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Grundrechtsschutz durch Private in Deutschland am Beispiel des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes

von Johanna Vollkommer (Autor:in)
©2021 Dissertation 178 Seiten

Zusammenfassung

Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) erfuhr schon vor seinem Inkrafttreten im Jahr 2017 erhebliche Kritik, insbesondere im Hinblick auf den Grundrechtsschutz der Nutzer von sozialen Netzwerken. Die Autorin untersucht vor diesem Hintergrund, inwiefern die Netzwerkanbieter zum Schutz der Grundrechte ihrer Nutzer verpflichtet sind und wie effektiv die Nutzer auf der Grundlage von Verfassungsrecht, durch einfachgesetzliche Normen sowie vertragliche Regelungen bei der Nutzung von sozialen Netzwerken in ihren Grundrechten geschützt werden. Die Autorin kommt zu dem Ergebnis, dass dieser Schutz aufgrund der geltenden Rechtslage nur mangelhaft besteht. Im Anschluss macht sie Vorschläge zur Verbesserung des Grundrechtsschutzes, die sowohl das NetzDG selbst betreffen als auch eine Ausweitung der Grundrechtsbindung der Netzwerkanbieter anregen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright Page
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Dedication
  • Danksagung
  • Inhaltsübersicht
  • § 1 Einleitung und Fragestellung
  • I. Relevanz des Themas
  • II. Fragestellungen
  • § 2 Grundrechte im Anwendungsbereich des NetzDG
  • I. Relevante soziale Netzwerke
  • II. Übersicht über die relevanten Grundrechte
  • III. Grundrechte der Nutzer im Anwendungsbereich des NetzDG
  • 1. Meinungsfreiheit, Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG
  • a) Schutzbereich
  • b) Begrenzung der Meinungsfreiheit
  • c) Ergebnis
  • 2. Presse-​ und Rundfunkfreiheit, Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG
  • a) Pressefreiheit
  • b) Rundfunkfreiheit
  • (1) Verwendung von Rundfunktechnik
  • (2) Rundfunkprogramm
  • (3) Adressatenkreis
  • (4) Ergebnis
  • 3. Zensurverbot, Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG
  • a) Vorzensur
  • (1) Begriff der Vorzensur
  • (2) Vorzensur durch die Netzwerkanbieter
  • (3) Zwischenergebnis
  • b) Nachzensur
  • (1) Begriff der Nachzensur
  • (2) Faktische Zensur durch das NetzDG
  • (a) Argumente für eine faktische Zensur
  • (b) Abgrenzung zwischen Zweck einer Zensur und der Schrankenregelung
  • (3) Faktische Zensur im Anwendungsbereich der Nutzungsbedingungen
  • c) Fazit
  • 4. Kunst-​ und Wissenschaftsfreiheit, Art. 5 Abs. 3 GG
  • 5. Religionsfreiheit, Art. 4 GG
  • 6. Berufsfreiheit, Art. 12 GG
  • 7. Allgemeines Persönlichkeitsrecht
  • a) Betroffene Schutzgüter
  • b) Besondere Umstände der Onlinekommunikation
  • c) Begrenzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts
  • d) Ergebnis
  • IV. Zwischenergebnis
  • § 3 Grundrechtsschutz durch Private: Verfassungsrecht
  • I. Unmittelbare Bindung an Grundrechte
  • 1. Grundsatz
  • 2. Unmittelbare Bindung aufgrund von Privatisierung
  • a) Begriff der Privatisierung
  • b) Staatsaufgaben als Gegenstand der Privatisierung
  • (1) Abgrenzung von öffentlicher Aufgabe und Staatsaufgabe
  • (2) Quelle der Staatsaufgaben
  • (a) Kompetenz-​ und Zuständigkeitsvorschriften
  • (b) Grundrechte
  • (c) Staatsziele
  • c) Rechtsdurchsetzung i.S.d. NetzDG als Staatsaufgabe
  • (1) Begriff der Rechtsdurchsetzung
  • (2) Gesetzesvollzug durch Rechtsprechung
  • (3) Rechtsdurchsetzung durch Gesetzesvollzug
  • d) Rechtsdurchsetzung auf Grundlage des NetzDG
  • (1) Aufgabe der Netzwerkanbieter
  • (2) Vollzug von Strafrecht im eigentlichen Sinn
  • (a) Rechtswidrige Inhalte
  • (b) Unmittelbar Zivilrecht, mittelbar Strafrecht
  • (c) Sanktionscharakter von Entfernung und Sperrung
  • e) Weiterleitung von Inhalten an das BKA
  • f) Fazit
  • g) Staatsaufgabe im Anwendungsbereich des NetzDG
  • (1) Staatsaufgabe der Rechtsprechung
  • (2) Staatsaufgabe des Gesetzesvollzugs
  • h) Zwischenergebnis
  • 3. Ergebnis
  • II. Mittelbare Bindung an Grundrechte
  • 1. Mittelbare Drittwirkung
  • a) Lehre von der mittelbaren Drittwirkung
  • b) Rechtsprechung
  • 2. Schutzpflichtenlehre
  • a) Inhalt der Schutzpflichtenlehre
  • b) Zusammenhang zwischen Schutzpflichten und mittelbarer Drittwirkung
  • 3. Auswirkungen der mittelbaren Grundrechtsbindung
  • a) Wirkungsweise der mittelbaren Bindung
  • b) Unterschiede zur unmittelbaren Grundrechtsbindung
  • c) Schutzniveau und Weite der mittelbaren Grundrechtsbindung
  • d) Schutzlücke aufgrund nur mittelbarer Grundrechtsbindung
  • 4. Zwischenergebnis
  • III. Ergebnis
  • § 4 Grundrechtsschutz durch Private: Einfaches Recht
  • I. NetzDG
  • 1. Einleitung
  • 2. Schutzvorschriften im Rahmen des NetzDG
  • a) Schutz des Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG durch Löschpflichten nach § 3 Abs. 2 NetzDG
  • (1) Begriff der rechtswidrigen Inhalte
  • (2) Erfüllung des objektiven bzw. subjektiven Tatbestands
  • (3) Offensichtlich rechtswidrige Inhalte
  • (4) Sozialadäquanzklauseln
  • (5) Erweiterte Löschpflichten durch das NetzDG
  • (6) Ergebnis
  • b) Schutz des Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG durch Schulungspflicht nach § 3 Abs. 4 NetzDG
  • c) Schutz des Art. 5 Abs. 1 GG durch Übertragung von Entscheidungen auf Einrichtungen der Regulierten Selbstregulierung
  • (1) Grundlagen der Selbstregulierung
  • (2) Regulierte Selbstregulierung im Anwendungsbereich des NetzDG
  • (3) Ergebnis
  • d) Schutz des Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG durch Änderung der §§ 14 ff. TMG und des § 3a Abs. 5 NetzDG
  • e) Schutz des Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG durch § 5 NetzDG
  • f) Zwischenergebnis
  • 3. Gefährdung der Grundrechte von Nutzern durch Vorschriften des NetzDG
  • a) § 3 Abs. 2 Nr. 3a NetzDG: Keine Beteiligung der Betroffenen
  • b) Kurze Prüffristen des § 3 Abs. 2 Nr. 2 und 3 NetzDG
  • c) Prüfung durch juristische Laien
  • d) Aufspüren von Inhalten durch Algorithmen und Künstliche Intelligenz
  • e) Selbstzensur der Nutzer
  • f) Keine verpflichtende Beauftragung von Einrichtungen der Regulierten Selbstregulierung
  • g) Ungleichgewicht im Schutz der betroffenen Grundrechte
  • h) Unausgewogenes Machtverhältnis
  • 4. Ergebnis
  • II. Schutz der Grundrechte durch zivilrechtliche Vorschriften
  • 1. §§ 823, 1004 BGB
  • a) Voraussetzung der Störerhaftung
  • b) Einschränkung der Haftung
  • 2. Ergebnis
  • III. Schutz der Grundrechte durch Vorschriften des StGB
  • IV. Fazit
  • § 5 Grundrechtsschutz durch Private: Vertragliche Regelungen
  • 1. Nutzungsbedingungen
  • a) Nutzungsbedingungen zum Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts
  • b) Nutzungsbedingungen zum Schutz der Meinungsfreiheit
  • c) Intensität des Schutzes der einzelnen Grundrechte vor dem Hintergrund der Löschpraxis
  • d) Fazit
  • 2. Schutz der Grundrechte durch die Geltung des § 307 BGB
  • a) Inhalt des § 307 BGB
  • b) Durchsetzung des § 307 BGB
  • c) Fazit
  • 3. Bedeutung der Rechtsprechung für den Schutz der Grundrechte der Nutzer
  • V. Ergebnis
  • § 6 Verbesserung des Grundrechtsschutzes durch Netzwerkanbieter
  • I. Änderungen des NetzDG zur Verbesserung des Grundrechtsschutzes durch die Netzwerkanbieter
  • 1. Regulierte Selbstregulierung
  • 2. Rechte der Nutzer zur Wiederherstellung von entfernten Inhalten
  • 3. Erweiterte Pflichten für den Zustellungsbevollmächtigten
  • 4. Längere Fristen
  • 5. Veröffentlichung der Entscheidungen über Löschung
  • 6. Ausbau der Strafverfolgung
  • II. Alternative zum NetzDG
  • 1. Überblick
  • 2. Änderungen des Strafrechts
  • 3. Änderungen des Telemedienrechts
  • 4. Aufhebung des NetzDG
  • 5. Stellungnahme
  • III. Zwischenergebnis
  • IV. Änderung des einfachen Rechts
  • V. Erweiterte mittelbare Drittwirkung
  • 1. Voraussetzungen der erweiterten mittelbaren Grundrechtsbindung
  • a) Private schaffen Infrastruktur für die Grundrechtsausübung
  • b) Stellenwert des Grundrechts im Rahmen des Grundgesetzes
  • c) Bestehen einer Schutzlücke
  • d) Fazit
  • 2. Übertragung der Voraussetzungen auf soziale Netzwerke
  • a) Soziale Netzwerke als Infrastruktur zur Grundrechtsausübung
  • b) Stellenwert der betroffenen Grundrechte
  • c) Schutzlücke im Rahmen der sozialen Netzwerke
  • 3. Folgen der erweiterten mittelbaren Grundrechtsbindung
  • 4. Verbesserung des Schutzniveaus im Einzelnen
  • a) Anwendungsbereich der Nutzungsbedingungen
  • b) Anwendungsbereich des NetzDG
  • 5. Ergebnis
  • 6. Argumente für erweiterte mittelbare Grundrechtsbindung
  • a) Monopol der privaten Kommunikationsräume
  • b) Vergleichbarkeit mit staatlicher Macht
  • c) Netzwerkanbieter als „Global Player“
  • 7. Fazit
  • VI. EU-​Gesetzgebung: „Digital Services Act“
  • 1. Inhalt des Digital Services Acts
  • 2. Verhältnis zum NetzDG
  • 3. Fazit
  • § 7 Ausblick
  • § 8 Zusammenfassung der Thesen
  • Literatur
  •  

←16 | 17→

§ 1 Einleitung und Fragestellung

I. Relevanz des Themas

Den Grundrechten kommt in der deutschen Verfassungsordnung eine herausragende Bedeutung zu. Seit Inkrafttreten des Grundgesetzes entwickelte sich mit Hilfe der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in diesem Bereich eine Dogmatik, auf deren Grundlage die Grundrechte der Bürger jedenfalls gegenüber Eingriffen von Seiten des Staates effektiv geschützt werden. Gleichzeitig zeigt sich in bestimmten Bereichen, dass es an einem entsprechenden Schutz vor Beeinträchtigungen durch andere Grundrechtsträger fehlt. Besonders deutlich werden die Gefahren durch Private an Stellen, an denen staatliche Organe kaum oder keine Kontroll- und Einflussmöglichkeiten haben. Dies gilt im Besonderen für den Bereich des World Wide Web, das nicht nur Staatsgrenzen überschreitet1, sondern auch weitgehende Freiheit durch Anonymität und die hohe Geschwindigkeit der Kommunikation gewährt. In diesem Zusammenhang kommt den Anbietern sozialer Netzwerke eine herausragende Bedeutung zu. Seit ihrer Etablierung lösen sie die klassischen Kommunikations- und Informationswege immer mehr ab und vereinen dabei eine beeindruckende Zahl von Nutzern auf sich. Der räumliche Anwendungsbereich der Meinungs- und Informationsfreiheit konzentriert sich deshalb inzwischen bei diesen sozialen Netzwerken.

In diese Ausgangslage ist das Netzwerkdurchsetzungsgesetz - kurz NetzDG - getreten. Das Gesetz war bereits Gegenstand vieler Diskussionen, als es sich noch um einen Entwurf handelte. Auch nach dem Beschluss über das NetzDG am 01. September 20172 änderte sich daran zunächst nicht viel. Dabei wurde über das Gesetz nicht nur im Inland diskutiert, sondern auch weit über die deutschen Grenzen hinaus. Das NetzDG soll sogar in Russland als Vorbild für einen Gesetzentwurf zur Regelung der Löschung von rechtswidrigen Inhalten gedient haben.3 Inzwischen wurde bereits eine Verschärfung des NetzDG beschlossen. Für bestimmte rechtswidrige Inhalte besteht seitdem nicht mehr nur eine ←17 | 18→Löschpflicht, sondern zusätzlich eine Meldepflicht an das Bundeskriminalamt (BKA), um eine effektivere Strafverfolgung zu ermöglichen.4

Der Titel des Gesetzes – Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken – gibt die allgemeine Zielrichtung des Gesetzes vor. Es soll der Bekämpfung eines nach Ansicht des Gesetzgebers bestehenden Defizits bei der Durchsetzung des geltenden Rechts dienen. Dabei geht es nach der Gesetzesbegründung insbesondere um die Bekämpfung von Hasskriminalität und „Fake News“.5 Die Netzwerkanbieter trifft auf Grundlage des NetzDG u.a. die Pflicht, bei Meldung eines Inhalts als rechtswidrig diesen am Maßstab bestimmter im Gesetz genannter Straftatbestände zu überprüfen und ggf. zu entfernen bzw. diesen Inhalt an das BKA zu melden. Dabei ist das Ziel der Durchsetzung der Rechtsordnung in sozialen Netzwerken grundsätzlich als positiv zu bewerten, da es im Rahmen der Onlinekommunikation insbesondere zu Verletzungen der Persönlichkeitsrechte von Betroffenen kommt. Bedenken ruft das Gesetz aber im Hinblick auf den Schutz der Meinungsfreiheit hervor. An diesem Punkt setzen auch die meisten Kritiker des NetzDG an, die eine Gefährdung der Meinungsfreiheit darin sehen, dass es den Netzwerkanbietern einerseits die eigentlich Richtern obliegende Entscheidung über die strafrechtliche Bewertung von Inhalten überträgt und dabei andererseits keine ausreichenden Schutzmechanismen für die Meinungsfreiheit vorhält.6 Dass die Frage nach der Rechtswidrigkeit eines Inhalts schwierig zu beantworten ist, zeigen nicht nur lange Straf- und Zivilverfahren mit oftmals umstrittenen Entscheidungen über die Frage, ob eine Äußerung noch von der Meinungsfreiheit gedeckt ist. Auch wenn in den Medien über die Löschung bestimmter Inhalte bzw. die Sperrung von Accounts in sozialen Netzwerken berichtet wird, herrscht Uneinigkeit darüber, ob die jeweilige Maßnahme zu Recht erfolgte.7 Dabei wird deutlich, dass der Grat ←18 | 19→zwischen der rechtmäßigen Ausübung der Meinungsfreiheit und der Strafbarkeit einer Äußerung bzw. der Persönlichkeitsverletzung durch eine Äußerung oft schmal ist und die Besorgnis um den ausreichenden Schutz der Meinungsfreiheit im Anwendungsbereich des NetzDG ihre Berechtigung hat.

Diese Frage nach dem Schutz von Grundrechten im Rahmen der Nutzung von sozialen Netzwerken ist für eine große Zahl von Nutzern in Deutschland von Bedeutung in Anbetracht der Tatsache, dass ein Großteil der Kommunikation, des Meinungsaustausches und der Informationsbeschaffung inzwischen über die sozialen Netzwerke erfolgt. In einer Krisenzeit wie z.B. der weltweiten Verbreitung des Coronavirus suchen Millionen von Menschen die sozialen Netzwerke auf, um sich dort Informationen zu beschaffen und Meinungen zu bilden bzw. zu verbreiten. In solchen Zeiten wird besonders deutlich, wie wichtig eine vielfältige, ausgewogene Berichterstattung und der freie Austausch von Ansichten sind. Der Kreis der durch das NetzDG Betroffenen auf der einen und die Macht und Bedeutung der Anbieter von sozialen Netzwerken auf der anderen Seite sind damit sehr groß. Allein Facebook hatte in Deutschland im ersten Quartal 2020 32 Millionen aktive Nutzer.8 Gerade der hohe Stellenwert der sozialen Netzwerke für den modernen Meinungsaustausch macht dieses Gesetz so brisant. Dem Staat wird deshalb vorgeworfen, er ziehe sich mit den Regelungen des NetzDG aus einem für die Gesellschaft wesentlichen Bereich zurück und überlasse die Erfüllung seiner Aufgaben den privatrechtlich organisierten Internetunternehmen.9 Aus diesem Grund könnte zu befürchten sein, dass nicht mehr nur der Staat über erhebliche Macht gegenüber dem einzelnen Bürger verfügt, sondern auch Private zunehmend staatsgleiche Macht ausüben. Aufgrund der geltenden Grundrechtsdogmatik in der deutschen Verfassung könnte dies zu einem geringeren Grundrechtsschutzstandard führen, der gerade im Bereich der Meinungsfreiheit fatal wäre.

II. Fragestellungen

Vor dem Hintergrund der angesprochenen Kritik stellt sich die Frage, wie wirksam der Grundrechtsschutz im Anwendungsbereich des NetzDG tatsächlich ist. ←19 | 20→Betroffen sind dabei insbesondere zwei Grundrechte, mit denen sich die Arbeit schwerpunktmäßig befassen wird. Auf der einen Seite wird von Äußerungen regelmäßig das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG berührt. Dem gegenüber steht meist das Grundrecht der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG. Bei Kommunikation und Informationsaustausch in sozialen Netzwerken sind Kollisionen zwischen diesen beiden Grundrechten vorprogrammiert, so dass ein Ausgleich dieser Rechte erforderlich ist.10 Da entsprechende Auseinandersetzungen vor allem im Verhältnis zwischen Privaten stattfinden11, obliegt es grundsätzlich Richtern an Zivil- und Strafgerichten bei der Prüfung von Schadensersatz- oder Unterlassungsansprüchen bzw. im Rahmen einer Strafverfolgung über die rechtliche Einordnung von Äußerungen unter angemessener Berücksichtigung der relevanten Grundrechte zu entscheiden. Nach den Vorgaben des NetzDG entscheiden aber nicht Gerichte über die Rechtswidrigkeit eines Inhalts, sondern jedenfalls zunächst die Anbieter sozialer Netzwerke. Dabei ist fraglich, ob durch den Einsatz von juristischen Laien wie den Netzwerkanbietern zur Entscheidung über die Frage der Rechtswidrigkeit, die durch den Betrieb ihres sozialen Netzwerkes in erster Linie eigene wirtschaftliche Interessen verfolgen, überhaupt ein angemessener Ausgleich zwischen den berührten Rechten erreicht werden kann.

Kern des Problems ist damit das Schutzniveau der Grundrechte im räumlichen Anwendungsbereich der sozialen Netzwerke, insbesondere im Geltungsbereich des NetzDG. Es ist die Frage zu beantworten, wie Nutzer sozialer Netzwerke durch die privaten Netzwerkanbieter in ihren Grundrechten geschützt werden und ob dadurch ein ausreichender Grundrechtsschutz gewährt wird. Anknüpfungspunkt zur Beantwortung dieser Fragen sind die einschlägigen Normen auf den unterschiedlichen Ebenen der Normenhierachie. Es ist zu untersuchen, auf welche Weise und mit welcher Effektivität Nutzer sozialer Netzwerke durch die Netzwerkanbieter auf der Grundlage von Verfassungsrecht, durch einfachgesetzliche Normen und vertragliche Regelungen in den Grundrechten geschützt werden, die im Bereich der Nutzung von sozialen Netzwerken von Relevanz sind. Die Tatsache, dass der Staat die Regulierung der Onlinekommunikation u.a. mit dem NetzDG gesellschaftlichen Kräften überlässt, könnte zu einem sinkenden Niveau des Grundrechtsschutzes in diesem Bereich führen. Die dadurch eventuell entstehenden Schutzlücken machen es möglicherweise erforderlich, ←20 | 21→den Grundrechtsschutz durch Private zu verbessern, um im Bereich der Onlinekommunikation für einen ausreichend hohen Grundrechtsschutzstandard zu sorgen.

1 Schoch, Die Rolle des Staates in der Informationsgesellschaft, in: Leipold (Hrsg.), Rechtsfragen des Internets und der Informationsgesellschaft, S. 83 (85).

2 BGBl. I, S. 3352.

3 https://www.heise.de/tp/features/Russland-kopiert-deutsches-Netzwerkdurchsetzungsgesetz-3773642.html [04.08.2020].

4 Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität, BGBl. I Nr. 13 S. 441 ff.

5 Gesetzentwurf der Fraktionen CDU/CSU und SPD, BT-Drs. 18/12356, S. 1.

6 So z.B. die Stellungnahme von Mihr für die Anhörung im Rechtsausschuss des Bundestages am 19.06.17 von Reporter ohne Grenzen, S. 7 f., https://www.reporter-ohne-grenzen.de/fileadmin/Redaktion/Dokumente/Internetfreiheit/20170619_Stellungnahme_oeA_BT-Rechtsausschuss_NetzDG_Reporter_ohne_Grenzen.pdf [04.08.2020]; zur Vereinbarkeit des NetzDG mit Art. 5 GG auch das Gutachten zur Verfassungsmäßigkeit des Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken i.d.F. vom 16. Mai 2017 – BT-Drs. 18/12356, Ladeur/Gostomzyk, Mai 2017, S. 76 ff.

7 Z.B. http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/netzdg-beatrix-von-storch-und-alice-weidel-haben-twitter-aerger-15369259.html; http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/twitter-sperrt-titanic-magazin-wegen-storch-satire-15371919.html [04.08.2020].

Details

Seiten
178
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631863794
ISBN (ePUB)
9783631863800
ISBN (MOBI)
9783631863817
ISBN (Paperback)
9783631861912
DOI
10.3726/b18816
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (September)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 178 S.

Biographische Angaben

Johanna Vollkommer (Autor:in)

Johanna Vollkommer studierte Rechtswissenschaften an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen. Sie absolvierte die Zweite Juristische Staatsprüfung am Landgericht Tübingen vor Abschluss der Promotion an der Eberhard-Karls-Universität.

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