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Homosexualität in der Holocaustliteratur

von Angelika Niere (Autor:in)
©2021 Dissertation 320 Seiten

Zusammenfassung

Wer stellt Homosexualität innerhalb der Holocaustliteratur wann dar? Welche literarischen Strategien kommen zum Einsatz, wenn die Autoren und Autorinnen Homosexualität in ihren Texten ausgestalten, und welche Funktion erfüllen diese Darstellungen? Die Bearbeitung dieser Fragen ist nicht nur als Grundlagenbeitrag zu Gay Studies und Holocaustliteraturforschung von Interesse. Homosexualität wird auch im Schreiben über den Holocaust von Autorinnen und Autoren jeglicher Couleur ungeachtet ihrer sexuellen Orientierung inszeniert. Diese Publikation untersucht, welche narrativen Funktionen diese häufig kurzen, doch zahlreichen Erwähnungen erfüllen und welche Einblicke in die Prozesse der Textentstehung und -wirkung dadurch ermöglicht werden.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • I. Einleitung
  • II. Theoretische Grundüberlegungen
  • 1 Literaturwissenschaftliche Perspektive auf den Holocaust
  • 2 Holocaustliteratur und Gender Studies
  • 3 Holocaustliteratur und Gay Studies
  • III. Textanalyse
  • 1 Täterliteratur: „Homosexuelle Staatsfeinde“ und „Berufsverbrecher“
  • 1.1 „Bevölkerungspolitisch nach wie vor nutzbar“: Die nationalsozialistische Propaganda
  • 1.2 „Moralische Begriffe, wie Treu und Glauben, sind ihm lächerlich“: Meine Psyche. Werden, Leben und Erleben von Rudolf Höß
  • 2 Exilliteratur: „Homosexuelle Nazis“
  • 2.1 „Etwas, was es in der HJ überhaupt nicht gab“: Die Geschichte des Hitlerjungen Adolf Goers von Hans Siemsen
  • 2.2 Exkurs: „Ich bin wie ihr!“: Die Wohlgesinnten von Jonathan Littell
  • 3 Überlebendenliteratur aus heterosexueller Perspektive
  • 3.1 Männliche Perspektive: „Homosexuelle Sadisten“
  • 3.1.1 „Zur sadistischen Mordlust gesteigert“: Homosexualität als Verbrechen gegen KZ-Häftlinge
  • 3.1.2 „Tiere bewachen Menschen“: Verbrechen gegen 175er als Illustration des Terrors
  • 3.1.3 „A hysterical orgasm of pleasure“: Homosexualität als Teil der Entartung im KZ
  • 3.1.4 „SS und grüne Dreiecke sind das Gift, welches unser Leben auf Dauer zerstört“: Schwul sind die Anderen
  • 3.1.5 „Die sexuellen Belästigungen hörten auf“: Homosexualität als eines guten Mannes Laster
  • 3.1.6 „Schließlich hat er es doch geschafft“: Mann-männliche Vergewaltigung
  • 3.1.7 „Aber heute wusste er, dass man aus dem Lager nicht wiederkehrt als derselbe“: Im Frühwind der Freiheit von Heinrich Christian Meier
  • 3.2 Weibliche Perspektive: „Völlig halt- und hemmungslose Asoziale“
  • 3.2.1 „Sind das noch Menschen?“: Die Gefahr der lesbischen Entartung
  • 3.2.2 „Diese schamlose Zurschaustellung der eigenen Hässlichkeit“: Vermännlichung und Sexualisierung
  • 3.2.3 „The Bitch Again“: Weibliche Täterschaft
  • 3.2.4 „Und überhaupt, die Unsrigen befummeln sich nicht“: Lesbisch sind die Anderen
  • 4 Überlebendenliteratur aus homosexueller Perspektive
  • 4.1 Männliche Perspektive: „Wer ist ein Häftling?“
  • 4.1.1 „Mut oder Resignation! Wähle!“: Die Schriften von Leo Classen
  • 4.1.2 „Dazu bestimmt, die Verdammtesten unter den Verdammten zu sein“: Die Männer mit dem rosa Winkel von Heinz Heger
  • 4.1.3 „Lass uns keine weiteren Worte verlieren“: Ich, Pierre Seel, deportiert und vergessen von Pierre Seel
  • 4.1.4 Exkurs: „Queers Aren’t Meant To Love“: Weiterentwicklung der Topoi in der LGBTQ-Literatur
  • 4.2 Weibliche Perspektive: „If We Existed, Believe Me, They’d Be Against Us“
  • 4.2.1 „when i pressed through the chimney/ it was sunny and clear”: Die Schriften von Irena Klepfisz
  • 4.2.2 „Unter Lillys Fittichen kann Felice vorübergehend vergessen, dass sie eigentlich gar nicht mehr am Leben sein sollte“: Aimée und Jaguar von Erica Fischer
  • 5 „I Can’t Go Back/Where I Came From Was/Burned Off The Map”: Texte von homosexuellen Kindern Überlebender
  • 5.1 „Her Proud Angry Jewish Face“: Melanie Kaye/Kantrowitz
  • 5.2 „Diese unterschiedlichen Bilder, die sie von ihm hatten, dröhnten und kollidierten in seinem Inneren“: Lev Raphael
  • IV. Fazit
  • V. Bibliographisches Verzeichnis: Homosexualität als Motiv, Stoff oder Thema in literarischen Darstellungen des Holocaust
  • Literaturverzeichnis
  • Abkürzungen
  • Reihenübersicht

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I.Einleitung

Die homosexuellen Opfer des Holocaust wurden spät in das Gedenken einbezogen. Erst 1989 gemahnte ihrer in Deutschland erstmals eine Gedenktafel. Sie steht in Berlin am Nollendorfplatz; in Form eines Winkels – zur Erinnerung an den rosa Winkel, mit dem homosexuelle Häftlinge in manchen Konzentrationslagern gekennzeichnet wurden –, trägt sie die Aufschrift „Totgeschlagen / Totgeschwiegen / Den / homosexuellen Opfern / des /Nationalsozialismus“.

Initiiert wurde die Tafel von zwei regionalen homosexuellen Organisationen. Sie stellten allerdings sogar unter den zahlreichen Vereinigungen, die aus der Schwulen- und Lesbenbewegung hervorgegangen waren, eine Seltenheit dar. Auch dort begann der Kampf um die Anerkennung der homosexuellen Opfer erst spät. Ein früher Versuch, einen Gedenkstein errichten zu lassen, nämlich 1985 in der Dachauer KZ-Gedenkstätte auf Antrieb einer Münchner Initiative, war von dem Internationalen Dachau-Komitee, einer Gemeinschaft ehemaliger Häftlinge abgelehnt worden. Es sollte zehn Jahre dauern, bis der Gedenkstein dem zentralen Gedenkraum Dachaus hinzugefügt wurde und die Häftlinge mit den rosa Winkeln Anerkennung als Leidensgenossen fanden.

Der Tabuisierung von Sexualthemen im Kontext des Holocaust und der damit verknüpften ausbleibenden Aufarbeitung zum Trotz wurden Homosexualität und homosexuelle Verfolgte in den Beiträgen zur Holocaustliteratur natürlich trotzdem immer wieder zumindest in knapper Form thematisiert – und das lange, bevor 1972 mit Heinz Hegers Die Männer mit dem Rosa Winkel das erste landesweit verfügbare Selbstzeugnis eines ehemaligen Häftlings erschien, der aufgrund des „Homosexuellenparagraphen“ § 175 StGB verurteilt worden war. Erst in den vergangenen drei Jahrzehnten wurden diese Quellen mit zunehmender Regelmäßigkeit von Historikern und Rechtswissenschaftlern, Politologen und Soziologen verwertet. Als der erste Forschungsbeitrag zur Verfolgung von Homosexualität in Deutschland gilt gemeinhin Rüdiger Lautmanns Seminar: Gesellschaft und Homosexualität aus dem Jahr 1977. Ab den neunziger Jahren illustriert das häufige Erscheinen von Publikationen begleitend zu Ausstellungen in Gedenkstätten den einsetzenden Zugriff auf Forschungsgelder. Umso erstaunlicher ist, dass sich die Literaturwissenschaft bislang mit Beiträgen zur literarischen Darstellung von Homosexualität im Holocaustgedenken sehr zurückgehalten hat; Einbeziehungen und Würdigungen fanden hier bislang weitestgehend in Einzelbeiträgen statt, so etwa Klaus Müllers kurzer Überblick über autobiographische Zeugnisse homosexueller ←9 | 10→Verfolgter (2002), Claudia Schoppmanns und Ulrike Janz’ Analysen der Darstellung von Homosexualität in der weiblichen Überlebendenliteratur (respektive 1993 | 2 und 1994). Homosexualdenunziationen in der Exilliteratur hat insbesondere Jörn Meve 1990 ausführlich besprochen. Wichtige auch literaturwissenschaftliche Beiträge zur Konstruktion weiblicher Homosexualität im Holocaustgedenken erschienen in dem von Ilsa Eschebach und Silke Wenk herausgegebenen Band Soziales Gedächtnis und Geschlechterdifferenz (2002) und dem von Ilsa Eschebach allein herausgegebenen Devianz und Homophobie (2012). In den Nachbardisziplinen publizierten Julia Noah Munier (Kulturwissenschaft) mit Sexualisierte Nazis und Britta Gries (Sprachwissenschaft) mit Der Holocaust in deutschsprachigen publizistischen Exkursen in der nahen Vergangenheit umfangreiche relevante Analysen (beide 2017).

Wer stellt Homosexualität innerhalb der Holocaustliteratur wann literarisch dar? Welche Strategien kommen zum Einsatz, wenn die Autoren und Autorinnen Homosexualität in ihren Texten ausgestalten, und welche Funktion erfüllen diese Darstellungen? Die Bearbeitung dieser Fragen ist nicht nur als Gegenstand der Grundlagenforschung von Gay Studies und Holocaustliteraturforschung von Interesse. Homosexualität wird von Autoren und Autorinnen jeglicher Couleur ungeachtet ihrer sexuellen Orientierung inszeniert. In den während des Dritten Reichs entstandenen Texten mit politischer Funktion – zum einen von Nationalsozialisten verfasste Beiträge mit Bezugnahme auf die Propaganda, zum anderen Schriften von Exilautoren – kommt Homosexualität als komplexes Denunziations- und Ausgrenzungswerkzeug zum Einsatz. In der Erinnerungsliteratur inszenierte homosexuelle Figuren oder „homosexuellen Vorfälle“ in den Konzentrationslagern werden zwar häufig nur am Rande erwähnt, flüchtig angerissen oder anekdotisch eingebunden, doch diese Erwähnungen erfolgen in den seltensten Fällen neutral propositional; vielmehr erfüllen sie narrative Funktionen, die Einblicke in die Prozesse der Textentstehung und -wirkung ermöglichen. Nach Einsetzen der lesbischen und schwulen Emanzipation ab etwa der siebziger Jahre erschienen schließlich auch Beiträge von homosexuellen Überlebenden und den homosexuellen Nachkommen Verfolgter; sie fordern die zuvor etablierten Imaginationen homosexuellen „Verhaltens“ und gleichgeschlechtlicher Orientierung mit der persönlichen Perspektive und Konkurrenzkonstruktionen heraus. Es setzt eine Machtverschiebung innerhalb des Diskurses im foucaultschen Sinne ein; neue Stimmen erkämpfen sich medialen und literarischen Raum.

Die vorliegende Arbeit – eine leichte Überarbeitung meiner 2019 an der Justus-Liebig-Universität abgeschlossenen Dissertation – befasst sich mit der Darstellung von queeren Sexualitäten in einem Textkorpus von etwa 255 erfassten ←10 | 11→literarischen Beiträgen des Genres der Holocaustliteratur, die Homosexualität thematisieren. Sie fragt nach den literarischen Strategien der Ausgestaltung sowie nach der Funktion, die Homosexualität in diesen Texten erfüllt. Zusammengestellt wurde der Korpus im Zuge einer umfangreichen Recherche in insgesamt acht deutschen Literatur- bzw. Holocaustarchiven, wobei mit weiteren sieben Archiven teilweise ausführliche Korrespondenzen stattfanden. Weitere Quellen wurden den Publikationen anderer Holocaustforscher entnommen und in Bibliotheken gesichtet.

Vor-Ort-Recherche

Korrespondenzen

Archiv der Gedenkstätte Bergen-Belsen (ABB)

Holocaust Museum Washington

Archiv der Gedenkstätte Neuengamme (NG)

Deutsches Tagebucharchiv (DTA)

Archiv der Gedenkstätte Ravensbrück/Stiftung Brandenburgerische Gedenkstätten (MGR/StBG)

The Lesbian Herstory Archives (New York City)

Archiv der Gedenkstätte Sachsenhausen (AS)

Deutsches Pfadfinderarchiv

Archiv der Gedenkstätte Dachau (DaA)

Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen

Archiv der Gedenkstätte Buchenwald (AGB)

Staatsarchiv Hamburg

Lesbisches Literaturarchiv „Spinnboden“

Staatsarchiv Würzburg

Schwules Museum Berlin

Vom Besuch weiterer Archive wurde abgesehen, als sich abzeichnete, dass neue Funde die literarischen Analysen der vorherigen bestätigten, ohne neue Erkenntnisse in Hinblick auf die angewandten Darstellungsstrategien zu ermöglichen.

Als Beiträge zur Holocaustliteratur werden Texte jeglicher im weiteren Sinne literarischen Gattung von Autoren und Autorinnen in jeglicher Rolle gegenüber dem Holocaust angesehen. Berücksichtigt wird also nicht nur die Erinnerungsliteratur, wenngleich sie zweifellos das Kernstück der Holocaustliteratur darstellt und weit über die Hälfte der einbezogenen Werke ausmacht. Neben ←11 | 12→autobiographischen Schriften und Tagebüchern sind auch Romane vertreten, Kurzgeschichten, essayistische Beiträge und einige Dramen. Es sind Autoren mit und ohne persönlichen Bezug zum Holocaust einbezogen, Opfer, Täter und Nachgeborene. Dass bei der Fülle der Gattungen nicht immer in der Tiefe auf ihre jeweiligen Charakteristika eingegangen werden kann, liegt bedauernswerterweise in der Natur einer Arbeit wie der vorliegenden. Es wird in diesen Fällen davon ausgegangen, dass der Leser sich der Modalitäten und Einflüsse der jeweiligen Gattungen bewusst ist.

Anzahl

Autobiographien und Memoiren

63

Tagebücher

  6

Erinnerungsberichtea

50

Romane

     autobiographische Romaneb

Details

Seiten
320
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631845592
ISBN (ePUB)
9783631845608
ISBN (MOBI)
9783631845615
ISBN (Hardcover)
9783631823156
DOI
10.3726/b17967
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Shoah Überlebendenliteratur Gender Studies Gay Studies Darstellungsstrategien Homosexuellenforschun Diskursanalyse Holocaust
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 320 S., 2 s/w Abb., 2 Tab.

Biographische Angaben

Angelika Niere (Autor:in)

Angelika Niere studierte Germanistik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Dort erfolgte auch ihre Promotion. Sie ist Referentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Industrie- und Handelskammer Frankfurt am Main.

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