in den markantesten Wörterbüchern Einträge, wie „Gotičeskoe (strel’čatoe) zodčestvo“2 im russischen Ėnciklopedičeskij slovar’ Brokgauza i Efrona (dt. Konversationslexikon Brockhaus-Efron) oder das Adjektiv ‚gotičeskij‘3 im Tolkovyj slovar‘ živogo velikorusskogo jazyka (dt. Bedeutungswörterbuch der lebendigen großrussischen Sprache) von Vladimir I. Dal’:

„Готи́ческій, свойственный готамъ, западной Европѣ въ среднихъ вѣкахъ; бол. уптрб. о зодчествѣ. Сравнительно, греческое зодчество отличается чистою художественностью; египетское — мрачностью и величіемъ; ←10 | 11→мавританское — замысловатою, волшебною легкостью; готическое, торжественною возвышенностью своею. Готическій наборъ, печать, подобная средневековому почерку.“4

a. Forschungsbericht

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Gotik begann in Russland wesentlich später als im westeuropäischen Raum. Zum einen war dies darin begründet, dass in Russland eine ‚gotische‘ Tradition bis in das 18. Jahrhundert hinein de facto nicht existierte. Zum anderen steht es im Zusammenhang damit, dass in Westeuropa Prozesse der Kunst- und Literaturkritik während der Aufklärung und der Romantik im Gange waren, welche zur Ausbildung systematischer Modelle und wissenschaftlicher Terminologie führten. Auch wenn die kritischen Kunstbetrachtungen recht früh begannen, wie die Beispiele aus dem italienischen Humanismus der Renaissance veranschaulichen, markiert jedoch Johann Joachim Winckelmann5 (1717–1768) mit seiner Arbeit einen wissenschaftlich-archäologischen, kunstwissenschaftlichen Anfang. In den folgenden Jahrzehnten kam es dazu, dass aus der außerordentlichen kunsthistorischen Professur (1799) in Göttingen 1813 der erste Lehrstuhl für Kunstgeschichte überhaupt gegründet wurde.6 Mit diesen Ereignissen setzten die Entwicklung unter anderem der Stilgeschichte, der systematischen Kunstwerkanalyse usw. ein. Die Beiträge, wie etwa von Jacob Burckhardt oder Heinrich Wölfflin (später auch Erwin Panofsky),7 sind der Grund, weshalb wir heutzutage mit Termini, wie ‚Renaissance‘ oder ‚Gotik‘, bestimmte Stile, architektonische Formen und Epochen bewusst definieren und verbinden können.

←11 | 12→

Wie einflussreich die deutsche Kunstgeschichtsforschung wurde, zeigt sich bis heute.8 Unter dem deutschen Einfluss stand auch die Entwicklung der Kunstgeschichte in Russland. Graf Valentin P. Zubov (1884–1969) legte mit seinem Institut istorii iskusstv (1912–1931)9 dafür den Grundstein. Im zweiten Kapitel seines autobiografischen Werkes Stradnye gody Rossii10 berichtet er nicht nur über seinen kunsthistorischen Studienlauf in Deutschland (Heidelberg, Berlin, Leipzig und Halle), sondern auch darüber, welche Auswirkung dieser später hatte. Er besuchte die Veranstaltungen von Henry Thode und Wilhelm Windelband in Heidelberg und in Berlin die von Heinrich Wölfflin. Vor allem jedoch war für Zubov der Kunsthistoriker Adolph Goldschmidt prägend.11 Neben dem Besuch deutscher Lehreinrichtungen reiste Zubov auch nach Italien. In der Zeit entstand in einer Zusammenarbeit mit Trifon G. Trapeznikov (1882–1926) und Michail N. Semenov (1873–1952) die Idee der Eröffnung einer Schule nach dem florentinischen Muster des deutschen Kunsthistorischen Instituts auch in St. Petersburg. Bis dahin gab es in der russischen Hauptstadt, so Zubov, nur zwei Orte, welche kunsthistorische Literatur führten: die Petersburger Universität und die Bibliothek in der Eremitage. Beide waren jedoch recht ‚veraltet‘ und schwer zugänglich. Deshalb begannen sie mit dem Sammeln der neuesten Arbeiten über westeuropäische Kunst (auf Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch), sodass schon 1910, noch vor der Eröffnung des Petersburger Instituts 1912, eine Grundlage von etwa 3000 Bänden zusammengetragen werden konnte.12 Der älteste Zweig des Instituts widmete sich den Bildenden Künsten. Im weiteren Verlauf kamen unter anderem Literatur- und Theaterkunde dazu, sodass sich die Forschungsschwerpunkte der Einrichtung verlagerten.13

Diese kurze Übersicht über die Entstehung der (wissenschaftlichen) Kunstgeschichte in Russland zeigt wie ‚jung‘ diese Wissenschaftsdisziplin auf russischem Boden ist. Dennoch kann man nicht behaupten, dass die Gotik überhaupt keine Spuren in russischer Geisteswissenschaft oder Literatur hinterließ. In den großen Überblickswerken der letzten 30 Jahre über russische Architektur findet sich ←12 | 13→kaum eine nennenswerte Erwähnung der ‚gotischen‘ Bauformen in Russland.14 Eine andere Perspektive zeigt sich in der internationalen Forschung, beispielsweise bei Heinrich Heidebrecht und Willam Brumfield15 (beide Beiträge aus den 1990er Jahren). An dieser Stelle muss zunächst das Wirken von Dmitrij O. Švidkovskij genannt werden, da seine Untersuchungen16 auf der Verbindung zwischen russischen und westlichen Bauformen basieren. 2016 erschien sein Werk mit dem Titel Istoričeskij put’ russkoj architektury i ego svjazi s mirovym zodčestvom17. Es liegt die Vermutung nahe, dass darin eine Auswertung der neusten Forschung über ‚gotische‘ Architektur gefunden werden könnte, da seit der Jahrtausendwende ein verstärktes russisches wissenschaftliches Interesse an ‚gotischer‘ Baukunst ausgemacht werden kann. Führend sind dabei die kunst- und architekturhistorischen Bereiche, wie die Arbeiten von Sergej V. Chačaturov, Marija G. Baranova, Ol’ga N. Golubeva, Igor’ I. Orlov, Marija M. Vasil’kova und von Igor’ V. Jamšanov belegen können.18 Doch es finden sich auch einige Arbeiten aus dem Gebiet der Philologie und Kulturwissenschaft: Svetlana K. Nasonova, Ekaterina V. Skobeleva, Galina V. Zalomkina und Ol’ga G. Talalaeva.19 Ein genauerer Blick in die aufgezählten Arbeiten zeigt, dass das neuerweckte Interesse am ‚Gotischen‘ durchaus hin und wieder auf russische Kultur Bezug nimmt.

Vor diesem Hintergrund werden die Erwartungen an Švidkovskijs jüngstes Werk von 2016 hochangesetzt. Der Autor schildert zunächst, dass durch die mongolische Herrschaft ab dem 13. Jahrhundert eine Abschottung zur westeuropäischen Kultur begann. Dies sei der Grund, weshalb in Russland die mittelalterliche Tradition der Gotik keine Ausprägung fand.20 So kam es nur vereinzelt vor, dass in russischen Orten, welche dank der geographischen Lage einem starken Kontakt mit Westeuropa ausgesetzt waren, eine punktuelle Übernahme ‚gotischer‘ Architektursprache vor dem 18. Jahrhundert erfolgte. Dafür wurde von Švidkovskij als Beispiel Novgorod ausgewählt:

←13 | 14→

„Лишь в архитектуре Новгорода, ведшего активную балтийскую торговлю, в XIV веке появлялись некоторые мотивы кирпичной готики городов ганзейского союза, […].“21

Švidkovskijs Argument des mangelhaften Kulturtransfers zwischen Russland und Westeuropa hat durchaus ein starkes Gewicht, dennoch wurde in seiner Argumentation die politisch-sakrale Perspektive außer Acht gelassen. Es darf nicht die Tatsache vergessen werden, dass trotz eines kulturellen Austausches zwei unterschiedliche Konfessionen (katholisch vs. russisch-orthodox) aufeinandertrafen. Die ‚gotischen‘ Bauformen waren ein Hauptcharakteristikum des Machtanspruches der katholischen Kirche im Mittelalter. Das war nicht sonderlich fördernd für eine Befürwortung ‚gotischer‘ Bauformen auf dem Gebiet einer anderen Religion. Mit der Ausbreitung des Katholizismus im Mittelalter konnte der ‚gotische‘ Baustil bis an die ‚Haustür‘ Russlands transportiert werden. Auf dem Gebiet der heutigen Belarus, Polens und der baltischen Staaten sind bauliche Überreste dieses Prozesses als Zeugen immer noch vorhanden.22

Die einzelnen Unterkapitel in Švidkovskijs Werk scheinen zunächst mehr Auskunft über die Verbreitung ‚gotischer‘ Bauformen in Russland geben zu können, wie z. B. das Kapitel Klassicizm, „russkij stil’“ i ėkletika23 oder Ot romantičeskoj neogotiki k „russkomu stilju“24. Doch auch das führt zu keinen aktuellen Erkenntnissen, denn fast alle verwendeten Quellen (Sekundärliteratur) lassen sich auf das 20. Jahrhundert datieren. Eine Ausnahme bilden dabei wenige Verweise auf einige Texte aus dem Jahr 2000 oder 2001.25 Forschungserkenntnisse darauf folgender Jahre sind in seinem Werk von 2016 nicht vorhanden, so wird die Einführung der ‚gotischen‘ Architekturformen weiterhin Vasilij I. Baženov (1738–1799), der sich an englischen Vorbildern orientiert haben soll, zugeschrieben.26 Außerdem wird auch der Vielfalt architektonischer Objekte mit ←14 | 15→‚gotischen‘ Bauformen in Russland nicht sonderlich beachtet. Im Grunde trägt die Erwähnung dieses architektonischen Vorkommens bei Švidkovskij nur am Rande dazu bei, die Entstehung des ‚russischen Stils‘ in Russland einzuleiten und beinhält keine tiefgreifende Bedeutung als eine selbständige architektonische Baustilerscheinung.27

Baranova untersucht in ihrer Dissertationsschrift (2005) das Aufkommen von ‚gotischer‘ Formensprache in der russischen Architektur seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis in das 20. Jahrhundert hinein. Im Mittelpunkt ihrer Betrachtung stehen architektonische Werke in und um St. Petersburg.28 Jamšanov dehnt 2013 in seinen Forschungen mit ähnlichem Schwerpunkt das Untersuchungsgebiet auf das gesamte ehemalige Zarenreich aus.29 Die kulturorientierten russischsprachigen Beiträge zeigen, dass bei der Recherche lediglich vereinzelt russische Literaturquellen verwendet wurden. Nasonova erwähnt beispielsweise Ol’ga A. Ljaskovskaja und Venedikt N. Tjaželov.30 So kann festgestellt werden, dass deren Überlegungen und Quellenarbeit hauptsächlich auf westeuropäischer bzw. englischsprachiger Literatur basieren.

Es sei darauf verwiesen, dass die vorliegende Arbeit nicht versucht, die kunst- und kulturhistorischen Forschungslücken im Bereich der Wahrnehmung der ‚Gotik‘ in Russland im Ganzen darzustellen, sondern das Ziel der Arbeit ist es, die literarischen Beiträge russischer Autoren, die in ihren Schriften ‚gotische‘ Architektur erwähnen, zusammen zu stellen und diese kritisch zu betrachten. Dabei geht es nicht darum, eine vollständige Bibliographie über ‚Gotik‘ bzw. ‚gotisch‘ in Russland zu erstellen. Die Impulse zu diesem Forschungsschwerpunkt basieren unter anderem auf Beiträgen von Josef Haslag, Klaus Niehr und Peter Thiergen.31

Haslag arbeitete sehr sorgfältig mit dem Begriff „Gothic“ in Literatur- und Kunstkritik an zahlreichen Beispielen, vor allem aus der englischen und französischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. In Ästhetische Grundbegriffe unter dem Schlagwort ‚gotisch‘ führt Klaus Niehr das Wort in unterschiedlichen Sprachen an: „(engl. gothic; frz. gothique; ital. gotico; span. gótico; russ. готическое)“32. Jedoch kommt im informativen Abriss seines Beitrags zur Begriffsgeschichte von ‚gotisch‘ keine einzige russische Informationsquelle vor.

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Niehr ist hierbei kein Sonderfall, denn nur in den seltensten Beispielen westeuropäischer oder englischsprachiger Arbeiten über Gotik ist ein Verweis auf einen russischen Autor zu finden. So tauchen beispielsweise die Namen von Karamzin und Gogol’ bei Paul Frankl33 in The Gothic. Literary Sources and Interpretations through Eight Centuries auf. Hier wurden Karamzins Pis’ma russkogo putešestvennika34 im Zusammenhang mit dem Straßburger Münster berücksichtigt.35 Gogol’ wurde auf knapp zwei Seiten von Frankl anhand von dessen Ob architekture nynešnego vremeni36 und O srednich vekach37 thematisiert. Frankl beließ es in seiner kurzen Analyse weitgehend bei der Feststellung, dass Gogol’ Walter Scott kannte und „[it] would be interesting to find out what besides Scott Gogol had read about Gothic. […] The article, however, is one of the few expressions of admiration for Gothic to come from Russia, where Gothic did not exist.“38 Offensichtlich lag beim Verfasser keine Kenntnis über ‚gotische‘ Bauformen im russischen Reich vor, welche ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert importiert wurden. Die architektonischen Werke, die ‚gotische‘ Formen aufwiesen, waren bereits zu Gogol’s Lebzeiten in St. Petersburg, z. B. aus der 1770er Jahren die Arbeiten des russischen Baumeisters Jurij M. Fel’ten (1730–1801), vertreten.39 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Forschungsversuche unternommen, auch diese ‚vaterländische‘ Architekturforschung in Russland zu erläutern, beispielsweise Vladimir V. Zgura Novye pamjatniki psevdogotiki (1927).40 Dies blieb Frankl vermutlich unbekannt, da dieser Beitrag nur in Russisch vorlag. Er verwendete für seine Arbeit keine Originaltexte.41

Das Buch von Evgenija I. Kiričenko Architekturnye teorii XIX veka v Rossii42 demonstriert, dass wesentlich mehr Quellen solcher Art, wie Frankl bei Karamzin und Gogol’ fand, in der russischen Literatur anzutreffen sind: Galič, Čaadaev, ←16 | 17→Nadeždin u. a.43 Die Autorin versucht die literarischen Quellen der 1820er bis 1890er Jahre nach ihrem ästhetischen Gehalt in einen chronologischen Zusammenhang zu bringen, wobei es keine Relevanz hat, was als ‚gotisch‘ in den Texten verstanden wurde.44 Diese Untersuchung kann mit einer Monographie, wie die Arbeit von Josef Haslag, nicht verglichen werden. Zum einen wurde der zeitliche Rahmen recht klein gehalten und zum anderen wurden dabei keine Erkenntnisse (was ‚gotisch‘ sei) ermittelt. Im Grunde genommen liegt heutzutage keine Arbeit oder Studie, welche sich mit dem Begriff ‚gotisch‘ im russischen Kontext ausführlich beschäftigt, vor.

I. Begriffsgeschichtliche Ansätze des Begriffes ‚gotisch‘ in Russland

In der Arbeit von Sergej V. Chačaturov scheint es zur Begriffsentwicklung von ‚gotisch‘ in Russland einige Anhaltspunkte zu geben. Der Kapiteltitel Ponjatie „gotskij“, „gotičeskij“ i sintagma „gotičeskij vkus“ v russkoj leksikografii XVIII veka45 wirkt vielversprechend. Bereits im ersten Absatz wird ein linguistischer Standpunkt angesprochen. Dieser besagt, dass ‚gotskij‘ und ‚gotičeskij‘ zu Beginn des 18. Jahrhunderts in ihrer Bedeutung äquivalent waren. Die Wortverwendung sei schon in der Alten Rus’ bekannt gewesen.46 Auf welche Quelle oder Untersuchungen sich Chačaturov dabei bezieht, kann nicht aus den Verweisen oder seiner Bibliographie entnommen werden, denn es findet sich keinerlei Referenz oder genauere Erläuterung hierzu. Er führt hierzu lediglich die Nestorchronik47 und das Igor’lied48 als Belege für altrussische Quellen an.49 An dieser Stelle zeichnet sich bereits die Problematik der Quellenlage bei Chačaturov ab. Für ihn scheint es außer Frage zu stehen, dass das Igor’lied ein altrussischer Literaturbeleg ist, obwohl die Echtheit des Werkes umstritten ist. Die Entstehung des Liedes wird teilweise auf etwa das Jahr 1800 datiert.50 Somit kann nicht mit Sicherheit angenommen werden, dass „gotskïja krasnyja devy“51 ein altrussischer Beleg für ←17 | 18→die Verwendung des Terminus sei oder in welchem Sinn dieser verstanden werden soll, denn Chačaturov gab keine klare Definition o. ä. an.

Viele weitere Unklarheiten treten im gesamten Kapitel auf. Sehr auffallend ist die Tatsache, dass Chačaturov des Öfteren eine direkte Arbeit mit literarischen Quellen nicht vornahm, d. h. einige Texte wurden indirekt zitiert, ohne dabei überprüft worden zu sein. Dass daher teilweise keine korrekten Schlussfolgerungen entstehen können, veranschaulicht z. B. der folgende Absatz:

„Влияние английской традиции на широкие культурные слои русского общества приводит к тому, что тиражируется и ‚рыцарское‘ значение слова. Будущий выдающийся славяновед А. Востоков в своих юношеских стихотворных ‚Опытах лирических…‘ 1805–1806 годов соединяет три традиции (французскую, английскую и русскую) и окончательно замыкает общий круг богатырских и рыцарских тем: ‚Богатыри времен Владимировых сходствовали много с Готическими странствующими рыцарями…‘ […]“52

Nach einer Überprüfung des Originaltextes muss festgestellt werden, dass es sich dabei um keinen direkten Textverweis handeln kann. Das Zitat bei Chačaturov mit der Nummer 99 nimmt Bezug auf einen literarischen Text von Aleksandr Ch. Vostokov (1781–1864). So wie Chačaturov das Stück einbaute, scheint es sich zunächst um einen Auszug aus dem Text von Vostokov zu handeln. Es würde bedeuten, dass es einen Beleg von einem russischen Autor gäbe, in dem bewusst das ‚gotische‘ Rittertum thematisiert wurde und dass damit ein interkultureller Vergleich (Bogatyr’ vs. Ritter) bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorlag. Auf der Suche nach der besagten Stelle bei Vostokov wird schnell deutlich, dass die Fußnote von Chačaturov auf einem Eintrag im Slovar’ russkogo jazyka XVIII veka53 basiert. In Vostokovs Werk selbst kommt dieser Vergleich nur im Rahmen seines Kommentars zu Pevislad i Zora (Drevnjaja povest‘, v pjati idillijach.)54 und der ←18 | 19→Erläuterung55 zu „poljanica udalaja“56 vor. In den Versen selbst über Pevislad i Zora erscheint das Wort ‚gotisch‘ nicht. Ganz im Gegenteil, die Verse des Dichters vermitteln die Atmosphäre des alten russischen Reiches (ähnlich dem Igor’lied) und ähneln einer Byline.57 Also hat die von Chačaturov zitierte Stelle ihre Berechtigung, nur nicht in dem Umfange und Kontext wie Chačaturov sie ihr zuschrieb.

Außerdem konstruiert er anhand fremdsprachiger Sekundärliteratur ein Modell des ‚Gotischen‘ und passt dieses auf die russische Entwicklung der Terminus-Verwendung an. In erster Linie wurden von ihm deutsch- und englischsprachige Untersuchungen, wie der Aufsatz The Adjective Gothique in the Eighteenth Century von William C. Holbrook58 und das bereits erwähnte Werk von Josef Haslag59, rezipiert. Mittels einiger literarischer Beispiele versucht er seine Theorie zu festigen, indem er einen starken Bezug zu der französischen Tradition der Begriffsgeschichte ‚gotisch‘ sah.60 Im Großen und Ganzen liefert die Arbeit von Chačaturov durchaus einige Impulse für die Quellenrecherche der vorliegenden Untersuchung und hilft bei der Erstellung des untersuchenden Textkorpus.

II. Begriffsgeschichte

Die Disziplin der Begriffsgeschichte ist ein recht junger Forschungszweig und entwickelte sich vor allem in Deutschland, Frankreich und englischsprachigen Ländern mit unterschiedlichen Prägungen und verschiedenen Schulen.61 Zu dem Thema gibt es eine umfangreiche Bibliographie, welche jedoch für diese Arbeit nicht weiter von Wichtigkeit ist. Es wird an der Stelle lediglich eine kurze Zusammenfassung gegeben, um die bedeutungstragenden Aspekte zu schildern.62 Die Entfaltung der Begriffsgeschichte in Russland stand teilweise ähnlichen Schwierigkeiten gegenüber. Der Band Russische Begriffsgeschichte der Neuzeit63, der 2006 von Peter Thiergen herausgegeben wurde, veranschaulicht einige dieser Schwierigkeiten.

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In der Einleitung zu dem Band wird von Thiergen (kontrastierend zum westeuropäischen Raum) die schwierige Lage dieses Sachgebiets in Russland geschildert.64 Im Gegensatz zu den meisten (west-)europäischen Ländern (darunter vor allem Deutschland) und dem amerikanischen Sprachraum, ist diese Disziplin in der Slavistik bzw. der Russistik noch nicht lange tradiert und sei „vielfach ein Tummelplatz für dilettierende Klischeetransporteure und [komme] allzu häufig über Florilegienstatus nicht hinaus.“65 Dennoch werden einige russischsprachige Einzelleistungen durch Thiergen thematisiert und in ihrer tragenden Bedeutung nicht übersehen. Dabei kommt er zu der Schlussfolgerung, dass es sich im russischen Sprachraum in erster Linie um Wortforschung handelt und „nicht [um] klassische Begriffsgeschichte, Wortgeschichte befasst sich primär mit dem einen sprachlichen (Wort)Gefäß, Begriffsgeschichte hingegen mit dem vom Gefäß transportierten, meist komplexen, ja z. T. umstrittenen Inhalt.“66 Auch wenn ein Begriff an das Wort anknüpft, geht dieser jedoch über das Wort hinaus und benötigt eine intensive „textbezogene Verstehenslehre“67. Die neueste Entwicklung in der Wissenschaft wendet sich verstärkt der Theoriefindung bzw. -bildung zu, sodass die Wissenschaftssprache sich immer weiter von einer gründlichen Quellenarbeit (oder wie bei Thiergen: Quellensprache) entfernt. Für die Begriffsgeschichte wird hingegen eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit unentbehrlich.68 Sowohl in Russland als auch in der Sowjetunion waren, wie Thiergen hervorhebt, die Bedingungen für eine barrierefreie Entfaltung der Begriffsgeschichte nicht gewährleistet. Eine problemlose Beschäftigung mit Quellen und deren Auswertung (Voraussetzung dafür sind Denkfreiheit und hoher Bildungsgrad) war aufgrund der staatlichen Situation nicht möglich.69

Begriffe werden nach ihrer Bedeutung als sozialer Faktor mit Einbindung des historischen Hintergrundes untersucht. Dabei kann sich eine Bedeutung, welche durch die jeweilige Epoche und das sozialpolitische Umfeld vorgeprägt wurde, herauskristallisieren und Gültigkeit für die jeweiligen Kollektive bzw. Gesellschaften bekommen. Ebenso lässt sich ein Strukturwandel erkennen. Ausschlaggebend dafür sind erhaltene und untersuchbare Quellen, die über Erfahrungen, Theorienbildungen und Erwartungen berichten.70 Das Ganze ist mit weiteren ←20 | 21→Unterdisziplinen, wie z. B. der Metapherngeschichte verknüpft. Die Metaphern werden nicht nur nach ihrem formalen Aspekt der rhetorischen bzw. poetischen Rolle als Stilfigur befragt. Gleichzeitig werden auch Versuche unternommen, ihre ordnungs- und strukturbildende Funktion bei der Entstehung des kulturellen Weltbildes zu ergründen.71 Die Verwendung einer Metapher durchläuft stets einen Wandel, wodurch sich der metaphorische Kontext (semantisches Feld, in dem die Metapher eingesetzt wird) im Laufe der Zeit verändert. „Metapherngeschichtliche Forschungen sollen Einblicke in die Denkmuster, Grundvorstellungen und Selbstverständlichkeiten der untersuchten Zeit eröffnen, […].“72 An dieser Schnittstelle zwischen Literatur, Quellenarbeit und Semantik knüpft teilweise auch die vorliegende Untersuchung zu ‚gotischer‘ Architektur in russischer Literatur an. Dies war ein Weg der Reflexion der Gotik in Russland. Das Textkorpus besteht aus Quellen der russischen Literatur, wobei das Hauptkriterium das Auftreten des Terminus ‚gotisch‘ im Text in Bezug auf die Architektur ist. Je nach Auslegung kann ‚gotische‘ Architektur auch die Funktion einer Metapher im Text annehmen und sich im zeitlichen Verlauf im Sinn wandeln.

b. Aufbau der Arbeit und Zusammensetzung des Textkorpus

Die Voraussetzung für die Wahl einer Quelle sind: 1) der Autor sollte einen russischsprachigen Kontext aufweisen können, 2) ‚Übernahmen‘ anderer Textquellen sind legitim (z. B. Zitat, Motiv o. ä.), aber das Ganze soll ein selbstständiges literarisches Gebilde sein und 3) die Textdatierung soll etwa zwischen dem Jahr 1700 und dem Ende der 1910er Jahren liegen. Die zeitliche Grenze beginnt somit mit der ‚Öffnung Russlands‘ nach Europa während der Regierung Peters I. und schließt mit dem Ende der Romanovs und mit den weitreichenden Folgen des ersten Weltkrieges, wodurch es zunehmend zur Entfremdung bzw. Abschottung Russlands kam, ab. Es sei darauf verwiesen, dass bei der Zusammentragung des Textkorpus keine Vollständigkeit aller möglichen Quellen angestrebt wurde.

Den Anfang des zu untersuchenden Korpus bilden in erster Linie Reiseberichte, weil diese die ersten Begegnungen und Erfahrungen mit ‚gotischer‘ Architektur zu Beginn des 18. Jahrhunderts veranschaulichen können. Ein erster Einschnitt wird bei Karamzin gesetzt, da sich mithilfe seiner Schriften am besten der Übergang des Begriffes ‚gotisch‘ aus Erfahrungsberichten (Reiseberichte/Briefe) in andere Textsorten der russischen Literatur darstellen lässt. Dabei nahm ←21 | 22→auch die Verbreitung der Schauerromane (Gothic novel) eine wichtige Funktion ein, da des Öfteren die ‚gotische‘ Architektur als Handlungsort, Handlungsträger o. ä. eine tragende Rolle spielte.73 Deshalb können auch solche Erzählungen, wie z. B. von Gogol’, Bestužev-Marlinskij u. a., mit in die Untersuchung einbezogen werden. Ergänzend dazu sollen ebenso Texte mit ästhetischen Perspektiven berücksichtigt werden. Das gesamte Untersuchungskorpus werden Quellen aus der russischen Dichtung abrunden, womit ein breiteres Spektrum an Textarten bzw. -sorten für die Studie zusammengetragen werden kann.

Das Syntagma ‚gotische Architektur‘ ist mit einem weiteren Untersuchungspunkt verbunden, denn jedes Bauwerk hat seine eigene definierte Funktion. In literarischen Texten verhält es sich mit architektonischen Gebilden nicht anders. Außer gängiger Ekphrasis können noch weitere Funktionen aufgestellt werden. Nach Brynhildsvoll gibt es sechs Raumtypen, welche eine Vielzahl an Zwischenstufen und Mischformen aufweisen können.74 Mithilfe der funktionellen Subjekt/Objekt-Beziehungen wird zwischen folgenden Gruppen unterschieden:

„I. Der Raum dient lediglich als Kulisse und Folie, gibt den Hintergrund und Rahmen für ein primär-vordergründiges Geschehen von nichträumlichem Charakter ab. Menschen und Raum sind rein sachlich aufeinander bezogen.

II. Der Raum nimmt den Charakter einer Schicksalsmacht an, der die Handlungsträger auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. Er zwingt seinen Bewohnern seine Eigengesetzlichkeit auf.

III. Raum und Mensch sind vollständig aufeinander abgestimmt so, daß sie sich gegenseitig deuten und erklären, ohne dabei ihre Eigenständigkeit einzubüßen.

IV. Der Raum tritt als Resonanzboden für Stimmungen und Emotionen in Erscheinung, wobei die Grenzen zwischen Innenwelt und Außenwelt verschwimmen. Man kehrt in sich selbst zurück und findet dort eine Welt mit erkennbaren Zügen, genauso wie man sich umgekehrt nach außen hin wendet und in den Ordnungen des Draußen sich selbst wiedererkennt.

Details

Seiten
234
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631823514
ISBN (ePUB)
9783631823521
ISBN (MOBI)
9783631823538
ISBN (Paperback)
9783631823507
DOI
10.3726/b17022
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Mai)
Schlagworte
Bauwerke Begriffsbildung ‚gotizm‘ Russland Osteuropa Kulturtransfer Literarische Artefakte Gotik Mittelalter Romantik
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 234 S., 2 farb. Abb., 6 s/w Abb.

Biographische Angaben

Tatjana Kantsavenka (Band-Herausgeber:in)

Tatjana Kantsavenka studierte Slavistik und Kunstgeschichte an der Technischen Universität Dresden. Auf der Grundlage der beiden Fachgebiete erfolgte ihre Promotion mit dem Schwerpunkt in slavischen Literaturwissenschaften.

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Titel: ‚Gotische‘ Architektur in der russischen Literatur
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