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Mythos Alchemie

Austauschprozesse und Netzwerkstrukturen frühneuzeitlicher Chemiker um 1600

von Jürgen Hollweg (Autor:in)
©2020 Dissertation 440 Seiten

Zusammenfassung

Netzwerke haben in der Geschichte größte Veränderungen bewirkt; oft ist ihr Einfluss aber wenig bekannt oder untersucht. Dies trifft auf die Netzwerke der Chemiker um 1600 in besonderem Maße zu. Im Gegensatz zur allgemeinen Gelehrtenrepublik ist über die „res publica chemica" in der Frühen Neuzeit wenig bekannt. Das Buch untersucht die Struktur der Netzwerkverbindungen und ihre Abhängigkeiten. Die Auswirkungen dieser Kommunikationswege auf die Entwicklung des chemischen Wissens und der chemischen Praxis werden untersucht. Die Auswertung der Vorgänge in den Netzwerken verbindet die Darstellung der sachlichen chemischen Erkenntnisse mit einer Betrachtung der Wissenschaftsentwicklung als sozialem Prozess. Die Entwicklung wird als gemeinschaftliches, kulturhistorisches Unternehmen über einen längeren Zeitraum begriffen. Dabei werden anscheinend unverrückbare Anschauungsweisen in Frage gestellt, die sich in der Chemiegeschichte etabliert haben.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Title
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • 1.Teil: Einleitung
  • 1. Andreas Libavius (nach 1555–1616)
  • 2. Joseph Du Chesne (1546–1609)
  • 3. Oswald Croll (ca. 1560–1608)
  • 4. Théodore Turquet de Mayerne (1573–1655)
  • 2.Teil: Gelehrtenrepublik und Wissenschaftsrepublik
  • 2.1. Wissenschaft als gemeinschaftliche Praxis und als Prozess
  • 2.1.1. Wissensproduktion in wissenschaftlichen Gemeinschaften
  • 2.1.2. Netzwerke in wissenschaftlichen Gemeinschaften
  • 2.1.3. Soziale Netzwerke und soziale Netzwerkanalyse
  • 2.2. Die Gelehrtenrepublik
  • 3.Teil: Überblick Chemie: Geschichte, Bedeutung, Definitionen
  • 4.Teil: Informationsaustausch frühneuzeitlicher Chemiker
  • 4.1. Andreas Libavius
  • 4.1.1. Leben und Wirken
  • 4.1.2. Bücher und Briefe
  • 4.1.3. Inhalt und Form
  • 4.1.4. Das egozentrierte Netzwerk
  • 4.2. Joseph Du Chesne
  • 4.2.1. Leben und Wirken
  • 4.2.2. Bücher, Briefe und chemische Herstellungsanweisungen
  • 4.2.3. Inhalt und Form
  • 4.2.4. Das egozentrierte Netzwerk
  • 4.3. Oswald Croll
  • 4.3.1. Leben und Wirken
  • 4.3.2. Bücher, Briefe und chemische Herstellungsvorschriften
  • 4.3.3. Inhalt und Form
  • 4.3.4. Das egozentrierte Netzwerk
  • 4.4. Théodore Turquet de Mayerne
  • 4.4.1. Leben und Wirken
  • 4.4.2. Tagebücher und Briefe
  • 4.4.3. Inhalt und Form
  • 4.4.4. Das egozentrierte Netzwerk
  • 5.Teil: Netzwerkstrukturen frühneuzeitlicher Chemiker
  • 6.Teil: Netzwerkstrukturen und Entwicklungen in der Chemie
  • 6.1. Chemische Briefe: Gegenstand und Zielsetzung
  • 6.2. Nomenklatur, Symbolik, Systematisierung
  • 6.3. Präzisierung, Quantifizierung, Theoriebildung
  • 6.4. Evolutionäre Änderung
  • 6.5. Disziplinäre Entwicklung
  • 7.Teil: Fazit
  • 8. Anhänge
  • 8.1. Andreas Libavius: Rerum Chymicarum
  • 8.1.1. Liber primus
  • 8.1.2. Liber secundus
  • 8.1.3. Liber tertius
  • 8.2. Johannes Hornung: Cista Medica
  • 8.2.1. Liste der Korrespondenten
  • 8.2.2. Liste der Briefe
  • 8.3. Weitere Briefe von Libavius in Büchern
  • 8.3.1. Alchymia triumphans
  • 8.3.2. Briefe von Penot
  • 8.4. Handschriftliche Briefe Libavius
  • 8.4.1. Bibliothek der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Sammlung Trew, Ms. 1284, 1–159
  • 8.4.2. Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt, Ms. Ff. JH. Beyer. A105–155
  • 8.4.3. Universitätsbibliothek Basel
  • 8.4.4. Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Sup. ep. 40 30, 17r-22r
  • 8.4.5. Sonstige Archive
  • 8.5. Handschriftliche Briefe Du Chesne
  • 8.5.1. Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Sup. ep. 40 30
  • 8.5.2. Chemische Korrespondenz des Landgrafen Moritz, Universitätsbibliothek Kassel, 20 Ms. chem. 19[5
  • 8.5.3. Universitätsbibliothek Basel
  • 8.5.4. Det Kongelige Bibliotek, Kopenhagen, GKS 1792, Chymica Varia und GKS 1776
  • 8.5.5. Bibliothèque nationale de France
  • 8.5.6. Bibliothèque de Genève
  • 8.5.7. Brief von Fabricius Hildanus an Du Chesne
  • 8.6. Joseph Du Chesne, Freunde und Bekannte
  • 8.7. Die Briefe Oswald Crolls
  • 8.7.1. Alchemomedizinische Briefe 1585 bis 1597
  • 8.7.2. Brief aus dem Jahr 1605 im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg, Historisches Archiv.
  • 8.7.3. Briefe aus den Jahren 1607 und 1608 im Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Abteilung Dessau
  • 8.7.4. Weitere Briefe in Büchern
  • 8.8. Oswald Croll: Korrespondenten und Bekannte
  • 8.9. Briefe und Briefpartner Théodore Turquet de Mayernes
  • 8.9.1. British Library, Sloane Add. MS 20921, 3r-82v
  • 8.9.2. British Library, Sloane Add. MS 20921, 83r-92v
  • 8.9.3. Wissenschaftliche Briefe in MS 444 des Royal College of Physicians
  • 8.9.4. Gedruckte Briefe
  • 8.9.5. Théodore Turquet de Mayerne: Freunde und Bekannte in der Wissenschaft
  • 8.10. Versionen der Manuskripte von Madame de Martinville
  • 8.10.1. La demie once de poudre que [vous] me donnâtes en l’an 1589, …..
  • 8.10.2. Encores que toutes choses, qui sont sous le ciel étant composées de 4 éléments, …..
  • 8.10.3. Pratiques
  • 8.10.4. C’est un arrêt que tous les vrais philosophes chimiques en général prennent pour matière et sujet de leurs œuvres le mercure ….
  • 8.10.5. Sonstige
  • 8.10.6. Weitere
  • 8.11. Verzeichnis einiger chemischer Fachwörter
  • 9. Archive
  • 10. Quellen- und Literaturverzeichnis
  • 11. Personenregister

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde an der Universität Bayreuth unter der Betreuung von Frau Prof. Dr. Susanne Lachenicht angefertigt. Sie wurde von Frau Prof. Dr. Lachenicht und Frau Dr. Gisela Boeck, Universität Rostock, begutachtet und am 13. November 2019 von der Promotionskommission der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth ohne Auflagen angenommen. Die Arbeit wurde anschließend unter Berücksichtigung eines Teils der in den Gutachten formulierten Hinweise auf notwendige Erweiterungen und Präzisierungen überarbeitet.

Mein besonderer Dank gilt Frau Prof. Dr. Susanne Lachenicht für die Betreuung der Arbeit, für ihre wertvollen Hinweise zu deren Konzeption und Aufbau sowie für ihre Ratschläge zu treffenden Formulierungen. Auch bei den Mitarbeitern der konsultierten Archive, die fast ausnahmslos freundlich, hilfsbereit und auskunftsfreudig spezielle Anfragen bearbeitet haben, möchte ich mich ganz herzlich bedanken. Mein persönlicher Dank gilt Herrn Studiendirektor i.R. Werner Link und Herrn Archivar i.R. Walter Bartl, beide in Bayreuth, für ihre Unterstützung bei der Transkription und der Übersetzung von lateinischen Briefen in einigen schwierigen Fällen. Und last but not least danke ich Frau Dr. Gisela Boeck, Herrn Prof. Dr. Wolf-Dieter Müller-Jahncke, Herrn Prof. Dr. Christoph Meinel und Herrn Prof. Dr. Jean-Pierre Vittu für die Diskussion spezieller Fragestellungen.

1.Teil: Einleitung

„Die größten Veränderungen in der Geschichte gehen oft auf kaum dokumentierte, informell organisierte Gruppen von Menschen zurück.“1 Mit diesen Worten beschreibt der Historiker Niall Ferguson, der in Stanford und Harvard lehrt, die Bedeutung von Netzwerken, die in der Geschichte oftmals öffentlich gar nicht, oder aber nur in beschränktem Umfang, in Erscheinung traten. In vielen Beispielen trennt er den Einfluss von Hierarchien, die Macht sicherten, von dem lateraler Netzwerke, die demgegenüber Einfluss verschafften. Er beklagt außerdem, dass die Netzwerkforschung in der Geschichtsschreibung bis in unsere Tage eine untergeordnete Rolle gespielt hätte. Besondere Bedeutung haben Netzwerke in der europäischen Geschichte nach seiner Meinung nicht nur für Philosophie und Kulturwissenschaften, sondern insbesondere auch für die Naturwissenschaften.2 Der Soziologe Bruno Latour betont in seinem „sechsten Prinzip“ die Bedeutung von Netzwerken in der Arbeitsweise und für die Entwicklung der Naturwissenschaften: „History of technoscience is in a large part the history of the resources scattered along networks to accelerate the mobility, faithfulness, combination and cohesion of traces that make action at a distance possible.“3 Er belegt seine Aussage mit Beispielen aus dem 20. Jahrhundert. Die Anwendung dieses „Prinzips“ auf die Frühe Neuzeit wirft zwei Fragen auf. Zunächst wird die Verwendung des Begriffs „technoscience“ kontrovers diskutiert. Bensaude-Vincent und Klein verteidigen die Anwendung speziell für die Chemie, da sie viele Parallelen zwischen der Chemie der Frühen Neuzeit und des späten 20. Jahrhunderts auf Grund des Zusammenspiels von Theorie und Praxis, von Wissenschaft und Technologie sehen.4 Homburg betont hingegen, dass die drastische Veränderung der Bedeutung der Begriffe „chemistry“, „industry“, „science“ und „technology“ zwischen 1750 und 1850 den Gebrauch für die Frühe Neuzeit verbiete.5 Zum Zweiten ergibt sich das Problem, ob die Aussage sachlich auf das 20. Jahrhundert beschränkt ist, oder ob Netzwerke auch in der Vergangenheit eine ähnlich wichtige Rolle spielten.

Die Bedeutung von Netzwerken für die Gelehrtenrepublik und viele ihrer einzelnen Wissensgebiete wurde in einer Vielzahl von Publikationen untersucht (Kap. 2.2.). Bisher ist in der Literatur allerdings sehr wenig über die Struktur von Netzwerken in der wissenschaftlichen Gemeinschaft der frühneuzeitlichen Chemiker bekannt. Die Existenz einer „res publica chemica“ innerhalb der frühneuzeitlichen Gelehrtenrepublik wird von Telle angenommen, aber nicht weiter ausgeführt.6 Keller führt Beispiele für die zeitgenössische Verwendung dieses Begriffs an. Sie versteht unter der „res publica chemica“ die Gemeinschaft aller, die etwas mit dem Buchwesen von Schriften über die Chemie zu tun haben: Autoren7, Verleger, Übersetzer, Agenten, Käufer, Leser und Rezensenten.8 Kahn sieht in Joseph Du Chesne (1546–1609), einem der Leibärzte des französischen Königs Heinrich IV. (1553–1610), einen der Ausgangspunkte für eine „res publica chemica“ im 17. Jahrhundert.9 Die angesehene Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte der amerikanischen „History of Science Society“ widmete der frühneuzeitlichen Chemie im Jahr 2014 eine Sonderausgabe unter dem Titel „Chemical Knowledge in the Early Modern World“.10 Damit sollte der aktuelle Forschungsstand zu diesem Thema dargestellt werden. Bezeichnenderweise ist jedoch kein Artikel enthalten, in dem Netzwerkstrukturen eine Rolle spielen. Da dieses Forschungsfeld in der Vergangenheit nahezu unbearbeitet geblieben ist, soll in dieser Arbeit zunächst die Frage geklärt werden, ob sich überhaupt Netzwerkstrukturen11 im Informationsaustausch der frühneuzeitlichen Chemiker um 1600 aufzeigen lassen. Als Quellenmaterial werden dazu ihre Briefe, aber auch andere Schriften herangezogen.12 Es ergeben sich folgende Forschungsfragen: Wer war an den Netzwerken beteiligt? Welche Art von Kontakten fand statt? Wodurch wurden die Verbindungen beeinflusst? Welche geographische Verteilung lässt sich aufzeigen? Welche Rolle spielten sprachliche, politische und religiöse Einflüsse? Was lässt sich über Inhalte aussagen? Daran anschließend sollen die Auswirkungen der aufgefundenen Netzwerke auf die Entwicklung der frühneuzeitlichen Chemie ermittelt werden. Wurde das chemische Wissen in den Netzwerken weiterentwickelt? Lassen sich Aussagen über seine Verfestigung treffen? Welche Erkenntnisse ergeben sich über die Art und den Verlauf der Entwicklung? Welchen Einfluss hatten die Netzwerke auf das Selbstverständnis der Chemiker? Lassen sich Hinweise auf die Entwicklung der Chemie zu einer eigenständigen Disziplin aufzeigen? Zur Beantwortung der Fragen sollen die Detailstrukturen der Netzwerke vor allen Dingen über eine Auswertung des Briefverkehrs, aber auch durch die weiteren Bekanntschaften der betrachteten frühneuzeitlichen Chemiker erfolgen.13

Die Bearbeitung der Korrespondenzen von frühneuzeitlichen Chemikern ist bisher nur in wenigen Fällen erfolgt. Krauße erweitert diesen Befund für die Wissenschaftsgeschichte im Allgemeinen: „Auch für die Wissenschaftsgeschichtsschreibung blieben Briefe lange Zeit von untergeordneter Relevanz und werden erst in jüngster Zeit stärker thematisiert und theoretisch hinterfragt.“14 Häufig beschränken sich neuere Briefeditionen auf „Leuchtturmprojekte“ wie z.B., ohne Anspruch auf Vollständigkeit, auf die Briefe der Astronomen Johannes Kepler (1571–1630)15 sowie Nicolas Claude Fabri de Peiresc (1580–1637),16 auf die Briefe der Mathematiker und Philosophen Marin Mersenne (1588–1648)17 sowie Gottfried Wilhelm Leibnitz (1646–1716),18 auf die Briefsammlungen des „Great Intelligencer of Europe“ Samuel Hartlib (ca. 1600–1662)19 sowie des Sekretärs der Royal Society Henry Oldenburg (1618–1677)20 oder auf die Briefe der Ärzte und Botaniker Carolus Clusius (1526–1609)21 sowie Albrecht von Haller (1708–1777).22 Während die Briefe von Naturwissenschaftlern der letzten zwei Jahrhunderte mittlerweile größere Beachtung fanden, gilt dies nicht uneingeschränkt für die Frühe Neuzeit, auch wenn Briefsammlungen von Medizinern zu allen Zeiten in Büchern veröffentlicht wurden.23 Eine der wenigen frühen Ausnahmen ist die Bearbeitung der Briefe des „Lausitzer Alchemisten“ Georg Goer (Lebensdaten unbekannt) an einen nicht weiter ermittelten Adressaten.24 Aus neuerer Zeit stammen z.B. die Edition einiger Briefe von Johann Crato von Krafftheim (1519–1585)25 oder die Bearbeitung der Briefe von Joachim Camerarius I d.Ä. (1500–1574).26 Klein hat in seiner Dissertation die gedruckten Briefe27 von Daniel Sennert (1572–1637)28 bearbeitet und darüber in einem Beitrag zu einem Sammelband berichtet.29 Der Briefwechsel fand überwiegend mit einem einzigen Adressaten statt, dem Arzt und Professor Michael Döring (????–1644), seinem Schwager.30 In ihrer Dissertation hat sich Bartkowski ausführlich mit der „alchemistischen Praxis“ des sächsischen Kurfürstenpaares August von Sachsen (1473–1541) und seiner Frau Anna von Dänemark (1532–1585) beschäftigt. Anhand der Quellen, hauptsächlich in der Sächsischen Landesbibliothek und im Sächsischen Hauptstaatsarchiv in Dresden, beschreibt sie sowohl die wissenschaftliche Seite der chemischen Versuche im Labor wie auch den umfangreichen Briefwechsel des Fürstenpaares. Dabei hat sie die Kontakte zu anderen Fürstenhöfen, aber auch zu vielen, meist betrügerischen, Goldmachern, sowie zu mehreren Iatrochemikern untersucht.31 Grosser hat in ihrer Dissertation den Briefwechsel zwischen den Ärzten Peter Christian Wagner (1703–1764) und Christoph Jacob Trew (1695–1769) nicht nur editiert, sondern ihn in Hinsicht auf seine Funktion, sowie sachlich, ausgewertet. Sie bezeichnet ihn als „Unterbau“ frühneuzeitlicher Gelehrtennetze.32 Briefsammlungen über chemische Inhalte sind aus der Frühen Neuzeit nur vereinzelt überliefert. Die bekannteste Ausnahme ist dabei wohl die dreibändige Ausgabe der „Rerum chymicarum epistolica forma ad philosophos et medicos quosdam in Germania excellentes descriptarum“ von Andreas Libavius (nach 1555–1616).33 Neuere Briefeditionen auf dem Gebiet der frühneuzeitlichen Chemie sind nur in wenigen Fällen erfolgt. Ausnahmen sind die „Alchemomedizinischen Briefe 1585 bis 1597“ von Oswald Croll (ca. 1560–1608), herausgegeben von Kühlmann und Telle,34 sowie der umfangreiche dreiteilige Sammelband der gleichen Autoren. In diesem sind 170 Briefe über die Chemie aus der Zeit von 1550–1612 enthalten.35 Mit der detailreichen Edition der Briefe verbunden sind viele ausführliche Biographien. Allerdings sind die Briefe unter literarischen und kulturgeschichtlichen Gesichtspunkten bearbeitet worden und nicht, um sachliche Veränderungen in der Chemie aufzuzeigen oder Netzwerkstrukturen sichtbar zu machen. Außerdem ist das Konzept für die Auswahl der Briefe schwer erkennbar. Dieser doch recht spärliche Bearbeitungsstand ist umso erstaunlicher, als in den Gelehrtenbriefen das „wissenschaftliches Hauptmedium im 17. Jahrhundert“36 gesehen wird. Relativ wenige der in großer Zahl in Archiven, Bibliotheken, akademischen oder privaten Einrichtungen und Museen zerstreut vorliegenden Wissenschaftlerkorrespondenzen sind bisher vollständig erfasst und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. Die Suche nach überlieferten handschriftlichen Briefen einzelner frühneuzeitlicher Chemiker gestaltete sich für diese Arbeit recht schwierig. Eine Suche in bekannten online-Datenbanken wie „Early Modern Letters Online“, „Cultures of Knowledge“, „Electronic Enlightenment“ oder „Mapping the Republic of Letters“37 brachte nur ein unvollständiges Ergebnis. Die oft mühevolle und auch durch Zufälle geprägte Suche erstreckte sich anhand der elektronischen und gedruckten Kataloge, in Einzelfällen durch eine direkte Kontaktaufnahme, über eine Vielzahl von Archiven, in denen Briefe und weitere Schriftstücke aufgefunden oder vermutet wurden (Kap. 9). Dabei ging es zunächst darum, den beteiligten Personenkreis zu ermitteln. Zur sachlichen Auswertung wurde auf unterschiedliche Art und Weise an die aufgeführten Archive herangetreten.38 Es ist möglich und sogar wahrscheinlich, dass weitere Briefe vorhanden sind und bisher noch nicht aufgefunden wurden. Des Weiteren ist zu beachten, dass Briefe aus dem Zusammenhang gerissen, neu angeordnet oder fehlerhaft übersetzt sein können. Und letztendlich muss die unvollständige Überlieferungslage bei der Auswertung in Betracht gezogen werden, die oft sehr einseitig die Briefe eines Korrespondenten überbetont.39

Aus praktischen Gründen musste die Vielzahl der Briefkontakte zwischen den Chemikern der Frühen Neuzeit bei ihrer Erfassung und Beschreibung gegliedert und eingeschränkt werden. Es hat sich als nützliche Vorgehensweise erwiesen, von den Kontakten einer zentralen Person in ihrem egozentrierten40 Netzwerk auszugehen.41 Hierbei werden die Austauschprozesse einer Zentralperson zu einer Mehrzahl von Korrespondenten betrachtet: „Unter einem egozentrierten Netzwerk versteht man die Beziehungen einer fokalen Person (Ego) zu anderen Personen (Alteri), mit denen sie in einem direkten Kontakt steht. Statt von einem egozentrierten Netzwerk wird manchmal auch von einem persönlichen Netzwerk gesprochen.“42 Anschließend kann versucht werden, außer den direkten Verbindungen auch noch diejenigen der anderen Personen untereinander mit einzubeziehen.43 In einer aus Umfragen entstandenen Netzwerkanalyse lässt sich dies sicherlich leicht durchführen. Die Lückenhaftigkeit der Überlieferung von Briefmaterial aus der Frühen Neuzeit schränkt eine derartige Weiterführung der Auswertung jedoch stark ein. Die egozentrierten Netzwerke bieten aber einen ersten Ansatz zur Rekonstruktion von übergreifenden Netzwerkstrukturen in der wissenschaftlichen Gemeinschaft der frühneuzeitlichen Chemiker (Kap. 5). In einem Folgeschritt kann untersucht werden, welche Stellung die „res publica chemica“ in der allgemeinen „res publica litteraria“ einnahm, und wie sie mit ihr verbunden war. Einige Grundlagen über die gemeinschaftliche Entwicklung von Wissen und verwendete soziologische Auswertungen werden im Folgenden kurz dargestellt. Sie werden mit einer kurzen Einführung in Organisation, Verhaltensprinzipien und Struktur der Gelehrtenrepublik verbunden (Kap. 2). Dabei liegt das Hauptgewicht in dieser Arbeit auf den Netzwerkstrukturen der Chemiker, über die Gelehrtenrepublik ist vielfach und ausführlich publiziert worden.44

Natürlich konnten auch nicht die Briefkontakte aller Chemiker der Frühen Neuzeit mit einbezogen werden, eine konkrete Auswahl musste getroffen werden. Hierzu wurden etwa zwanzig bekannte Chemiker, die zwischen 1546 und 1715 lebten, in Betracht gezogen. Als Auswahlkriterien dienten folgende Überlegungen:

Details

Seiten
440
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631830192
ISBN (ePUB)
9783631830208
ISBN (MOBI)
9783631830215
ISBN (Hardcover)
9783631830130
DOI
10.3726/b17319
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (August)
Schlagworte
Chemiegeschichte Wissenschaftsentwicklung Gelehrtenrepublik Netzwerkanalyse Actor-network-theory Erkenntnistheorie
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 440 S., 9 farb. Abb., 6 s/w Abb., 30 Tab.

Biographische Angaben

Jürgen Hollweg (Autor:in)

Nach dem Abitur studierte Jürgen Hollweg an der Universität Bonn Chemie und schloss an der Universität Bochum mit der Promotion auf dem Gebiet der Stereochemie ab. Anschließend arbeitete er bei einem multinationalen Unternehmen der Konsumgüterindustrie in verschiedenen Funktionen in der chemischen Analytik und der Qualitätssicherung. Nach der Pensionierung erwarb er in einem erneuten Studium den Mastergrad im Fach Wissenschaftsgeschichte an der Universität Regensburg. Daran schloss sich die Promotion an der Universität Bayreuth mit einer Arbeit zur Chemiegeschichte in der Frühen Neuzeit an.

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Titel: Mythos Alchemie
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