Lade Inhalt...

Arbeit am Geist der Zeit: Journalisten, Schriftsteller, Professoren

Zur geistigen Physiognomie Deutschlands zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik

von Jens Flemming (Autor:in)
©2021 Monographie 514 Seiten

Zusammenfassung

Im Mittelpunkt dieses Buches stehen Schriftsteller, Journalisten und Professoren, deren Prägungen, Denk- und Wirkungsräume. Portraitiert werden außerdem einige der Medien, die sie zur Verbreitung ihrer Einsichten, Visionen und Überzeugungen benutzen. Sichtbar werden Gruppenbildungen, Netzwerke, Abhängigkeiten und spezifische Milieus. Berichtet wird über die Ansprüche von Intellektuellen, über die Weltbilder, die sie entwerfen und unter die Leute bringen, über Konflikte, die sie anstoßen und ausfechten, über Täler und Höhen, die sie durchwandern. Dies entfaltet sich in drei großen Kapiteln, die den Blick auf das Mit- und Gegeneinander von Generationen lenken, auf Zeitschriften unterschiedlicher Couleur sowie auf Biographien ausgewählter, im kulturellen und politischen Feld bedeutsamer Intellektueller.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Zusammenfassung
  • Résumé
  • Abstract
  • Inhalt
  • Vorwort
  • I. Generationen: Selbstwahrnehmung und Konflikte
  • „Wir stehen am Morgen einer kerngesunden Zeit“. Die Moderne und die Jugend in der Epoche um 1900
  • Junge Front. Generationelle, politische und kulturelle Profile der Zeitschrift „Die Tat“
  • Schädlinge, Krieg und Anderswerden: Levisite (1925) und Abschied (1940) von Johannes R. Becher
  • Sterben und gesellschaftliche Reform. Theodor Fontane und „Der Stechlin“
  • II. Diskursmaschinen: Zeitschriften von links bis rechts
  • „Gegen die intellektualistische Zersetzung der alten moralischen Werte“. Die Süddeutschen Monatshefte zwischen Krieg und Nationalsozialismus
  • Plattform für protestantischen Tatsachen- und Wirklichkeitssinn: Die „Evangelische Freiheit“ 1907–1920. Otto Baumgarten, die praktische Theologie, der Krieg und die Demokratie
  • Neumarxismus, Krieg und Nonkonformismus. Die Zeitschrift „Die Glocke“ als Sprachrohr der rechten Sozialdemokratie, 1915–1919
  • „Vollprozentige Katholiken und Deutsche!“ Max Buchner, die Gelben Hefte und der Rechtskatholizismus zwischen Demokratie und Diktatur
  • „Neues Bauen am gegebenen Ort“. Die Gegenwart als Wartesaal für die Wiedergründung der Frankfurter Zeitung
  • Ordnungs- und europapolitische Suchbewegungen im Angesicht der Katastrophe. Eugen Kogon, Walter Dirks und die Anfangsjahre der Frankfurter Hefte
  • III. Geistige Arbeiter: neun Portraits
  • „Wir wollen mitschmieden an den Feuern unserer Zeit“. Friedrich Wolf: Arzt, Schriftsteller, Kommunist
  • Untergang und Erlösung. Beiträge des Zionisten und Sozialhygienikers Felix A. Theilhaber zur „Judenfrage“
  • Arnold Zweig: Krieg, Demokratie, Zionismus
  • Polemik, Kolportage und verlorene Zukunft. Arnolt Bronnen, der Nationalsozialismus und der Weimarer Rundfunk
  • Lebensgeschichte, Zeitdiagnose und nationalrevolutionäre Phantasien. Versuch über Ernst von Salomon
  • Junkertum und Nationalsozialismus Rudolf Olden über Hindenburg, Hitler und die deutsche Geschichte
  • „Über seine politische Zuverlässigkeit besteht kein Zweifel“. Hans Brandt: Jurist an der Universität Kiel und Kriegsgefangener in Jugoslawien
  • „Zeitalter der inneren Fremdherrschaft“. Friedrich Meinecke und die „deutsche Katastrophe“
  • Philosophische Betrachtungen vor und nach der NS-Diktatur. Karl Jaspers, die „geistige Situation der Zeit“ und die „Schuldfrage“
  • Nachweis der Druckorte
  • Register
  • Reihenübersicht

←14 | 15→

Vorwort

Dieses Buch ist eine Sammlung von Aufsätzen, die ich im Laufe der vergangenen zehn, zwölf Jahre publiziert habe. Sie sind Ausweis weitläufiger kulturhistorischer Interessen, weniger der Theorie als der Empirie verhaftet. Der rote Faden, der sie verbindet, sind die porträtierten Multiplikatoren von Nachrichten, Kommentaren und Analysen. Deren Prägungen, Denk- und Wirkungsräumen gilt die Aufmerksamkeit. Im Mittelpunkt stehen Journalisten, Schriftsteller und Professoren, außerdem die Medien, die sie zur Verbreitung ihrer Einsichten, ihrer Visionen und Überzeugungen benutzen. Dabei werden Gruppenbildungen, Netzwerke, Abhängigkeiten und spezifische Milieus sichtbar. Berichtet wird über die Prätentionen von Intellektuellen, über die Weltbilder, die sie entwerfen und unter die Leute bringen, über Konflikte, die sie anzetteln und ausfechten, über Ansprüche, die sie erheben, über Täler und Höhen, die sie bewandern. Von Irrungen und Wirrungen sind sie ebenso wenig gefeit wie der geistige Otto-Normalverbraucher. Sie fechten mit Wort und Feder gegen Ressentiments, zuweilen jedoch sind sie es, die solche erst wecken und legitimieren. Ideologien rücken die einen kritisch zu Leibe, während andere sie propagieren und befestigen. Die Formen, in denen sie mit dem Publikum in Zwiesprache treten, sind die der modernen Welt, des sich verzweigenden und vervielfältigenden Massenmarktes und der darin beheimateten Medien, die zahlreiche Möglichkeiten öffentlicher Intervention bieten. Weder Wolkenkuckucksheime und Empörungsfuror noch Augenmaß und Mitte sind ihnen fremd. Ihren Deutungsangeboten schenkt man Glauben, diskutiert und ignoriert sie oder sagt ihnen den Kampf an. Ihr Einfluss schwankt, ist abhängig von politischen und kulturellen Konjunkturen. Arbeiter am „Geist der Zeit“, wie sie hier genannt werden, können machtversessen oder machtvergessen sein. Im Idealfall sind sie den Postulaten der Aufklärung und des Rationalismus verpflichtet, aber ein Blick in die Historie lehrt, dass „Freiheit“ und „Hörigkeit“ nicht immer genügend weit voneinander entfernt sind.1

Dies alles wird entfaltet in drei großen Kapiteln: „Generationen“, „Diskursmaschinen“ und „Geistige Arbeiter“. Sie lenken den Blick teils auf Individuen und individuelle Konstellationen, teils auf Gruppen, Kollektive und etliche der Zusammenhänge, in denen jene sich bewegen. Die Kapitel stehen unter einem ←15 | 16→Hauptthema, zugleich jedoch werden zahlreiche darüber hinausweisende Aspekte thematisiert. Vor allem aber: Sie sind nicht voneinander abgeschottet, sondern vielfach aufeinander bezogen.

*****

Die hier präsentierten Beiträge sind allesamt noch einmal überarbeitet worden. Für die Genehmigung, sie wiederzuverwenden, danke ich den Verlagen Königshausen & Neumann, Kassel University Press, Metropol, H.W. Dietz Nachf., ferner Michel Grunewald, Françoise Lartillot, Friedrich Veitl, Andrea Pühringer, Meik Woyke, Richard Faber und Uwe Danker. Dank für Ermutigung schulde ich den Freunden und Kollegen Richard Faber, Hubertus Fischer, Dirk Stegmann, Ina Ulrike Paul und Uwe Puschner, letzteren auch und nicht zuletzt für die Bereitschaft, diesen Band in die von ihnen betreute Reihe „Zivilisationen & Geschichte“ aufzunehmen.

Zugeeignet ist auch dieses Buch meiner Frau Gerda, die wie immer die Arbeit daran mit Zuspruch begleitet, sie getragen und ertragen hat.

Jens Flemming, im November 2020


1 Das Begriffspaar findet sich bei Theodor Geiger: Aufgabe und Schicksal der Intellektuellen, in: E.J. Gumbel (Hrsg.), Freie Wissenschaft. Ein Sammelbuch aus der deutschen Emigration. Strasbourg 1938, S. 57.

←16 | 17→

I. Generationen: Selbstwahrnehmung und Konflikte

„Es ist durchaus nicht sicher, daß die Jugend immer die Zukunft sein muß; das hängt davon ab, ob sie inner-lich jung ist. Die Fähigkeit, leicht zu glauben, kritiklos zu glauben, den Glauben um jeden Preis höher zu schätzen als den Zweifel, als die tiefen, schrecklichen Schwierigkeiten der Entscheidung: diese Fähigkeit, die man in der ‚guten alten Zeit‘ Aberglaube nannte, galt damals, wenn Ich nicht irre, eher als Charakteristikum alter Weiber Jederlei Geschlechts wie als das der Jugend.“

Willy Haas: Was ist Jugend? In: Ders.: Gestalten der Zeit. Berlin 1930, S. 205.

Die Generationen und das Reden darüber haben sich längst vervielfältigt. Es gebe sie „im Dutzend billiger“, ironisierte 2001 der Spiegel.1 Der Begriff findet sich in Feuilletons ebenso wie in akademischen Abhandlungen. Dort sind die „Generation Golf“2 und die „Generation Berlin“3 ausgelobt worden, hier strengt man sich an, aus empirischen Materialien, älteren und neueren Monographien eine wissenschaftlich tragfähige Kategorie zu formen. Vor allem die von den beiden Weltkriegen hervorgetriebenen Kontinuitätsabbrüche haben die Debatten über generationelle Befindlichkeiten, Typologien und daran geknüpfte Perspektiven befeuert. Waren es nach 1918 die „Frontgeneration“, die „Kriegsjugendgeneration“, die „Nachkriegsgeneration“4 oder gar die „verlorene Generation“5, so waren es nach 1945 die „Flakhelfergeneration“ und die „skeptische Generation“, ←17 | 18→eine Erfindung des Soziologen Helmut Schelsky6, oder die „Generation der Mitte“, mit der sich 1953 der Antisemit und ehemalige NS-Kulturfunktionär Karl Epting zu Wort meldete.7 Die Reihe ließe sich bequem verlängern. Immer geht es dabei, selbst wenn die Terminologie nicht identisch ist, um „Generation“ und „Generationalität“8, um Zugehörigkeit zu einer auf bestimmte Geburtsjahrgängen begrenzte Gruppe, um die dort anzutreffenden Prägungen, Orientierungen und den dort gepflegten Habitus.

Ernstzunehmende Studien nehmen gewöhnlich ihren Ausgang von den mittlerweile ikonisch gewordenen Überlegungen Karl Mannheims, der 1928 das „Problem der Generation“ in der Trias von „Generationslagerung“, „Generationszusammenhang“ und „Generationseinheit“ zu erfassen und zu systematisieren suchte.9 Wirkmächtiger als strenge Theoriebildung war damals allerdings deren politische Instrumentalisierung, war der in den Milieus des Neokonservatismus und der Konservativen Revolution zu beobachtende Versuch, eine Quelle der Legitimation für die jeweils eigenen Geltungs-, Macht- und Gestaltungsansprüche zu gewinnen. Dies aufgreifend und neu konfigurierend, haben die Historiker Ulrich Herbert und Michael Wildt den Blick auf das Führungspersonal des Reichssicherheitshauptamtes gelenkt und unter dem Stichwort „Generation der Sachlichkeit“ oder „Generation des Unbedingten“ das Profil einer den Judenmord planenden und exekutierenden Täterformation entworfen.10 Damit war ein Konzept, das zunächst eher in der Soziologie, auch in der Pädagogik und Psychologie zu Hause war11, ←18 | 19→endgültig in der Historie angelangt, wo man sogleich begonnen hat, daraus weit reichende Forschungsprogramme zu generieren.12 Bei aller Unschärfe des Begriffs und bei aller Schwierigkeit, generationell definierte Identitäten zu bestimmen: Einigkeit herrscht darüber, dass Generation beides ist, nämlich „analytische Kategorie“ und „Selbstthematisierungsformel“13, die Formen der Vergemeinschaftung und historisch wirkmächtiger Gruppenbildung zum Ausdruck bringen. In der Innensicht ist Generationengeschichte wesentlich Erfahrungs-, in der Außensicht zugleich Wahrnehmungs- und Zuschreibungsgeschichte. Das ihr zugrunde liegende sozial und kulturell bestimmte Konstrukt ist mittlerweile ähnlich wie „Klasse“ oder „Geschlecht“ zu einem jener „systematisierenden Kollektivbegriffe“ avanciert, die dazu dienen, „historischen Wandel“ zu erfassen, zu ordnen und zu erklären.14

Nicht alles ist darunter zu subsumieren. Das gilt nicht zuletzt für die zahlreichen intergenerationellen Konflikte, die sich im Raum der Familie entfalten, hier glimpflich, dort weniger glimpflich verlaufen. Sie sind so alt wie die Menschheitsgeschichte, haben vielfachen Niederschlag in der Belletristik und auf der Bühne gefunden. „Noch jede Generation“ habe „ihr ‚Generationenproblem‘ gekannt“, heißt es – anknüpfend an den Titel von Mannheims Aufsatz – im März 1946 in der Zeitschrift Die Gegenwart: „eine jener schöpferischen Spannungen des sozialen Lebens, welche die Welt der Väter in die Welt der Söhne verwandeln.“15 Wie dies literarisch vergegenwärtigt werden konnte, zeigen zwei der folgenden Beiträge. Der eine, Theodor Fontane, erzählt im „Stechlin“ mit den Augen des Alten, der andere, Johannes R. Becher, in seinen autobiographisch gefärbten Romanen „Levisite“ und „Abschied“ aus der Sicht und dem Erleben des Jungen. Während jener danach strebt, Bedürfnisse nach Kontinuität mit Notwendigkeiten des Wandels in Einklang zu bringen, schildert dieser das Erwachsenwerden als windungs- und konfliktreiches Geschehen. Die politische Perspektive bei Fontane ist geprägt vom Wunsch nach Reform, um das Proprium des überlieferten Sozialsystems zu bewahren, die bei Becher von der Sehnsucht nach Disruption und der Entschlossenheit zum finalen show down, dem Niederreißen des Kapitalismus. Neben weltrevolutionären Traumbildern spielt der Wunsch nach persönlicher und gesellschaftlicher Veränderung eine zentrale Rolle. Bechers Losung ←19 | 20→lautet: Anderswerden, das darauf versessen ist, das Gestern zu zerstören zugunsten eines imaginierten, mit ideologischen Gewissheiten gepanzerten Morgen.

Fontanes „Stechlin“, seit dem Oktober 1898 auf dem Markt, steht in zeitlicher Nachbarschaft, in der Sache aber konträr zu einem Phänomen, das in der Epoche um 1900 die Gemüter ergreift und rasch an Resonanz gewinnt. Gemeint ist das, was die Forschung die Entdeckung der Jugend nennt, die nunmehr nicht als eine primär genealogische Tatsächlichkeit gedeutet wird, sondern als Lebensphase mit selbständigen, von den Sphäre der Erwachsenen geschiedenen Bedürfnissen, Erwartungen und Kulturwerten. Jugend wurde zum „Schlüsselwort der Zeitenwende“.16 Ideen der Reformpädagogik und Lebensreform schlugen sich nieder in den Aktivitäten zahlreicher Vereine und Bünde, die Wandervogelbewegung setzte sich ab von jedweder Form staatlicher Jugendpflege.17 Im Oktober 1913 traf sich der erste Freideutsche Jugendtag auf dem Hohen Meißner und gab zu Protokoll, man wolle aus „eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit“ das Leben gestalten.18 In diese Formel mischten sich weit reichende Vorstellungen künftiger Ordnungen ein: antibürgerlich, traditions- und zivilisationskritisch, versessen auf Gemeinschaft, voller Abscheu gegen die pluralistische, sozial und politisch zerspaltene Gesellschaft, erfüllt vom Gedanken, dass Jugend die Avantgarde der neuen Zeit sei: ein Wert an sich und Garant schlechthin für den Bau einer neuen, einer gesunden und naturverbundenen Welt.

Konfrontiert mit solchem Klima und solchen Sentiments, gründete 1896 der Münchener Verleger Georg Hirth eine Zeitschrift, dessen Titel Jugend keineswegs Zufall war. Von ihr handelt der dritte Beitrag in diesem Abschnitt. Hirth verknüpfte sich mit dem damals anhebenden Kult der Jugend, um ihn sogleich zu relativieren. Jugend war für ihn und die Redaktion jedenfalls keine Frage der Biologie, sondern eine der Mentalität, war Haltung, Lebens- und Wertgefühl. Ein junger Mensch könne wie ein Greis denken und umgekehrt, lautete das Credo. Ähnlich wie die Jugendbewegung wähnte sich das Journal als Verbündeter des Fortschritts. Es war zukunftsversessen und zukunftsselig, anders als die Jugendbewegung aber ein gläubiger Jünger der Wissenschaften und der Technik. ←20 | 21→Gegen die herrschenden Mächte war es kritisch, im selben Atemzug auch affirmativ; Kämpfe jung gegen alt, in einem Antagonismus der Generationen wurzelnde Konflikte jedoch hatten in seinen Spalten keinen Platz. Wenn man so will, war die Jugend ein Gegenmodell, das den jungen Leuten nicht das Lebensrecht absprach, wohl aber jedweden Alleinvertretungsanspruch auf Jugendlichkeit und Veränderungsdynamik.

In den zwanziger Jahren, nach Kriegsniederlage, Revolution und Konstituierung der Republik, radikalisierte sich der Jugend- und Generationendiskurs. Generation wurde aufgeladen und politisiert, wurde zu einem Kampf- und Zukunftsbegriff. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückten die Kriegsjugend- und die Nachkriegsgeneration, denen man nach den Demütigungen von 1918/19 am ehesten Wiederaufstieg und neues Heil zutraute. Damit ging die Diskreditierung der alten Eliten einher, die in dieser Lesart die Nation in den Krieg geführt und das schmähliche Diktat von Versailles zu verantworten hatten. Da die Politiker der Weimarer Demokratie mehrheitlich schon im Kaiserreich aktiv gewesen waren, wurden sie umstandslos in das Verdikt eingeschlossen. Das hatte die Delegitimierung der republikanischen Ordnungen zum Ziel: eine Strategie, die im Fortgang der Jahre zunehmend auf Resonanz stieß und seine Hochzeit in der 1930 hereinbrechenden und sich kontinuierlich verschärfenden Krise erfuhr. Peter Suhrkamp, der Herausgeber der bei S. Fischer verlegten Neuen Rundschau, sprach 1932 von den Söhnen „ohne Väter und Lehrer“. Im „Verhalten der bürgerlichen Jugend“, konstatierte er, liege ein prinzipiell gemeinter „Vorwurf gegen die Alten“ und gegen die aktuelle „Ordnung oder Unordnung“. Jene hätten „den Krieg verloren“, seit 1918 „nur halbe Sache gemacht“ und die „nationale Ehre“ verspielt: „Sie haben das Bürgertum der Verelendung ausgeliefert“.19 Von der Generation der Vierzig- bis Fünfzigjährigen sei diese Jugend offenbar nicht mehr zu erreichen, lautete der resignative Grundton der Analyse.

Das war die Stimme eines gemäßigten Publizisten und späteren Verlegers. Deutlich aktivistischer waren die Parolen in den Milieus der politischen Rechten. Der Kammerton hier wurde bereits früh angeschlagen, gepaart mit radikaler Absage an die bestehenden Verhältnisse, ihre Institutionen und das sie repräsentierende Personal.20 Im Oktober 1920 beschwor der Volkstumspolitiker Max ←21 | 22→Hildebert Böhm die „Front der Jungen“21, eine Parole, die sich seither vervielfältigte. In Wilhelm Stapels Revue Deutsches Volkstum konnte man 1930 vom „Bürgerhaß der jungen Generation“ lesen. Die politisch wache Jugend, hieß es da, wolle gar nicht „in den bestehenden Formen zur Wirksamkeit kommen“, strebe vielmehr die „Zertrümmerung der bürgerlichen Honoratiorengesellschaft“ mitsamt der ihr innewohnenden Herrschaft des Geldes an22. Jugend in dieser Sicht war antikapitalistisch, antibürgerlich und selbstverständlich antidemokratisch, die einzige Kraft, um der „Tragik“, nämlich der Wirkungslosigkeit der „Kriegsgeneration“ ein Ende zu setzen23. Das war zugleich Bestätigung und aktivistische Absage an quietistisch anmutende Diagnosen wie die von Erich Maria Remarque, der seinem Roman „Im Westen nichts Neues“ als Motto beigegeben hatte: Sein Buch wolle weder anklagen noch bekennen, nur berichten von einer Generation, „die vom Kriege zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam.“24

Wie sehr das Generationengerede als Rechtfertigung und theoretischer Entwurf für grundlegende politische „Erneuerungsansprüche“ diente25, lässt sich eindrücklich am Beispiel der Zeitschrift Die Tat demonstrieren. Ihr ist der letzte Aufsatz in diesem Kapitel gewidmet. Er beleuchtet die Träger und Ausdrucksformen eines avancierten rechtintellektuellen Milieus, das von der Überwindung der Klassengesellschaft à la Weimar träumte und anfänglich glaubte, dies erreichen zu können, ohne sich mit der NSDAP gemein machen zu müssen. Am entschiedensten für diese Position stand Hans Zehrer, der Chefredakteur, der 1930 dem „Jahrgang ←22 | 23→1902“, also der kriegsskeptischen Botschaft des 1928 publizierten, gleichnamigen Roman von Ernst Glaeser26 eine Absage erteilt. „Wir konnten nicht auf jenen Boden treten, den wir [die Heimkehrer aus dem Krieg, JF] vorfanden“, war da zu lesen. Einen „eigenen Boden“ habe man einstweilen nicht schaffen können. Gleichwohl sei man gezwungen „zum Kampf“ gegen das, was geschehe: „Wir trommeln und trommeln und blasen unaufhörlich zum Angriff. Seit elf Jahren. Aber der Angriff erfolgt nicht, weil wir noch nicht wissen: wohin!“27 Ende 1932 schien Zehrer es zu wissen. Er setzte auf die Karte des Generals von Schleicher. 1933 wurde er abserviert, seine Mitstreiter Ernst Wilhelm Eschmann und Giselher Wirsing arrangierten sich eilfertig mit den Gegebenheiten der Diktatur, die im Eiltempo die Nationalsozialisten nach dem Januar und dem März 1933 errichteten. Zehrer, der wortmächtige Propagandist eines radikalen Wandels, überwinterte auf Sylt und schlüpfte 1938 unter die Fittiche des rechtsgerichteten, dem Regime unverdächtigen Oldenburger Stalling Verlag. Die Haltung der Tat sei so „anspruchsvoll“ gewesen wie sein „Titel“, sei „fast allgemein gelesen“ worden, geschrieben von einer „Gruppe intelligenter und radikaler junger Leute“, erinnerte sich Sebastian Haffner, damals Rechtsreferendar in Berlin. Nach dem erzwungenen Abgang des Chefredakteurs seien dessen Kollegen geblieben und waren „auf einmal vollkommen und ohne den geringsten Verlust an Eleganz und Jahrtausendperspektive Nazi“, ja mehr noch: „besser, eigentlicher und tiefer als die Nazis selbst.“28

←23 | 24→

1 Der Spiegel, 14.6.2001.

2 Florian Illies: Generation Golf. Eine Inspektion. Berlin 2000.

3 Heinz Bude: Generation Berlin. Berlin 2001. Das Label war schon vorher in der Welt und wurde danach geradezu inflationär.

4 Der Stammvater dieser Trias ist E. Günther Gründel: Die Sendung der jungen Generation. Versuch einer umfassenden revolutionären Sinndeutung der Krise. München 1932.

5 Vgl. dazu die literaturwissenschaftliche Studie von Christoph Deupmann: Die verlorene Generation. Heimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg in der deutschsprachigen Literatur. Heidelberg 2019.

6 Helmut Schelsky: Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend. Düsseldorf 1957. Vgl. dazu Franz-Werner Kersting: Helmut Schelskys „Skeptische Generation“ von 1957, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 50, 2002, S. 465–495.

7 Karl Epting: Generation der Mitte. Bonn 1953.

8 Siehe dazu Bernd Weisbrod: Generation und Generationalität in der Neueren Geschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 8/2005, S. 3–9.

9 Karl Mannheim: Das Problem der Generation, in: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie 7, 1928, S. 157–185 und 309–330. Kritisch dazu Hans Jaeger: Generationen in der Geschichte. Überlegungen zu einer umstrittenen Konzeption, in: Geschichte und Gesellschaft 3,1977, S. 429–452.

10 Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903–1989. Bonn 1996 sowie Ders.: „Generation der Sachlichkeit“. Die völkische Studentenbewegung der frühen zwanziger Jahre, in: Frank Bajohr u.a. (Hrsg.), Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne. Hamburg 1991, S. 115–144; Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Hamburg 2002.

11 Vgl. den Klassiker, der auch Mannheim beeinflusst hatte, von Eduard Spranger: Psychologie des Jugendalters. Leipzig 1924.

12 Vgl. den Bericht von Miriam Rürup über eine Tagung des Göttinger Graduiertenkollegs „Generationengeschichte“ vom 23.-26.9.2006 in Florenz, in: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id = 1393 (Zugriff: 1.12.2006).

13 Ulrike Jureit: Generationenforschung. Göttingen 2006, S. 9.

14 Catherine Mazellier-Lajarrige u.a. (Hrsg.): Geschichte ordnen. Interdisziplinäre Fallstudien zum Begriff „Generation“. Berlin 2019, S. 12 (Vorwort).

15 Robert Haerdter: Die gestohlenen Jahre, in: Die Gegenwart Nr. 6/7 vom 24.3.1946, S. 14.

16 So Winfried Mogge: Jugendbewegung, in: Diethart Kerbs und Jürgen Reulecke (Hrsg.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen 18801933. Wuppertal 1998, S. 181.

17 Zur Jugendpflege in der Epoche um 1900 vgl. Klaus Saul: Der Kampf um die Jugend zwischen Volksschule und Kaserne. Ein Beitrag zur „Jugendpflege“ im Wilhelminischen Reich 1890–1914, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 1/1971, S. 97–143.

18 Zit. nach Mogge: Jugendbewegung, S. 186.

19 Peter Suhrkamp: Söhne ohne Väter und Lehrer. Die Situation der bürgerlichen Jugend, in: Die Neue Rundschau 43/I, 1932, S. 693 f.

20 Vgl. erhellend dazu Daniel Siemens: Kühle Romantiker. Zum Geschichtsverständnis der „jungen Generation“ in der Weimarer Republik, in: Martin Baumeister u.a. (Hrsg.), Die Kunst der Geschichte. Historiographie, Ästhetik, Erzählung. Göttingen 2009, S. 189–214.

21 Max Hildebert Boehm: Die Front der Jungen, in: Süddeutsche Monatshefte 18/I, Oktober 1920-März 1921, S. 8–12. Siehe auch Ders.: Ruf der Jungen. Leipzig 1920. Von „junger Front“ war in der Spätphase der Weimarer Republik auch in der Sozialdemokratie die Rede. Vgl. Rolf Hartmann: Die seelische Not der jungen Generation, in: Sozialistische Monatshefte 1929/II, S. 712–716.

22 Albrecht Erich Günther (neben Stapel der zweite Herausgeber der Zeitschrift): Der Bürgerhaß der jungen Generation, in: Deutsches Volkstum 12/I, 1930, S. 89–95 (Zitat S. 93).

23 „Tragik“ und „Kriegsgeneration“ beziehen sich auf den Aufsatz von Edgar Julius Jung: Die Tragik der Kriegsgeneration, in: Süddeutsche Monatshefte 27, 1929/30, S. 511–534.

24 Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues. Berlin 1929, Motto. Fortgesetzt wird das im Folgeroman: Der Weg zurück. Berlin 1931. Vgl. dazu Deupmann: Verlorene Generation, S. 259–323

25 Formulierung nach Andreas Schulz und Gundula Grebner: Generation und Geschichte. Zur Renaissance eines umstrittenen Forschungskonzepts, in: Dies., Generationswechsel und historischer Wandel. München 2003, S. 9.

26 Ernst Glaeser: Jahrgang 1902. Potsdam 1928.

27 Hans Zehrer: Absage an den Jahrgang 1902, zit. nach Michael Wildt: Generation als Anfang und Beschleunigung, in: Ulrike Jureit und Michael Wildt (Hrsg.), Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs. Hamburg 2005, S. 171.

28 Sebastian Haffner: Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914–1933. Stuttgart 2000, S. 184.

←24 | 25→

„Wir stehen am Morgen einer kerngesunden Zeit“. Die Moderne und die Jugend in der Epoche um 1900

„Krisen“ und „Fragen“: Entwicklungen um 1900

Das 19. Jahrhundert ist ein Jahrhundert der Veränderung, der Mobilität, der massenhaften Bewegungen, der Revolutionserwartung und Revolutionsfurcht. Die Industrialisierung zieht tiefe Spuren, modelt die Gesellschaften um, löst dramatische Prozesse sozialen und demographischen Wandels aus, strukturiert Zeit und Raum. Intensiver denn je bemächtigt sich der Mensch der Natur, ihrer Ressourcen und Potentiale. Aus behäbigen Städten werden lärmerfüllte, wuchernde Metropolen, lokale, regionale und transnationale Märkte verflechten sich, Handwerker werden zu Fabrikanten, aus Familienbetrieben werden anonyme Großunternehmen. Das Bürgertum, obwohl quantitativ eine schmale Minderheit, gehört zu den treibenden, vorwärts gerichteten Kräften, ist Träger und Motor der Modernisierung, drückt der Kultur, der Wirtschaft und Technik seinen Stempel auf, findet, wie Thomas Nipperdey diesen Vorgang beschrieben hat, die „Moderne“.1 Fortschrittsoptimismus und wissenschaftlich unterfütterte Weltanschauungen zermürben ältere, scheinbar fest gefügte, unverbrüchliche Traditionen, prägen Einstellungen und Verhaltensweisen. Rationalismus, Positivismus und Aufklärung durchdringen die Bezirke des öffentlichen Lebens ebenso wie die Sphären der Intimität, erschließen neue Dimensionen und Horizonte, heben Unbewusstes ins Bewusstsein, werfen Licht in die verborgenen Winkel der inneren Existenz.

Diese Entwicklungen sind um 1900 nicht abgeschlossen, haben aber doch einen beispiellosen Grad der Reife erreicht. Der Eintritt in das neue Jahrhundert wurde begleitet von anhaltender, den „Volkswohlstand“ mehrender Hochkonjunktur: war Anlass für Stolz auf erbrachte Leistungen, wie damals ein Beobachter notierte, ein Zeugnis elementarer „Vitalität“, die in den „Adern des deutschen Volkskörpers“ pulsiere, sämtliche seiner Glieder „recke und dehne“.2 Und doch ←25 | 26→war das Urteil über die moderne Welt ambivalent, lagen zukunftsselige Gewissheit und zukunftsbanger Pessimismus dicht beieinander. Beides kam aus der Mitte der Gesellschaft, nicht jedoch oder nicht ausschließlich von ihren Rändern. Im gebildeten Bürgertum gefiel man sich in Klagen über den Verlust überlieferter Kulturwerte, rieb sich erschrocken die Augen über Moralverzehr und Unübersichtlichkeit, registrierte den „Kampf des Neuen mit dem Alten“: so kurz nach der Jahrhundertwende der Journalist August Stein, der das Berliner Büro der Frankfurter Zeitung leitete. Man habe es mit „unholden und bedenklichen Erscheinungen einer Übergangszeit“ zu tun, schrieb er. Der anschwellende, in wenigen Jahrzehnten angehäufte Wohlstand habe gesellschaftliche Gegensätze und „Standesunterschiede“ beträchtlich „verschärft“, habe „Groll unter den bisher bevorrechteten Schichten“, namentlich dem Adel, hervorgerufen, der sich gegen das „Vordringen neuer, überlegener Wettbewerber“ richte: namentlich gegen die „reichgewordene Bourgeoisie“, die in Positionen eingerückt sei, „die vor zwanzig Jahren“, in der späten Bismarck-Ära, „noch für unzugänglich“, als Domäne der Aristokratie gegolten hätten.3

Wie kaum ein anderer verkörperte Wilhelm II. den Habitus der Epoche, der er nicht von ungefähr seinen Namen lieh. Schauen wir zur Illustration auf ein Foto aus dem Jahr 1913, auf dem wir ihn hoch zu Ross sehen, die Brust mit Orden und Schnüren behängt, auf dem Kopf die Pickelhaube mit wehendem Helmbusch. Er schaut hinab auf einen Offizier in weißer Uniform, auf den Freiherrn von Reischach, den Verantwortlichen für den kaiserlichen Marstall. Gestiefelt und gespornt, auf dem Helm den Preußenadler, macht dieser Meldung in militärisch strammer Haltung. Ort des Geschehens ist das Tempelhofer Feld in Berlin, wo das Gardecorps seine Frühjahrsparade veranstaltet. Gekommen sind Monarch und Gefolge mit Automobilen, die im Hintergrund parken.4 Auf eigentümliche Weise verschwistert sich hier die Welt der Moderne mit der der Feudalität und bringt zum Ausdruck, was der Romancier Theodor Fontane als Wesenszug des Herrschers zu erkennen wähnte. Der nämlich repräsentiere den „Bruch mit dem Alten“, befreie die Gesellschaft von den „öden Formen und Erscheinungen des alten Preußentums“, breche „mit der Ruppigkeit, der Poplichkeit, der spießbürgerlichen Sechsdreierwirtschaft der 1813er Epoche“, lasse „neue Hosen machen, ←26 | 27→statt die alten auszuflicken.“ Um dies zu erreichen, bediene er sich allerdings falscher, unzureichender Mittel: „Er glaubt das Neue mit dem ganz Alten besorgen zu können, er will Modernes aufrichten mit Rumpelkammerwaffen.“5 Ähnlich lautete das Urteil des Intellektuellen und Industriemanagers Walther Rathenau, der 1919 in einem knappen, einfühlsamen Portrait notierte, im Kaiser hätten sich drei „Grundtendenzen“ manifestiert: „die unbestimmte preußisch-deutsche Machttendenz, die ererbte dynastische Tendenz der Selbstverteidigung, und in verborgenem Widerspruch mit diesen beiden eine allgemeine Tendenz zur Modernität, vornehmlich im technisch-mechanistischen, gelegentlich im sozialen Sinne“, was im Fall des Erfolgs zu einer „Art elektrisch-journalistischen Cäsaropapismus“ geführt hätte, zu einem Gottesgnadentum, umgeben und gestützt von den Errungenschaften der industriellen Massengesellschaft.6

Mehrdeutigkeiten wie diese signalisieren, dass Reputation und Steuerungskapazität des monarchischen Systems an Grenzen stießen. Viele empfanden um 1900 die Politik in den von Bismarck vorgezeichneten Bahnen als eng, halbherzig, defensiv, dem Charakter der Zeitenwende, der man mit Sorge oder Jubel begegnete, nicht länger angemessen. Das Reich entbehrte der integrativen, die widerstreitenden Ansprüche der verschiedenen politischen Lager und sozialen Interessen bändigenden Idee. Gesellschaftlichen Ausgleich und Frieden hatte man weder unter Bismarck noch unter dessen Nachfolgern erreichen können. Der Schwenk in den Imperialismus verschärfte diese Problematik, löste sie aber nicht. „Ein großes Ziel positiver Art tauchte nach der Reichsgründung nirgends auf“, erinnerte sich Harry Graf Kessler: „Alles war nur noch negativ“.7 Ideale, die noch die Generation der Väter begeistert hätten, resignierte der Soziologe Werner Sombart, seien „verblaßt“, neue nicht in Sicht: „Was uns heute an Nationalismus geboten wird, ist ein schaler zweiter Aufguß, der niemand mehr so recht zu erwärmen vermag.“ Die „hohle Phrase“ verdecke die „innere Öde“. Die Politik sei zum Geschäft spezialisierter „Teilarbeiter“ herabgesunken, „die Freude an der Vertretung großer politischer Grundsätze geschwunden.“8 Sombarts Kollege Max Weber sprach 1895 in seiner Antrittsvorlesung an der Freiburger Universität vom „harten Schicksal“ des „Epigonentums“, dem nur dann zu entrinnen ←27 | 28→sei, wenn es gelänge, die „Bedeutung“ der essentiellen „Machtfragen“ wieder ins Bewusstsein zu heben und unter dieser Parole vor allem das Bürgertum, die aufsteigende und prosperierende Klasse, zu politischer Reife, Verantwortung und Entschlossenheit zu bringen.9

Der Theologe Ernst Troeltsch beobachtete in Glaubensdingen eine „ungeheure Indifferenz“, gespeist aus ubiquitärem „wissenschaftlichen Verdacht“ und den Hypertrophien des Kapitalismus.10 Keine Periode zuvor sei so voller „Verwirrung und Zersetzung“ gewesen wie die um 1900, diagnostizierte der Neorankeaner Max Lenz: „Alltäglich liest und hört man es, daß eine Revolution vor der Tür stehe, eine Umwälzung nicht bloß des Staates, sondern der Gesellschaft und der Nationen, aller Lebensgewohnheiten, eine Umschmelzung aller überlieferten Vorstellungen von Recht und Sitte“. Je bedeutender das Maß der „kulturellen Errungenschaften“, je „reger der Anteil der Massen am politischen Leben“, je „besser“ deren „soziale Lage“, umso größer sei die allenthalten grassierende Nervosität geworden. Allerdings: Gegen solche Stimmungen des Fin-de-Siècle fand der Historiker, der dies konstatierte, Trost und Rückhalt in der Vergangenheit, die kompensatorisch helfen mochte, die Unruhe und die Defizite der Gegenwart zu ertragen. Kampf um den Erhalt der Macht sei nun einmal das Gesetz der Geschichte, nur so könne das Leben voranschreiten: „Es ist nicht mehr erlaubt, ein Wilhelm-Meister-Dasein zu führen, so wie unsere Romane und Dramen nicht mehr gern die lichten und idealen Höhen, sondern die harten und grausamen Konflikte des bürgerlichen Lebens aufsuchen. Die Zeit der Privilegien ist vorüber, und es ist Torheit, über die Errungenschaften der großen Zeit zu jubeln und sie zugleich um das Edle oder Behagliche, was sie zerstörte, auszuschelten.“11

Man kann solche Sätze als Appell lesen, von lähmender Unentschiedenheit wieder zu realitätstüchtiger und tatbereiter Entschiedenheit zurückzufinden. Dies jedoch änderte nichts an der Haltung derer, die auf das Ja sogleich das Aber folgen ließen. Asymmetrien zwischen „Kulturwerten“ und „Kulturhöhe“ festzustellen, gehörte nachgerade zum guten Ton: „Ewigkeitswerte weichen den Sensationen des Tages, und das Epochale sinkt zum Ephemeren herab.“12 Darin spiegelten sich Suchbewegungen nach verlorener Gewissheit, Sinn, ←28 | 29→Daseinsbestätigung, hochgesteckte Erwartungen an die reinigende und orientierende Kraft der Kultur. Das Ergebnis der darüber geführten Diskussionen war freilich die Einsicht, dass sich im Angesicht nivellierender Massenhaftigkeit die „materiellen Kulturgüter“ mit den „ideellen Kulturwerten“13 kaum noch vermitteln ließen, dass Arbeitsteilung, Differenzierung und Individualisierung genauso unwiderruflich waren wie pluralisierte Normen, Deutungsangebote und Ideologien. Rasch wechselnde literarische Stile, Richtungen, Schulen und Konjunkturen übertrumpften einander und warben um Proselyten; das Publikum nahm daran teil, gab sich ihnen anheim, begeistert oder leidend, lamentierte über Hektik und Reizüberflutung, berufliche Überbürdung, über Nervosität und Amerikanisierung des Alltags. Den Boden, auf dem man sich bewegte, empfanden wetterfühlige Beobachter als schwankend, brüchig, gefährlich. Hinter der Fassade zivilisatorischer Triumphe witterten sie Anarchie und Chaos, Degeneration, Verfall, Deklassierung. Derartige Einschätzungen waren nicht nur Reflex auf konkrete Konstellationen, sondern auch und mehr noch Phantasien, Projektionen, Kopfgeburten und Phantasmen. Damit wiederum konkurrierten zahllose Zeugnisse, aus denen das Vertrauen sprach, die Problemlagen der Moderne erkennen und meistern zu können. Das galt im Raum der Politik für den Liberalismus, dessen Attraktivität allerdings im Schwinden war, das galt für die Sozialdemokratie und die von ihr propagierte Vision eines egalitären ‚Zukunftsstaates‘, das galt für die Wissenschaften, die Soziologie zumal, jene noch junge Disziplin, die sich anheischig machte, die Kausalität der zunehmend komplexer werdenden gesellschaftlichen Prozesse zu entschlüsseln, Fragen nach dem Wesen der Kultur zu beantworten, Instrumente an die Hand zu geben für eine planmäßige, von „Zufällen“ unabhängige Gestaltung des „Kulturfortschritts“.14 Trotz der Hast und Nervosität, trotz des Lärms, von dem die Gegenwart erfüllt sei, beruhigte am Anfang des Jahres 1900 der Philosoph Theobald Ziegler seine Leser, sei unverkennbar, dass das deutsche Volk „im ganzen gesund“ sei: „Mit diesem optimistischen Glauben treten wir in das neue Jahrhundert ein.“15

1922 zog Friedrich Meinecke ein vorläufiges Resümee „deutscher Gelehrtenpolitik“ im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die Generation der um 1860 Geborenen und in den 90er Jahren wirksam Werdenden sah er im Bann einer ←29 | 30→von Nietzsche ausgehenden „Revolution des Geistes“. Literarisch habe das im Naturalismus seinen Ausdruck und im Expressionismus seine Fortsetzung gefunden: „Stärkere Wellen von Lebensblut, von sinnlichen Kräften, von Leidenschaften brachen hervor und überstürzten fortan einander.“ Das habe das „klassisch-harmonische Bildungsideal“ zermürbt. Zwar hätten sich die Geisteswissenschaften „gegen den Ansturm widerstandsfähiger und konservativer erwiesen als die Künste und die Tagesliteratur“, aber der Historismus, der seit Ranke die Denkhorizonte bestimmte, „unser Lebensglück“, wie Meinecke formulierte, sei darüber in „eine schwere Krisis gerissen worden.“16

Von Krise war um 1900 auch sonst die Rede, gleichviel ob real oder nur in den Köpfen. Das reichte von den üblichen Affären, Skandalen und Sensationen des öffentlichen Lebens bis hin zur Krise des Agrarsektors, des Kapitalismus, der Familie, ja bis hin zu Phänomenen, welche die Frauenrechtlerin Grete Meisel-Hess als „sexuelle Krise“ fasste.17 Eng verknüpft damit erhoben sich mannigfache „Fragen“, die – einmal aufgeworfen - der Lösung harrten, die Gemüter polarisierten und mobilisierende Kräfte entfalteten. Breit und kontrovers diskutiert, gewähren sie Einblick in den Zustand der Gesellschaft, die Erwartungen und Bedürfnisse der Klassen und Milieus. Die „Arbeiterfrage“, überhaupt die „soziale Frage“ gehörten dazu, die „Frauenfrage“, natürlich die „Judenfrage“: diese wiederum eingebettet in anschwellende Debatten über Rassen, Rassenhygiene und Eugenik.

Details

Seiten
514
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631843666
ISBN (ePUB)
9783631843673
ISBN (MOBI)
9783631843680
ISBN (Hardcover)
9783631843550
DOI
10.3726/b18005
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Januar)
Schlagworte
Intellektuellengeschichte Zeitschriftengeschichte Kulturgeschichte Ideengeschichte Ideologiegeschichte
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 514 S.

Biographische Angaben

Jens Flemming (Autor:in)

Jens Flemming war von 1992 bis 2009 Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Kassel.

Zurück

Titel: Arbeit am Geist der Zeit: Journalisten, Schriftsteller, Professoren
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
516 Seiten