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Ausgestaltung und Verzicht erbrechtlicher Teilhabe - Die Rechte Angehöriger zwischen gesetzlichen Vorgaben, Autonomie und richterlicher Entscheidungsgewalt

Eine rechtsvergleichende Studie zum deutschen und englischen Recht

von Hannah Roggendorf (Autor:in)
©2021 Dissertation 214 Seiten

Zusammenfassung

Das deutsche Recht sieht mit dem Pflichtteil eine bedarfsunabhängige Mindestbeteiligung am Erbe für Kinder, Ehepartner und Eltern vor. Im Gegensatz dazu gewährt des englische Recht Hinterbliebenen ermessensabhängige Ansprüche (family provision), die sich insbesondere nach der Bedürftigkeit richten. Die gesetzlichen Vorgaben beider Länder können jedoch jeweils nur allgemein die Interessen einzelner Familienangehöriger gegeneinander abwägen. In vielen Fällen ist daher eine vertragliche Ausgestaltung gewünscht. Gleichzeitig stellt sich bei Verträgen im familiären Kontext auch die Frage, wie eine in einer Nähebeziehung entstehende Verhandlungsdisparität rechtlich zu bewerten ist. Für Eheverträge hat die deutsche Rechtsprechung eine richterliche Inhalts- und Ausübungskontrolle im Rahmen der §§ 138 und 242 BGB entwickelt. Es wird nun diskutiert, ob dies auch auf den Pflichtteilsverzicht übertragbar ist.

Inhaltsverzeichnis


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Einleitung

1 Erbrechtliche Teilhabe –​ Eine Einführung

Der Grundsatz, dass zumindest ein Teil des Vermögens im Erbfall auf die Verwandten übergeht, hat in Deutschland eine lange Tradition. In Anknüpfung an diese Rechtspraxis wurde schließlich auch das moderne Pflichtteilsrecht in das BGB aufgenommen.1 Es hat sich in dieser Grundstruktur bis heute erhalten.2

Dem gegenüber steht die Testierfreiheit des Erblassers. Sie ist die erbrechtliche Ausprägung der lebzeitigen Verfügungsbefugnis über das eigene Vermögen.3 Entscheidend ist zunächst, dass ein Erblasser seine Angehörigen mittels Testament vollständig enterben darf. Der Pflichtteil ändert die durch den Erblasser vorgegebene Erbeinsetzung nicht, und der Pflichtteilsberechtigte erhält nur einen Ausgleichsanspruch gegen die Erben (vgl. 2303 BGB).

Im Gegensatz zu Deutschland wird England als eine Rechtsordnung zitiert, in der die Testierfreiheit das wesentliche Gebot des Erbrechts ist, das zeitweise sogar ohne Einschränkungen galt.4 In einer Gesamtbetrachtung, die auch funktionale Äquivalente in den Blick nimmt, lässt sich jedoch feststellen, dass auch in England der Schutz familiärer Teilhabe am Nachlass eine wesentliche Rolle spielt. Teilweise wurde dies nicht mit erbrechtlichen Mitteln, sondern durch trusts umgesetzt.5 Mit Inkrafttreten des Inheritance (Family Provision) Act 1938 wurde für erbrechtliche Teilhaberechte naher Angehöriger auch wieder eine eigenständige gesetzliche Grundlage geschaffen. In der weiteren Rechtsentwicklung wurden diese Regelungen dann sukzessive ausgedehnt.6 Die heutige Regelung findet sich im Inheritance (Provision for Family and Dependants) Act 1975. Kernbestandteil ist seit Einführung der Regelungen ein Antragsrecht auf Beteiligung am Nachlass (family provision) für Ehe-​ und Lebenspartner (ss (1) (a) ←16 | 17→und (b) I (PFD) Act 1975) und Kinder (s 1 (1) (c) I (PFD) Act 1975). Im Zuge der weiteren Reformen wurden allerdings auch Antragsrechte für nichteheliche Lebenspartner (s 1 (1) (ba) I (PFD) Act 1975), Stief-​ und Pflegekinder (s 1 (1) (d) I (PFD) Act 1975) und andere Personen, die vom Erblasser unterhalten wurden (s 1 (1) (d) I (PFD) Act 1975), eingeführt.

Familiäre Teilhaberechte und Testierfreiheit sind damit zwei Prinzipien des Erbrechts, die in der deutschen und der englischen Rechtsordnung nebeneinander stehen. Gleichzeitig schützen sie miteinander konkurrierende Interessen. Der Pflichtteil und family provision verwirklichen eine Beteiligung naher Angehöriger am Nachlass auch gegen den Willen des Erblassers, während die Testierfreiheit grade der Verwirklichung des Erblasserwillens dient. Dabei entsteht eine gewisse Dualität, die dazu führt, dass keiner der Grundsätze absolut verwirklicht werden kann. Vielmehr geht es um einen Ausgleich zwischen den Interessen des Erblassers, frei über sein Vermögen verfügen zu können, und den Interessen der Angehörigen, am Nachlass beteiligt zu werden. Das Ergebnis ist eine Koexistenz beider Prinzipien, wobei der Erblasser im Wesentlichen frei in seiner Entscheidung bleibt, enterbten Angehörigen aber unter bestimmten Voraussetzungen ein Anspruch gegen den Erben oder den Nachlass zusteht.

2 Problemstellung

Bei der Ausgestaltung der erbrechtlichen Vermögensnachfolge kommt es in der Praxis zu einer Überlagerung vielschichtiger sozialer und wirtschaftlicher Interessen. Die Erbenstellung wird von vielen als Fortsetzung der zuvor gelebten Familienbeziehung empfunden, sodass eine Beteiligung am Nachlass eine über den wirtschaftlichen Wert hinausreichende emotionale und soziale Bedeutung hat.7 Vererben ist damit Transfer materieller Güter und Ausdruck sozialer Verbindung in einem. Doch gerade bei größeren Vermögen gibt es auch sehr klare wirtschaftliche Interessen. Beispielsweise wenn ein Unternehmen Gegenstand der Erbmasse ist, mag es geboten scheinen, das Vermögen des Erblassers als wirtschaftliche Einheit zu erhalten. Ansprüche von Familienangehörigen könnten zum falschen Zeitpunkt eine ungewollte Zersplitterung herbeiführen oder zumindest erhebliche Liquiditätsengpässe verursachen.8

Die durch das Erbrecht vorgegebene Dualität zwischen familiärer Teilhabe und Testierfreiheit erscheint im Vergleich stark vereinfacht, und spiegelt die tatsächliche Komplexität der unterschiedlichen Interessen nur im Ansatz wider. ←17 | 18→Der Erblasser kann zwar grundsätzlich mittels Testament zunächst eine individuelle, für seine Situation passende Erbfolge festlegen. Dies findet jedoch seine Grenze im Pflichtteilsrecht. Der als einfache Quote ausgestaltete Pflichtteil ist im Einzelfall rigide und unflexibel. Soll auch der Pflichtteil angepasst werden, so bleibt nur ein Verzichtsvertrag mit dem Pflichtteilsberechtigten.

Doch auch Möglichkeiten einer privatautonomen Ausgestaltung sind nicht ohne Risiko. Es lassen sich verschiedene Beispiele anführen, in denen eine vertragliche Vereinbarung dazu genutzt wird, um die Interessen einer Partei zu Lasten der anderen einseitig durchzusetzen. Beispielsweise werden Eheverträge oder Angehörigenbürgschaften einer gerichtlichen Inhaltskontrolle nach § 138 BGB unterzogen, um zu verhindern, dass es zu einer einseitigen Benachteiligung kommt.9

Darüber hinaus wird durch eine Betonung der privatautonomen Gestaltungsmöglichkeiten die Problematik einer interessengerechten Vermögensnachfolge vor allem verlagert. Es obliegt nunmehr den Beteiligten selbst tätig zu werden und ihre Interessen wahrzunehmen.10 Fast im Kontrast dazu steht die Beobachtung, dass nur ein kleiner Bruchteil der Bevölkerung auch tatsächlich ein Testament gemacht oder einen Erbvertrag geschlossen hat.11

Erbrechtliche Regelungen, die hinsichtlich einer interessengerechten Ausgestaltung der Vermögensnachfolge überwiegend auf eine Eigeninitiative der Beteiligten setzen, ignorieren damit die Lebensrealität der Betroffen. Daraus ergibt sich die grundlegende Frage, inwieweit die erbrechtlichen Vorgaben zur familiären Vermögensteilhabe die sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Interessen der Beteiligten berücksichtigen.

2.1 Gesellschaftlicher Wandel des Familienbilds

Ein wesentliches, vorgelagertes Problem ist zunächst die Überlegung, wessen Interessen im Rahmen der erbrechtlichen Vermögensnachfolge relevant sind. Ein primärer Ansatz im deutschen Erbrecht ist, neben der Autonomie des Erblassers vor allem die Position der Familie zu schützen und zu stärken. Doch grade ←18 | 19→das gesellschaftliche Familienbild ist einem enormen Wandel unterworfen. Eine Ursache sind hier zunächst demographische Veränderungen.12 Ein weiterer Faktor ist jedoch auch die zunehmende Pluralität gesellschaftlicher Werte und die daraus resultierende Akzeptanz unterschiedlicher Familienformen.13

Die hohe soziale Relevanz des Erbrechts führt schließlich dazu, dass eine Konformität zwischen erbrechtlicher Teilhabe und tatsächlich gelebter Familienbeziehung gefordert wird. Gerade nichtformalisierten Familienformen, wie der nichtehelichen Lebensgemeinschaft, wird oft eine gesetzliche Rechtsstellung verwehrt und auf die Regelungsmöglichkeiten der gewillkürten Erbfolge verwiesen.14 Eine darüber hinausgehende Berücksichtigung ‚sozialer‘ Familienmitglieder wird vor allem in Hinblick auf die Rechtsklarheit und Rechtssicherheit der erbrechtlichen Regelungen abgelehnt, da diese nicht ausreichend rechtlich umschreibbar seien.15 Hinzu kommt, dass die statusrechtliche Familie auch im Erbrecht unter dem besonderen Schutz der Verfassung steht.16

Neue Familienkonzepte fanden im Erbrecht vor allem dann Berücksichtigung, wenn diese zu einer rechtlichen Beziehung erstarkten. Zu denken ist hier sowohl an die rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebenspartner17 beziehungsweise seit 2017 gleichgeschlechtlicher Ehepartner18 als auch an die erbrechtliche Berücksichtigung nichtehelicher Kinder19.

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2.2 Zulässigkeit und Überprüfbarkeit privatautonomer Entscheidungen

Um die Interessen der Familienangehörigen im Erbfall besser zu berücksichtigen, wird in der Literatur eine Verstärkung des Schutzes für pflichtteilsberechtigte Familienmitglieder gefordert. Es wird kritisiert, dass der Ausgleich zwischen den Wünschen des Erblassers und dem Pflichtteilsberechtigten auch im Rahmen einer vertraglichen Vereinbarung tendenziell zulasten des Pflichtteilsberechtigten getroffen wird.

In der jüngsten Rechtsprechung lässt sich ein sehr offensichtliches Beispiel für einen Pflichtteilsverzichtsvertrag finden, der die Interessen des Pflichtteilsberechtigten auf unzulässige Weise beeinträchtigt: Gegenstand der Entscheidung des OLG Hamm vom 8. November 201620 war ein Pflichtteilsverzicht zwischen einem Vater und seinem aus erster Ehe stammenden Sohn. Der Sohn lebte im Wesentlichen bei seiner Mutter. Der Vater hatte eine langjährige Lebensgefährtin und eine weitere Tochter aus dieser Beziehung. Der Sohn verließ die Schule ohne das zunächst angestrebte Fachabitur und begann eine Ausbildung in dem Unternehmen des Vaters. Nach seinem 18. Geburtstag trat dieser an seinen Sohn heran, um einen Erb-​ und Pflichtteilsverzicht zu vereinbaren. Als Gegenleistung wurde ein Sportwagen unter der Bedingung versprochen, dass der Sohn das 25. Lebensjahr erreicht und die Gesellenprüfung sowie im Anschluss daran die Meisterprüfung mit der Note 1 besteht. Etwas später brach der Sohn die Ausbildung in dem Unternehmen seines Vaters ab und setzte seine Schulausbildung fort. Er versuchte, auf dem Klageweg geltend zu machen, dass sein Pflichtteilsverzicht nichtig sei.

Im Vorfeld der Entscheidung hatte sich die juristische Literatur vermehrt mit dem Pflichtteilsverzicht auseinandergesetzt.21 Oft wird ein solcher Pflichtteilsverzicht zwischen Eltern und Kindern zu einem Zeitpunkt geschlossen, zu dem der Verzichtende noch von seinen Eltern ökonomisch und psychisch abhängig ist.22

Ausgangspunkt der Überlegung ist dabei regelmäßig, dass der mündige Bürger seine Verhältnisse privatautonom nach seinen Vorstellungen regelt.23 Von ←20 | 21→dieser Gestaltungsfreiheit werden auch einige speziell familiäre Angelegenheiten erfasst: In der Ehe steht es den Partnern frei, den Güterstand zu wählen (§ 1408 BGB) und Unterhaltsvereinbarungen (§ 1585c BGB) zu treffen. Im Erbrecht gibt es den Erbvertrag, den Erb-​ und den Pflichtteilsverzicht (§ 2346 Abs. 1 und 2 BGB). Es hat sich jedoch zunehmend das Bewusstsein entwickelt, dass Privatautonomie im Rahmen der Familie einen anderen Stellenwert einnimmt als unter Fremden. So hat sich zunächst bei Bürgschaftsverträgen zugunsten naher Angehöriger eine richterliche Vertragskontrolle im Rahmen des § 138 BGB herausgebildet.24 Auch für Eheverträge haben BVerfG und BGH mit der Kernbereichslehre ein System aus gerichtlicher Inhalts-​ und Ausübungskontrolle entwickelt.25 Während der Zugewinnausgleich, der Ehegattenunterhalt und Unterhalt wegen Erwerbslosigkeit, Ausbildung und zur Aufstockung weitgehend zur Disposition stehen, können Unterhaltstatbestände wegen Alters oder Kinderbetreuung und der Versorgungsausgleich nicht ausgeschlossen werden, sofern dadurch eine einseitige Benachteiligung eines der Ehepartner entsteht.26 Bei der Beurteilung wird auch auf eine emotionale Zwangssituation abgestellt (etwa eine bestehende Schwangerschaft bei Vertragsschluss), welche die Entscheidungsfindung eines Vertragspartners beeinträchtigt.27

In der Literatur werden verschiedene Lösungswege erwogen, um auch den Pflichtteilsverzicht mit einer gerichtlichen Inhaltskontrolle zu untermauern. Eine mittlerweile schon mehrfach untersuchte Frage ist zunächst, ob sich die Grundsätze der Inhaltskontrolle für Eheverträge direkt auf den Pflichtteilsverzicht übertragen lassen.28 Andere Überlegungen zielen darauf, den Pflichtteilsverzicht anhand grundlegender Rechtsprinzipien, die auf die Sondersituation eines Vertragsschlusses im Familienrecht eingehen sollen, einer Überprüfung zu unterziehen.29 Darüber hinaus wird vorgeschlagen, im Rahmen einer Gesetzesänderung, beispielsweise durch die Einführung von nachträglichen Lösungsrechten, die formalen Anforderungen für Pflichtteilsverzichtsverträge ←21 | 22→zu erhöhen, um dem Verzichtenden die Möglichkeit zu geben, sich eine unabhängige Meinung zum Vertrag zu bilden.30 In der Rechtsprechung finden sich nur einzelne Urteile, die sich mit der Wirksamkeit eines Pflichtteilsverzichtes auseinandersetzen.31 Das OLG Hamm hat zuletzt klargestellt, dass in dem zuvor dargestellten Fall eine Nichtigkeit nach § 138 BGB vorliegt.32 Ein verfestigtes Konzept dazu, wie generell mit Pflichtteilsverzichtsverträgen zu verfahren ist, gibt es in der Rechtsprechung allerdings nicht.

3 Rechtsvergleichende Bezüge

Auf der Suche nach Lösungsansätzen wird in einigen Fällen auf das englische Recht verwiesen, das aufgrund der grundsätzlich anderen Struktur für die aufgeworfenen Fragen andere Lösungen findet.33 Zunächst haben die Vorschriften zur erbrechtlichen Teilhabe im Inheritance (Provision for Family and Dependants) Act 1975 einen sehr hohen Flexibilisierungsgrad erreicht und berücksichtigen auch nicht formalisierte Beziehungen des Erblassers (vgl. s 1 (1) (ba), (d) und (e)). Hinzu kommt, dass family provisions in der gesetzlichen Ausgestaltung grundsätzlich auf eine Unterhaltsbedürftigkeit des Antragstellers ausgerichtet sind. Der Unterhaltsbezug ermöglicht bei einem Aufeinandertreffen gegenläufiger Interessen einen Interessensausgleich durch richterliche Ermessensentscheidung.

Doch auch zur Vertragskontrolle werden im englischen Recht Lösungsalternativen gesucht.34 Die Diskussion um familiäre Verträge im englischen Recht befasst sich in erster Linie mit dem Ehevertrag. Lange wurden solche Verträge als dem Wesen der Ehe entgegenstehend und somit als sittenwidrig erachtet.35 Erst kürzlich wurde mit Radmacher v Granatino nun die grundsätzliche ←22 | 23→Berücksichtigung von Eheverträgen anerkannt.36 Trotzdem haben die Familiengerichte sich weitreichende Kontrollmöglichkeiten vorbehalten.37 In Bezug auf family provision sind die vertraglichen Gestaltungsmöglichkeiten noch wesentlich stärker eingeschränkt.38

Doch auch das allgemeine Vertragsrecht in England kennt Besonderheiten für Verträge im familiären Umfeld. Im familiären Umfeld muss für eine Vertragsbindung der Rechtsbindungswille der Parteien gesondert nachgewiesen werden.39 Darüber hinaus können Verträge, die aufgrund von Einflussnahme zustande gekommen sind, auf Grund von undue influence für nichtig erklärt werden.40 Hier rückt insbesondere die Beziehung zwischen den Vertragsparteien in den Mittelpunkt.41

4 Gang der Untersuchung

4.1 Ziel der Untersuchung

Die bisher entwickelten Lösungsansätze haben gemeinsam, dass immer nur ein Teilaspekt der Problematik behandelt wird. Grade im Fall der erbrechtlichen Teilhabe ist jedoch eine Lösung gefragt, die die Einzelaspekte insgesamt zum Ausgleich bringt. Es ist nicht auszuschließen, dass eine besondere Schutzbedürftigkeit des Pflichtteilsberechtigten mit dem Interesse des Erblassers, auf eine komplexe Familiensituation zu reagieren, zusammenfällt.42 Nimmt man nur eines der beiden Problemfelder in den Blick, besteht die Gefahr einer einseitigen Lösung. Die folgende Arbeit soll in einer umfassenden Darstellung die Teilaspekte der Problemstellung systematisieren und in einer Gesamtdarstellung ein Lösungskonzept erarbeiten. Wesentlicher Bestandteil der Arbeit ist dabei die ←23 | 24→Kontextualisierung einzelner Rechtsinstitute sowohl im nationalen Rahmen als auch in der rechtsvergleichenden Betrachtung.

Ziel ist die Entwicklung eines systematischen Verständnisses der erbrechtlichen Teilhabe und ihrer Ausgestaltung durch gesetzliche Vorgaben, privatautonomes Handeln und richterliche Entscheidung. Gegenstand der Untersuchung sind dabei in erster Linie Formen zwingender Nachlassteilhabe, der Pflichtteil (Teil A: I.3) im deutschen Recht und family provision im englischen Recht (Teil B: II), die durch Ausführungen zum gesetzlichen Erbrecht ergänzt werden (Teil A: I.2; Teil B: I.4). Ein besonderer Untersuchungsschwerpunkt liegt dann auf der privatautonomen Ausgestaltung der erbrechtlichen Teilhabe zu Lebzeiten des Erblassers (Teil A: V und VI; Teil B: III). Nicht Gegenstand der Untersuchung sind Änderungen und Anpassungen der erbrechtlichen Teilhabe, die nach dem Erbfall privatautonom durch die Beteiligten vereinbart werden.43

4.2 Aufbau der Arbeit

Ausgangspunkt ist hierbei in Teil A der Arbeit eine Analyse des deutschen Rechts, beginnend mit der Darstellung der Testierfreiheit, des gesetzlichen Erbrechts der Familie und des Pflichtteilsrechts als wesentliche Grundsätze des deutschen Erbrechts (Teil A: 1). Das zweite Kapitel befasst sich dann mit bestehenden Möglichkeiten, die Pflichtteilslast durch einseitige Maßnahmen des Erblassers oder durch Vertrag zu reduzieren (Teil A: 2). Die Herausforderungen, die sich für das Pflichtteilsrecht durch eine Fortentwicklung des Familienbildes ergeben, werden im dritten Kapitel erörtert (Teil A: 3). Im vierten Kapitel soll am Beispiel der Unternehmensnachfolge noch einmal die unterschiedliche Interessenlage im Erbgang erörtert werden (Teil A: 4). Das fünfte Kapitel analysiert die Grenzen, die einer erbrechtlichen Gestaltung zulasten der Familie gesetzt sind (Teil A: 5). Hier wird zunächst auf das grundsätzliche Konzept der Privatautonomie im deutschen Recht eingegangen (Teil A: 5.1) und daran anknüpfend der Gestaltungsspielraum des Erblassers im Rahmen der testamentarischen (Teil A: 5.2) und vertraglichen Gestaltungsmöglichkeit (Teil A: 5.3) untersucht. Das sechste Kapitel dient der Auseinandersetzung mit der Möglichkeit, eine systematische Inhaltskontrolle für Pflichtteilsverzichtsverträge zu entwickeln (Teil A: 6). Ausgangspunkt sind hier verschiedene in der rechtswissenschaftlichen Literatur erörterte Ansätze, insbesondere eine Übertragung der Kernbereichslehre (Teil A: 6.2) und die Entwicklung einer generellen Kontrolle statusbezogener ←24 | 25→Verträge (Teil A: 6.3). Weitere Aspekte der Analyse sind der Schutzauftrag des Staates zugunsten der Familie (Teil A: 6.4) sowie die wirtschaftliche und soziale Überforderung, die der Abschluss eines Pflichtteilsverzichtes im Einzelfall darstellt (Teil A: 6.5).

In Teil B der Arbeit soll schließlich das englische Recht analysiert werden, auch hier im ersten Kapitel ausgehend von den Prinzipien der Testierfreiheit und der gesetzlichen Erbfolge (Teil B: 2). Ergänzend wird auf Rechtsinstitute aus anderen Rechtsgebieten eingegangen, die wesentliche erbrechtliche Funktionen übernommen haben oder übernehmen (Teil B: 1.2 und 3). Im zweiten Kapitel soll dann die Einschränkung der Testierfreiheit durch die family provision sowohl in der historischen Entwicklung als auch in der derzeitigen Ausgestaltung dargestellt werden (Teil B: 2). Im dritten Kapitel wird untersucht, inwieweit die familiäre und soziale Verpflichtung des Erblassers eine Grenze der Privatautonomie in England sein kann (Teil B: 3). Dabei wird auch auf Konzepte konsensualer Gestaltung im familiären Umfeld, insbesondere durch vertragliche Vereinbarungen, eingegangen.

Die Analyse der beiden Rechtsgebiete soll in Teil C zusammengeführt und ausgewertet werden und die im Gesamtverlauf der Arbeit entwickelten Ergebnisse sollen abschließend in Thesen zusammengefasst werden.


1 Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich -​ Band V -​ Erbrecht, 1888, S. 382.

2 Vgl. Röthel, in: Anderson/​Arroyo i Amayuelas (Hrsg.), The law of succession: testamentary freedom, 2011, S. 157, 163.

Details

Seiten
214
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631852668
ISBN (ePUB)
9783631852675
ISBN (MOBI)
9783631852682
ISBN (Paperback)
9783631840429
DOI
10.3726/b18309
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Juni)
Schlagworte
Pflichtteilsrecht Vertragskontrolle Family provision Sittenwidrigkeit Privatautonomie Testierfreiheit
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 214 S.

Biographische Angaben

Hannah Roggendorf (Autor:in)

Hannah Roggendorf studierte Rechtswissenschaften an der Universität Passau und der University of London – International Programmes. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Internationales und Europäisches Privatrecht sowie Rechtsvergleichung an der Philipps-Universität Marburg, wo auch ihre Promotion erfolgte.

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