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Sprechen im Märchen

Inszenierung von Mündlichkeit in Märchentexten des 19. Jahrhunderts

von Christine Pretzl (Autor:in)
©2021 Habilitationsschrift 416 Seiten

Zusammenfassung

Wieviel Mündlichkeit steckt im Märchen, und mit welchen Mitteln wird Nähesprachlichkeit in Märchentexten des 19. Jahrhunderts inszeniert? Die vorliegende Studie bietet eine bislang unerschlossene Vergleichsebene: Franz Xaver von Schönwerth (1810–1886) sammelte auf den Spuren der Brüder Grimm Märchen und Sagen der Oberpfalz. Sein breitgefächerter Nachlass enthält zahlreiche Originalmanuskripte zu Verschriftungen ausgewählter »Kinder- und Hausmärchen«, wie sie im ländlichen Umfeld mündlich weitergegeben wurden. Zu jeweils einheitlichen Motivkomplexen werden sämtliche Redeszenen in mehreren Textvarianten beider Provenienzen miteinander verglichen. Die jeweiligen Sprechhandlungsmuster verweisen auf die Sprach- und Alltagskultur im bürgerlich-nationalen und bäuerlich-regionalen Kontext. Zudem wird deutlich, dass bestimmte Märchentexte der Brüder Grimm mündlichen Quellen deutlich näher stehen als von der neueren Märchenforschung bis dato angenommen.
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Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • I Annäherung
  • II Vorklärungen
  • 1 Sprechen als Handeln
  • 2 Die Textsorte Märchen
  • 2.1 Begriffsklärung
  • 2.2 Entstehungsgeschichte
  • 2.3 Poetologischer Kontext
  • 3 Mündlichkeit und Schriftlichkeit
  • 4 Das 19. Jahrhundert
  • 4.1 Gesellschaftspolitische Umbrüche
  • 4.2 Sprachgeschichtliche Entwicklungen
  • 4.3 Lesen als Kulturfertigkeit
  • III Untersuchungskorpus
  • 1 Die „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm
  • 1.1 Jacob und Wilhelm Grimm und die Konstituierung des Bürgertums
  • 1.2 Die Genese der Märchentexte
  • 2 „Sitten und Sagen“ und Nachlass des Franz von Schönwerth
  • 2.1 Biographische Skizze und regionaler Hintergrund
  • 2.2 Das Forschungsinteresse und die Sammeltätigkeit
  • IV Forschungsfragen
  • V Methodik
  • 1 Ansätze einer kulturwissenschaftlich orientierten Linguistik
  • 2 Vorgehensweise
  • 2.1 Definition ‚Redeszene‘
  • 2.2 Erzählerrede und Figurenrede
  • 3 Analyseraster
  • 3.1 Makrosituation
  • 3.1.1 Alter, Geschlecht und sozialer Status der sprechenden Person
  • 3.1.2 Arten von Redewiedergaben
  • 3.1.2.1  Direkte Wiedergabe
  • 3.1.2.2  Indirekte Wiedergabe
  • 3.1.2.3  Erzählte Wiedergabe
  • 3.1.3 Sprechhandlungsabsicht
  • 3.1.3.1  Verba dicendi, cogitandi und scribendi
  • 3.1.3.2  Paraverbalität (Lautstärke der Stimme, Weinen)
  • 3.1.4 Gebrauch der Tempora
  • 3.1.5 Deutung der gewählten Darstellungsmittel
  • 3.2 Dialogizität
  • 3.2.1 ‚Echte‘ Dialoge und Gesprächssequenzen
  • 3.2.2 Gesprächskohärenz
  • 3.2.3 Klassifikation von Gesprächsschritten (initiierend, respondierend)
  • 3.2.4 Handlungsdimensionen (direktiv, narrativ, diskursiv)
  • 3.3 Mikrosituation
  • 3.3.1 Begrüßungs- und Abschiedsformeln, Formen der Anrede
  • 3.3.2 Diskursmarker
  • 3.3.2.1  Die Gesprächspartikeln nun und aber
  • 3.3.2.2  Die Antwortpartikeln ja und nein
  • 3.3.2.3  Die Interjektionen ach und ei
  • 3.3.3 Verbmodi
  • 3.3.4 Modalpartikeln
  • 3.3.4.1  Die Modalpartikeln ja und doch
  • 3.3.4.2  Die Modalpartikeln nur und denn
  • 3.3.5 Satzarten und -formen, Topologie und Ellipsen
  • 3.3.6 Feste Wendungen
  • 3.3.7 Interpretation hinsichtlich der Sprechereinstellung
  • VI Analysen
  • 1 Das (tapfere) Schneiderlein
  • 1.1 Historisch-narratologischer Hintergrund
  • 1.2 „Das tapfere Schneiderlein“ der Brüder Grimm
  • 1.2.1 Makrosituation
  • 1.2.1.1  KHM 1812
  • 1.2.1.2  KHM 1857
  • 1.2.1.3  Zwischenfazit
  • 1.2.2 Dialogizität
  • 1.2.2.1  KHM 1812
  • 1.2.2.2  KHM 1857
  • 1.2.2.3  Zwischenfazit
  • 1.2.3 Mikrosituation
  • 1.2.3.1  KHM 1812
  • 1.2.3.2  KHM 1857
  • 1.2.3.3  Zwischenfazit
  • 1.3 Das Märlein vom starken Schneiderlein bei Franz v. Schönwerth
  • 1.3.1 Makrosituation
  • 1.3.1.1  Textvarianten
  • 1.3.1.2  Zwischenfazit
  • 1.3.2 Dialogizität
  • 1.3.2.1  Textvarianten
  • 1.3.2.2  Zwischenfazit
  • 1.3.1 Mikrosituation
  • 1.3.1.1  Textvarianten
  • 1.3.1.2  Zwischenfazit
  • 1.4 Fazit
  • 2 Daumerlings Wanderschaft
  • 2.1 Historisch-narratologischer Hintergrund
  • 2.2 „Daumerlings Wanderschaft“ der Brüder Grimm
  • 2.2.1 Makrosituation
  • 2.2.1.1  Handschriftliche Urfassung 1810
  • 2.2.1.2  KHM 1812
  • 2.2.1.3  KHM 1857
  • 2.2.1.4  Zwischenfazit
  • 2.2.2 Dialogizität
  • 2.2.2.1  Handschriftliche Urfassung 1810
  • 2.2.2.2  KHM 1812
  • 2.2.2.3  KHM 1857
  • 2.2.2.4  Zwischenfazit
  • 2.2.3 Mikrosituation
  • 2.2.3.1  Handschriftliche Urfassung 1810
  • 2.2.3.2  KHM 1812
  • 2.2.3.3  KHM 1857
  • 2.2.3.4  Zwischenfazit
  • 2.3 „Das Daumennickerl“ bei Franz v. Schönwerth
  • 2.3.1 Makrosituation
  • 2.3.1.1  Textvarianten
  • 2.3.1.2  Zwischenfazit
  • 2.3.2 Dialogizität
  • 2.3.2.1  Textvarianten
  • 2.3.2.2  Zwischenfazit
  • 2.3.3 Mikrosituation
  • 2.3.3.1  Textvarianten
  • 2.3.3.2  Zwischenfazit
  • 2.4 Fazit
  • 3 Mädchen ohne Hände
  • 3.1 Historisch-narratologischer Hintergrund
  • 3.2 „(Das) Mädchen ohne Hände“ der Brüder Grimm
  • 3.2.1 Makrosituation
  • 3.2.1.1  KHM 1812
  • 3.2.1.2  KHM 1857
  • 3.2.1.3  Zwischenfazit
  • 3.2.2 Dialogizität
  • 3.2.2.1  KHM 1812
  • 3.2.2.2  KHM 1857
  • 3.2.2.3  Zwischenfazit
  • 3.2.3 Mikrosituation
  • 3.2.3.1  KHM 1812
  • 3.2.3.2  KHM 1857
  • 3.2.3.3  Zwischenfazit
  • 3.3 „Die böse (Stief-)Mutter“ bei Franz v. Schönwerth
  • 3.3.1 Makrosituation
  • 3.3.1.1  Textvarianten
  • 3.3.1.2  Zwischenfazit
  • 3.3.2 Dialogizität
  • 3.3.2.1  Textvarianten
  • 3.3.2.2  Zwischenfazit
  • 3.3.3 Mikrosituation
  • 3.3.3.1  Textvarianten
  • 3.3.3.2  Zwischenfazit
  • 3.4 Fazit
  • 4 Mädchen sucht seine Brüder
  • 4.1 Historisch-narratologischer Hintergrund
  • 4.2 „Mädchen sucht seine Brüder“ bei den Brüdern Grimm
  • 4.2.1 Makrosituation
  • 4.2.1.1  KHM Nr. 25: Die drei (sieben) Raben
  • 4.2.1.2  KHM Nr. 9: Die zwölf Brüder
  • 4.2.1.3  Zwischenfazit
  • 4.2.2 Dialogizität
  • 4.2.2.1  Die drei (sieben) Raben
  • 4.2.2.2  Die zwölf Brüder
  • 4.2.2.3  Zwischenfazit
  • 4.2.3 Mikrosituation
  • 4.2.3.1  Die drei (sieben) Raben
  • 4.2.3.2  Die zwölf Brüder
  • 4.2.3.3  Zwischenfazit
  • 4.3 „Die sieben Raben“ bei Franz v. Schönwerth
  • 4.3.1 Makrosituation
  • 4.3.1.1  Textvarianten
  • 4.3.1.2  Zwischenfazit
  • 4.3.2 Dialogizität
  • 4.3.2.1  Textvarianten
  • 4.3.2.2  Zwischenfazit
  • 4.3.3 Mikrosituation
  • 4.3.3.1  Textvarianten
  • 4.3.3.2  Zwischenfazit
  • 4.4 Fazit
  • 5 Brüderchen und Schwesterchen
  • 5.1 Historisch-narratologischer Hintergrund
  • 5.2 „Brüderchen und Schwesterchen“ der Brüder Grimm
  • 5.2.1 Makrosituation
  • 5.2.1.1  KHM 1812
  • 5.2.1.2  KHM 1857
  • 5.2.1.3  Zwischenfazit
  • 5.2.2 Dialogizität
  • 5.2.2.1  KHM 1812
  • 5.2.2.2  KHM 1857
  • 5.2.2.3  Zwischenfazit
  • 5.2.3 Mikrosituation
  • 5.2.3.1  KHM 1812
  • 5.2.3.2  KHM 1857
  • 5.2.3.3  Zwischenfazit
  • 5.3 Brüderchen und Schwesterchen bei Franz von Schönwerth
  • 5.3.1 Makrosituation
  • 5.3.1.1  Textvarianten
  • 5.3.1.2  Zwischenfazit
  • 5.3.2 Dialogizität
  • 5.3.2.1  Textvarianten
  • 5.3.2.2  Zwischenfazit
  • 5.3.3 Mikrosituation
  • 5.3.3.1  Textvarianten
  • 5.3.3.2  Zwischenfazit
  • 5.4 Fazit
  • 6 Aschenputtel
  • 6.1 Historisch-narratologischer Hintergrund
  • 6.2 „Aschenputtel“ der Brüder Grimm
  • 6.2.1 Makrosituation
  • 6.2.1.1  KHM 1812
  • 6.2.1.2  KHM 1857
  • 6.2.1.3  Zwischenfazit
  • 6.2.2 Dialogizität
  • 6.2.2.1  KHM 1812
  • 6.2.2.2  KHM 1857
  • 6.2.2.3  Zwischenfazit
  • 6.2.3 Mikrosituation
  • 6.2.3.1  KHM 1812
  • 6.2.3.2  KHM 1857
  • 6.2.3.3  Zwischenfazit
  • 6.3 „Aschenflügel“ bei Franz v. Schönwerth
  • 6.3.1 Makrosituation
  • 6.3.1.1  Textvarianten
  • 6.3.1.2  Zwischenfazit
  • 6.3.2 Dialogizität
  • 6.3.2.1  Textvarianten
  • 6.3.2.2  Zwischenfazit
  • 6.3.3 Mikrosituation
  • 6.3.3.1  Textvarianten
  • 6.3.3.2  Zwischenfazit
  • 6.4 Fazit
  • VII Auswertung
  • 1 Makrosituation
  • 1.1 Brüder Grimm: „Kinder- und Hausmärchen“
  • 1.2 Franz von Schönwerth: „Sitten und Sagen“ und Nachlass
  • 2 Dialogizität
  • 2.1 Brüder Grimm: „Kinder- und Hausmärchen“
  • 2.2 Franz von Schönwerth: „Sitten und Sagen“ und Nachlass
  • 3 Mikrosituation
  • 3.1 Brüder Grimm: „Kinder- und Hausmärchen“
  • 3.2 Franz von Schönwerth: „Sitten und Sagen“ und Nachlass
  • 4 Syntaktische Herausstellungsphänomene
  • 5 Zur Mehrfachfunktion von Anreden
  • 6 Der perlokutionäre Effekt
  • VIII Resümée
  • IX Ausblick
  • Tabellenverzeichnis
  • Abbildungsverzeichnis
  • Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

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I

Annäherung

Aschenputtel hätte ohne die Unterstützung der Tauben wohl nie auf den Ball des Prinzen gehen können. Die Anweisung an die Tauben (die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen1) ebnet ihr also buchstäblich den Weg zur Hochzeit mit dem Königssohn. Ohne die wiederholte Frage der Königin (Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die schönste im ganzen Land?2) hätte die böse Stiefmutter nie erfahren, dass Schneewittchen gar nicht getötet wurde, sondern noch am Leben ist. Und der schöne Prinz hätte nicht als Retter auftreten können. Voll Vorfreude im Wald tanzend verrät das Rumpelstilzchen seinen Namen, indem es ihn selbst ausruft: ach, wie gut ist dass niemand weiß dass ich Rumpelstilzchen heiß!3.

Prophezeiungen, die laut ausgesprochen werden, fungieren in Märchentexten zudem oftmals als performative Akte. Man denke nur an Dornröschen: Dass sich das Mädchen an seinem fünfzehnten Geburtstag an einer Spindel stechen und zwar nicht sterben, aber in einen hundertjährigen Schlaf fallen wird, ist mit der Äußerung der dreizehnten Fee besiegelt. Alle Vorkehrungen der königlichen Eltern können dagegen nichts mehr ausrichten.

Die Verbindung von Sprechen und handlungsentscheidenden Funktionen im Text scheint generell ein Spezifikum der Textsorte ‚Märchen‘ per se zu sein. Dass die Äußerungen von Aschenputtel und Schneewittchens Stiefmutter, Rumpelstilzchen und der dreizehnten Fee, mithin prominenten Protagonisten der Märchenszene, in idiomatisierter Form tradiert werden, spricht außerdem für die Bedeutung von Redeszenen in Märchentexten. Inwiefern jedoch beinhalten Redewiedergaben über die weithin bekannten festen Wendungen hinaus eine handlungsrelevante Dimension? Wer spricht mit wem in welcher Form und in welchem funktionalen Zusammenhang?

Angeregt durch die „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm und deren Intention, ein möglichst getreues Abbild einer vermeintlichen ‚Volkspoesie‘ in deutscher Sprache zu schaffen, kam im 19. Jahrhundert eine breitgefächerte Sammeltätigkeit in Gang. In diesem Kontext ist der Nachlass des Oberpfälzer Sagen- und Märchensammlers Franz Xaver von Schönwerth zu verorten. Kein geringerer ←21 | 22→als Jacob Grimm selbst soll über Franz von Schönwerth gesagt haben: „Wenn Einer da ist, der mich dereinst ersetzen kann, so ist es Schönwerth.“4

Ein entscheidender Unterschied besteht allerdings in der Ausgangssituation der jeweiligen Textsammlungen: Während die Märchen der Brüder Grimm einem bürgerlich-nationalen Kontext entstammen, stehen die „Märlein“ aus dem Schönwerth-Nachlass in Verbindung mit einem bäuerlichen Umfeld und fokussieren eine bestimmte bayerische Region, die Oberpfalz. In diesem Zusammenhang erhält die Frage nach der Inszenierung von Mündlichkeit im Rahmen der Versprachlichung von Redeszenen eine weitere Bedeutungsebene, die über den textuellen Rahmen hinausweist und die außersprachliche (bürgerlich sowie bäuerlich konstituierte) Wirklichkeit in den Blick nimmt.

Aufschluss über Versprachlichungsstrategien zur Inszenierung von Mündlichkeit sowie über die Funktion von Redeszenen im Verlauf des Handlungsgeschehens verspricht ein Vergleich sämtlicher Redebeiträge der handelnden Figuren in mehreren Textvarianten zu einheitlichen Motivkomplexen. Dabei bewegt sich die Frage nach dem – mehr oder weniger deutlich – inszenierten Sprachgebaren der handelnden Figuren in Märchentexten aus unterschiedlicher Provenienz im Spannungsfeld von Oralität und Literalität.

Einige Vorklärungen gehen der Untersuchung voraus.

Zunächst wird erläutert, unter welchen Bedingungen Sprechen als Handeln verstanden werden kann und welche Merkmale einen geschriebenen von einem gesprochenen Text unterscheiden. Zudem ist die Textsorte ‚Märchen‘ zu definieren sowie der poetologische Kontext und die Entstehungsgeschichte von Märchentexten im Rahmen der komplexen Wechselbeziehung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu klären.

Schließlich wird es darum gehen, die Arbeit in den gesellschaftspolitischen und sprachgeschichtlichen Kontext des 19. Jahrhunderts einzuordnen; ebenso sind das Untersuchungskorpus selbst und die jeweilige Forschungsintentionen der Sammlerpersönlichkeiten Jacob und Wilhelm Grimm sowie Franz Xaver von Schönwerth in einem historischen Zusammenhang zu bewerten.

Die Präsentation der Methodik zu den Analysen bezüglich des Sprechens im Märchen – und der damit verbundenen Inszenierung von Mündlichkeit in Märchentexten des 19. Jahrhunderts – runden das Kapitel der Vorklärungen ab. Mit der Formulierung der Forschungsfragen wird die vorliegende Arbeit im sprachwissenschaftlichen Diskurs verortet und die kulturwissenschaftliche Relevanz der Untersuchung aufgezeigt.


1Zitiert nach Rölleke 2009 (Brüder Grimm. Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand), 133.

2Ebd., 258.

3Ebd., 275.

4Zitiert nach Drascek 2011a, 7.

←22 | 23→

II

Vorklärungen

1 Sprechen als Handeln

Für die internationale Linguistik bildete die Hinwendung zu kommunikationsorientierten Fragestellungen ab etwa den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine weitreichende Zäsur. Traditionell beginnen viele Ausführungen zu diesem ‚pragmatic turn‘ mit einem Verweis auf Ludwig Wittgenstein und dessen vielzitierte sinngemäße Feststellung, wonach sich die Bedeutung eines Wortes aus dem Gebrauch in der Sprache erschließe. In dessen posthum erschienenen Werk „Philosophische Untersuchungen“ ist wortgetreu zu lesen: „Man sagt mir: ‚Du verstehst doch diesen Ausdruck? Nun also, – in der Bedeutung, die du kennst, gebrauche auch ich ihn.‘“ (Wittgenstein 1990 [1958], 161) Damit wird der Fokus bei der Frage nach dem Inhalt sprachlicher Zeichen verschoben und auf den Interpretationsspielraum der Kommunikationsteilnehmer gerichtet.

Bereits um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert etablierte sich eine neue Denkrichtung in der Philosophie: Der amerikanische Mathematiker, Philosoph und Logiker Charles Sanders Peirce plädierte als einer der Begründer der pragmatischen Maxime dafür, die Frage nach Wahrheit und Bedeutung von Begriffen und Aussagen an den Wirkungen einer Handlung zu orientieren (vgl. Peirce 1973 [1934]). Eine ähnliche Ausrichtung vertrat der Semiotiker und Philosoph Charles William Morris mit einem zeichentheoretischen Ansatz, wonach ein (sprachliches) Zeichen immer auch im Kontext seiner Interpretation betrachtet werden müsse:

Ein Zeichen ist vollständig analysiert, wenn seine Beziehungen zu den anderen Zeichen, zu seinen aktuellen oder potentiellen Denotaten und zu seinen Interpreten bestimmt worden sind. (Morrris 1979 [1938], 93)

Diesen Einbezug der Interaktanten berücksichtigte auch Karl Bühler in seinem Organon-Modell aus dem Jahr 1934: Abstrahierend von systemlinguistischen Fragestellungen nimmt es die außersprachliche Wirklichkeit in den Blick und etabliert eine dreifache Funktion des Sprachzeichens: Ausdruck, Appell und Darstellung (vgl. Bühler 1965, 24–33).

Interessanterweise jedoch sind es zunächst wiederum Philosophen, die das Phänomen, wonach jegliches Sprechen nicht unabhängig von einem Akt des Handelns stattfinden kann, weiterdachten: John L. Austin und John ←23 | 24→R. Searle, die nun das, was „Philosophen und Grammatiker früher ohne weiteres als ‚Aussagen‘ angesehen hätten, mit einer ganz neuen Sorgfalt untersucht“ (Austin 2010 [1962/1975], 25 f.) haben. Ausgehend von der Beobachtung, „daß viele Äußerungen, die wie Aussagen oder Feststellungen aussehen, eigentlich gar nicht oder nur zum Teil Informationen über Tatsachen vermitteln sollen“ (ebd., 26) ging es Austin um die Frage, welche Handlungen wir durch Sprache jeweils vollziehen. Damit war die Sprechakttheorie begründet.

Zunächst traf Austin eine grundlegende Unterscheidung: Dabei versteht er unter dem lokutionären Akt die lautlich geäußerte (= phonetischer Akt) und sprachlich geformte (= phatischer Akt) Äußerung an sich, der erst im Rahmen des rhetischen Aktes eine Bedeutung beigemessen wird. Der illokutionäre Akt dagegen fokussiert die Absicht hinter dem eigentlichen Äußerungsakt (vgl. auch Hildebrand 2010 sowie Ehrhardt/Heringer 2011).

John R. Searle präzisierte den rhetischen Akt nach Austin, indem er im Rahmen des propositionalen Aktes in Referenzakt (worüber wird etwas gesagt?) und Prädikationsakt (was wird gesagt?) differenziert. Ausgehend von seinem Vorschlag, Sprechen als eine komplexe Form eines Verhaltens nach bestimmten Regeln zu verstehen, entwickelte Searle eine systematische Sprechhandlungstheorie:

Diese Hypothese [vom Sprechen einer Sprache als regelgeleitete Form des Verhaltens] wird umgeformt zu der, daß eine Sprache sprechen bedeutet, Sprechakte auszuführen – Akte wie z. B. Behauptungen aufstellen, Befehle erteilen, Fragen stellen, Versprechungen machen usw. (Searle 1983 [1969], 30)

Für Searle galt der Sprechakt als grundlegende Einheit der Kommunikation. In diesem Sinne erstellte er eine Typologie der Sprechakte, welche neben dem Zweck des Sprechaktes und dem Verhältnis zwischen Wort und Welt insbesondere die Einstellung des Sprechers zur Proposition (als Terminus für den Inhalt einer Äußerung, bestehend aus Referenz und Prädikation) fokussiert. Insgesamt nahm Searle fünf verschiedene Klassen von Sprechakten an:

Tab. 1: Klassifikation der Sprechakte nach Searle in Anlehnung an Ehrhardt/Heringer (2011, 64)

Assertiva

behaupten,

mitteilen,

feststellen,

informieren,

beschreiben

Der Sprecher teilt dem Hörer mit, dass etwas der Fall ist, dass er eine Proposition für wahr hält.

Prototyp ist die Aussage.

Direktiva

befehlen,

bitten, raten,

fragen,

verbieten,

erlauben

Der Sprecher versucht, den Hörer dazu zu bringen, etwas Bestimmtes zu tun.

Prototypen sind die Frage und die Aufforderung.

Kommissiva

versprechen,

geloben,

ankündigen, schwören,

drohen

Der Sprecher verpflichtet sich selbst zu einer künftigen Handlung.

Prototyp ist versprechen.

Deklarativa

kapitulieren,

ernennen,

definieren,

missbilligen

Der Sprecher schafft durch seine Worte einen Sachverhalt.

Wie die Taufe sind diese Sprechakte meist performativ und an die Existenz von Institutionen gebunden.

Expressiva

Details

Seiten
416
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631858844
ISBN (ePUB)
9783631858851
ISBN (MOBI)
9783631858868
ISBN (Hardcover)
9783631851173
DOI
10.3726/b18620
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (August)
Schlagworte
Figurenrede Redeszene Dialogizität Anredeformeln Pragmatik Sprechereinstellung Verschriftlichung
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 416 S., 138 farb. Abb., 10 s/w Abb., 8 Tab.

Biographische Angaben

Christine Pretzl (Autor:in)

Christine Pretzl ist außerordentliche Professorin für Deutsche Sprachwissenschaft an der Philosophischen Fakultät der Südböhmischen Universität Budweis. Promotion und Habilitation erfolgten an der Universität Regensburg. Ihre Forschungsschwerpunkte bilden eine Schnittstelle von Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaft.

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