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Zur Funktion und Bedeutung des Chors im zeitgenössischen Drama und Theater

von Paul Martin Langner (Band-Herausgeber:in) Joanna Gospodarczyk (Band-Herausgeber:in)
©2019 Sammelband 206 Seiten

Zusammenfassung

Die Rückkehr des Chores in die Theaterstücke und Inszenierungen der Gegenwart macht erkennbar, eine wie hohe Aktualität dieses seit der Antike bekannte Strukturelement des Dramas hat. Dabei werden die antiken Formen für die Bedingungen der Gegenwart überarbeitet und wirkungsvoll weiterentwickelt. Die Beiträge des Bandes leuchten vielfältige Formen der Aneignung und Neubildung aus. Die Position des Chores zur Bühnenhandlung, seine Dimensionen, Artikulationsweisen, Bewegungsmomente werden ebenso in den Aufsätzen diskutiert, wie seine Stellung zur Geschichte und sein Beitrag zum Verhältnis von Individualität und Gemeinschaft. In den Ergebnissen des Bandes wird deutlich, von welcher Wichtigkeit der Chor für das gegenwärtige Drama und die aktuelle Theaterarbeit ist.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • Maria Kuberg: „Der Chor hebt ab“ – Zur Theorie des Chors in René Polleschs Theater
  • Felix Lempp und Kerstin Mertenskötter: „Es war nie für euch! Es war immer für uns.“ – Strategien der chorischen Gemeinschaftsbildung in René Polleschs Brecht-Aktualisierung Kill your Darlings! Streets of Berladelphia
  • Joanna Gospodarczyk: Die Rolle des Chores in zeitgenössischen Inszenierungen der ausgewählten Tragödien Aischylos
  • Micha Braun: „Wir sind die Kinder der Maschinenrepublik“ Zum Chor als gespaltenem Geschichtssubjekt bei Josse de Pauw und Claudia Bauer
  • Anna Kowalewska: Zur Funktion und Bedeutung des Chors in Wir sind keine Barbaren!
  • Maja Dębska: „Sie haben den Ohren die Stille verboten“.
  • Hans-Christian Stillmark: Bemerkungen und Beobachtungen zum Chor im deutschen Drama
  • Karol Sauerland: Tadeusz Kantors Umarła klasa (Tote Klasse) – ein einziger Chor?
  • Sebastian Dusza: Zur interaktionistisch-kommunikativen Rolle des Chores in Wolfgang Bauers Einakter Lukrezia
  • Oliver Pfau: Das Frauenquartett der «Hundsmäuligen» in Ewald Palmetshofers Stück die unverheiratete – funktionale Stimmen
  • Tobiasz Janikowski: Chorartige Stimmen und Chor-Imitationen in den Dramen von Thomas Bernhard. Texte und Inszenierungen
  • Magdalena Idzi: Chor im Peter Weiss’ Marat/Sade Drama
  • Frank Starke: Mit Puppen und schlagkräftigem Chor – Stefan Puchers neue Sicht auf Peter Weiss’ Marat/Sade am Deutschen Theater in Berlin.

Einleitung

Der Chor hat seit seiner Entstehung in der griechischen Antike als ein komplexes und multifunktionales Element im Drama Bestand bis in die unmittelbare Gegenwart. Dennoch war dieses Phänomen seit den Tagen von Aischylos und Euripides Wandlungen unterworfen. Es wäre ein interessanter Versuch, die Rezeption antiker oder Konstruktion eigener Chortraditionen in den mittelalterlichen, geistlichen Spielen nachzugehen. Dieser historische Aspekt kann hier nicht einmal in Andeutungen sichtbar gemacht werden.

Von der Erscheinungsform bezeichnete den Chor bereits im antiken Drama eine Mittelstellung zwischen dem dramatischen Vorgang auf der Skena und dem Publikum. Er konnte als Stimme existieren, die außerhalb des dramatischen Geschehens für den Zuschauer neue Räume eröffnete, konnte Distanz schaffen, konnte aber die Figuren zugleich zu Handlungen bestimmen. Damit griff er in den dramatischen Vorgang ein, um aber nicht auch Teil der Handlung zu sein. Dadurch war der Chor stets ein wichtiges Mittel der Dramatiker zur Kommunikation zwischen Bühnenvorgang und Publikum, aber er war eben deshalb auch mit komplexen Funktionen versehen. Kaum war anzunehmen, das hat die Chor-Tagung vom März 2017 deutlich unterstrichen, dass dieses zentrale dramatische Moment durch eine einzige Erscheinungsweise oder Funktion deutbar sein kann. Neben theoretisch orientierten Beiträgen standen Fallstudien, die das Wiederaufgreifen des Chors als Bühnenelement in der Gegenwart diskutierten. Drei Bereiche, die in den Beiträgen angesprochen wurden, rückten ins Zentrum der Betrachtung. So stellten sich wiederholt Fragen nach den Funktionen des Chores, seinen Erscheinungsformen und Merkmalen.

Die in diesem Band versammelten Analysen, Inszenierungs-Beispiele und Überlegungen haben einige der Möglichkeiten sichtbar gemacht, die den Chor im zeitgenössischen Drama auszeichnen und haben dabei zwei wesentliche Voraussetzungen zeigen können. Einerseits scheinen einige wenige Aspekte des Chors von seiner historischen Entwicklung abgeleitet, wiewohl seine ambivalente Position zum Bühnengeschehen erhalten blieb. Andererseits ist der Chor charakterisiert durch eine Bipolarität auf der Bühne resp. bei der Inszenierung. Der Chor artikuliert stets einen Gegenpol zu den Vorgängen, Handlungen, Figuren und Szenen auf der Bühne oder im Verlauf einer Inszenierung. Den spannungsvollen Positionen, die der Chor einnehmen kann, entspricht es, dass er auch im zeitgenössischen Drama oder bei Regiearbeiten der Gegenwart häufig nicht in die Handlung oder den Vorgang integriert zu sein scheint, zugleich gibt ←7 | 8→es interessante Produktionen, die ihn in das Bühnengeschehen unmittelbar einbeziehen. Von beiden Möglichkeiten berichten die Beiträge.

Um eine Vorstellung von den vielschichtigen Bedingungen, die den Chor auszeichnen, zu bekommen, beschreibt Kuberg ihn, ausgehend von der Wortgeschichte des „theorein“, als aus der Sehnsucht nach der Schau Gottes oder des Heiligen entstanden, damit richteten sich die Augen der Betrachter in der griechischen Tragödie auf den Chor, der stellvertretend für die Stimme Gottes seine Texte artikulierte und das Handeln der Figuren bestimmte. Insofern lenkt der Einsatz des Chores den Blick des Betrachters auf die exemplarische Handlung der Figuren. Übertragen von der sakralen Inszenierung (dem Ritus) auf das antike Drama ergibt sich, dass die Lenkung der Wahrnehmung der Betrachter durch den Chor, ihm die Aufgabe zuschreibt, den Verlauf des Dramas zu akzentuieren, ja sogar die Handlung auf der Bühne in gewisser Weise erst möglich zu machen, wie moderne Adaptationen erkennen lassen. (Gospodarczyk) Der Chor scheint also den Raum aufzuspannen, in dem sich die Handlung erst vollziehen kann. (Braun/Sauerland) Als außerhalb des Dramas stehende Institution und/oder in seiner transzendenten Positionierung kann der Chor sogar zum Totentanz gegenüber den Figuren erscheinen. Diese Möglichkeiten werden auch in zeitgenössischen Regieleistungen und Dramen reflektiert, wie es der leider nicht mehr abgeschlossene Beitrag von Krzysztof Wałczyk anhand der Berliner Inszenierung der Matthäus-Passion während der Tagung beschrieb. Dazu wächst dem Chor im modernen Drama die Möglichkeit zu, auch Signalsprachen zu nutzen, wie es diesseitig betont Lempp und Mertenskötter beschreiben können.

Weiterhin ist von Bedeutung, dass während der Entwicklung des Dramas von der Antike an, das Individuum, das durch den Schauspieler verkörpert wird, aus dem Chor entlassen wurde. Die einzelne Figur tritt aus dem Chor als Verband heraus und entwickelt eine eigenständige, subjektive Position im Drama. Während die Figur sich durch Handlung charakterisiert, bleibt der Chor in seiner distanzierten Haltung zum dramatischen Geschehen unabhängig vom Bühnenvorgang, wiewohl er ihn beeinflussen oder kommentieren kann. Das macht einsichtig, dass dem Chor eine antithetische Instanz im Drama zugeschrieben werden kann, wohingegen das Subjekt oder die Figur ein Schicksal erleidet, das der Chor von seiner Außenposition gegenüber der dramatischen Binnenhandlung kommentiert. Während der Protagonist im Drama scheitern und untergehen kann, bleibt der Chor als Instanz über das Scheitern und den Tod der personae dramatis hinaus bestehen. Er behält das letzte Wort, erläutert, klagt, stellt infrage. Hieraus erklärt sich, dass der Chor die Möglichkeit erhält, Normen, die im Drama oder auf der Bühne gelten, zu setzen. Er entwickelt soziale Bezüge zu den Figuren oder ordnet deren Handlungsrahmen. In seiner Entgegensetzung ←8 | 9→zum dramatischen Subjekt gelingt es dem Chor auch die Existenz von Massen in verschiedenen Textvorlagen und Regieleistungen zu formulieren.

Mit dieser den Figuren entgegenstehenden Position des Chores wird die Fragilität und problematische Haltung des Ichs der Figur im Drama ablesbar. Das Ich der Bühnenfigur bleibt isoliert und ist dem Tod unterworfen. Der Chor steht dagegen im Kollektiv und kommentiert sogar noch den Tod der Figuren. Damit entsteht die bereits oben erwähnte Bipolarität zwischen der/den Figur(-en) und dem Chor auf der Bühne. Diese Bipolarität erklärt auch, dass es zwischen dem Chor und den Figuren Prozesse der Exklusion, aber auch in Inszenierungen der Gegenwart der Versuch von Auflösungstendenzen des Subjektiven geben kann (wie an einer Inszenierung von Pollesch gezeigt werden konnte). Damit kommt die soziale Dimension und derer Diskursivität in den dramatischen Arbeiten und Entwicklungen der Figuren ins Spiel. Der Chor schafft die diskursive Ebene, auf der die einzelnen Figuren als auch ihr Schicksal vorgeführt und diskutierbar werden. Die Diskursivität der Figuren, aber auch ihre Handlung setzt voraus, dass die Normensetzung durch die Narration von Werten vollzogen wird. Diese Normensetzung ruft zudem eine Selbstvergewisserung des Chores mit sich hervor und bietet dem Publikum einen Leitfaden zur Orientierung an.

Dennoch kann der Chor mehrere Rollen annehmen, er kann verfremden, d.h. an den Figuren auf eine außerhalb des Geschehens existierende Normeninstanz hinweisen. Außerdem kann er als Kommentator auftreten, der die Vorgänge für den Zuschauer reflektiert und damit auch als rationale Stimme fungiert. Für den Zuschauer kann der Chor darüber hinaus als Reflektor zum Bühnengeschehen und als Kontrollinstanz der Normen dienen. Gerade die Möglichkeit der Kontrolle lässt den Chor gegenüber dem dramatischen Personal aber auch gegenüber den Zuschauern als Provokateur auftreten.

Eine weitere Variante, die sich aus der Konstruktion des Chores und aus seiner Gegenüberstellung zum dramatischen Subjekt ergibt, ist die Möglichkeit, die Funktion des Chores im Publikum aufgefangen und realisiert zu sehen, worauf u.a. Sebastian Dusza bei Wolfgang Bauer aufmerksam macht, wenn er den Chor als begutachtende Experten im Zuschauerraum beschreibt.

Bei den Erscheinungsformen des Chores zeigt sich, dass es sinnvoll ist, zwischen den performativen Darstellungsmerkmalen der Bühnenhandlung und den konzeptionell im Text angelegten Erscheinungsformen des Chores zu unterscheiden, worauf verschiedene Beiträge hinweisen.

Während der Tagung wurden insbesondere vier Formen des Chores diskutiert. Seine sprachlichen Möglichkeiten, aber auch die körperliche Präsenz des Chores auf der Bühne und seine nonverbale Wirkung manifestieren sein Erscheinen. So kann der Chor mit rhythmischem Verssprechen auftreten, wie ←9 | 10→im antiken Drama und seinen zeitgenössischen Adaptionen, er kann sich einerseits als unisono sprechender Chor in Szene setzen oder andererseits Steigerung durch „chorisches Durcheinander“ bewirken. Zudem kann er in Chorpartieren oder beim Wettstreit in verschiedene Gruppen aufgeteilt werden. Besonders in der Moderne kann der Chor darüber hinaus zum Parodieren und damit zur Schaffung kritischer Distanz genutzt werden.

Der Chor gehört nicht, wie klar geworden ist, zu den handlungsführenden Momenten des Dramas. Selbst in einer klassischen Tragödie wie der Braut von Messina von Schiller, in der der Chor in doppelter Funktion auftritt, also einerseits die Handlung aufhält, Zeit und Kausalität verkehrt, indem er kommentiert, erkennt man andererseits, in seinen Forderungen an die Protagonisten, wie er Momente der Handlung bestimmt. Die Distanzierungsleistung für den Zuschauer, aber auch die Verschärfung des Konflikts deuten seinen Einfluss auf Verlauf und Wirkung des Dramas an. Dazu ist die gesamtkörperliche Präsenz des Chores ins Auge zu fassen. Immer ist ein Teil des Bühnenraumes durch den Chor besetzt, in dem sich die Einzelfigur nicht aufhält, wo der Chor sich eben etabliert, auch wenn er – wie in z.B. der Medea-Inszenierung von Michael Thalheimer (2015) – auf eine Einzelfigur reduziert erscheint. Dieses Moment macht die Raumkomponente des Chores sichtbar. Als weiteres Merkmal ist seine gestische Markierung zu bemerken und zu analysieren. Seine textliche Leistung kann sowohl aus intertextuellen Allusionen bestehen als auch als Refrain zum Text der Figuren fungieren. In dieser Form kann er die individuellen Stimmen der Figuren im Chor durch Übereinanderlegen und Vereinheitlichen reflektieren und subsumieren.

Der Chor als antikes Bühnenelement, mit religiösen und rituellen Konnotationen versehen, führt bis in die Gegenwart ein wechselvolles und vielschichtiges Dasein in den Theaterleistungen. Dabei wird deutlich, besonders in seiner Wiederaufnahme bei Schiller nach seiner tendenziellen Ablehnung durch Martin Opitz und seiner völlig anderen Funktion in den Theatertexten bei Andreas Gryphius u.a. im Barock, dass der Chor in der Gegenwart wirkungs- und bedeutungsvolle Akzente in der Theaterarbeit setzt. Er verschärft und diskutiert noch immer die Positionierung des Einzelnen, er artikuliert die Gefährdung der subjektiven Position oder akzentuiert sogar seine Nivellierung, er zeigt dies aber mit veränderten Mitteln. Diese Möglichkeiten und Mittel, die den Dramatikern und Regisseuren zur Verfügung stehen, haben sich gewandelt und aktualisiert. Darauf weisen die Beiträge dieses Bandes deutlich hin. Sie bestätigen, dass jeder Versuch, den Chor aus einer Quelle oder in einer einzigen Richtung deuten zu wollen, zu kurz greift. Er stellt ein komplexes Moment dar, das vielgestaltig ←10 | 11→Funktionen im Drama und auf der Bühne übernimmt. Anregungen für die Sicht dieses Phänomens bieten die vorliegenden Beiträge.

Im Namen aller Mitwirkenden unseres Netzwerks zum deutschsprachigen Drama und Theater der Gegenwart widmen die Herausgeber diesen Band dem im März 2018 verstorbenen Pater, Dr. Krzysztof Wałczyk SJ, den wir alle bei unseren Tagungen und bei vielen Diskussionen als engagierten und anregenden Kollegen kennengelernt haben und als Freund erinnern.

Joanna Gospodarczyk, Paul Martin Langner

Details

Seiten
206
Erscheinungsjahr
2019
ISBN (PDF)
9783631786079
ISBN (ePUB)
9783631786086
ISBN (MOBI)
9783631786093
ISBN (Hardcover)
9783631775394
DOI
10.3726/b15453
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (August)
Schlagworte
Theatrales Mittel Aufführung Kollektiv Drama Germanistik
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019, 206 S.13 Abb., 1 Tab.

Biographische Angaben

Paul Martin Langner (Band-Herausgeber:in) Joanna Gospodarczyk (Band-Herausgeber:in)

Paul Martin Langner ist Lehrstuhlinhaber für deutschsprachige Literatur an der Pädagogischen Universität Krakau und Präsident der Friedrich-Hebbel-Gesellschaft e.V. (Wesselburen). Zu seinen Hauptforschungsgebieten zählen Literaturhistorische Areastudies, narrative und performative Strukturen in mittelalterlichen geistlichen und weltlichen Texten, Strukturen des modernen Dramas und Studien zu ausgewählten Autoren der jüngeren Vergangenheit sowie Friedrich und Christine Hebbel. Joanna Gospodarczyk ist Mitarbeiterin an der Pädagogischen Universität Krakau. Sie forscht über das zeitgenössische Drama in Deutschland, insbesondere die Rezeption von britischen Autoren im deutschen Theater.

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