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Mehrebenensystem im Gesundheitswesen

Ein Jahr Corona: Welche Lehren können wir ziehen?

von Indra Spiecker gen. Döhmann (Band-Herausgeber:in)
©2022 Konferenzband 184 Seiten

Zusammenfassung

Seit jeher wirken am Gesundheitswesen vielfältige Akteure zusammen. Die Covid-19-Pandemie hat das Mehrebenensystem in die Kritik gerückt: Die EU bündele zu wenig und der Föderalismus führe zu Zersplitterung der Maßnahmen. Die vielen verschränkten Ebenen beförderten Unübersichtlichkeit und ließen Bürger ratlos zurück. Der Band betrachtet die Struktur des Gesundheitswesens im Hinblick auf Alltagstauglichkeit und Krisenfestigkeit in einem ersten Zwischenfazit und bündelt dazu die Erträge einer entsprechenden Ineges-Tagung.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • Die Europäische Gesundheitsunion – Vorschläge der EU-Kommission (Constanze Janda)
  • Impuls für eine Europäische Gesundheitsunion (Patrick Stockebrandt)
  • Der bundesdeutsche Gesundheitsföderalismus in Alltag und Krise (Minou Banafsche)
  • Gesundheit und Pflege in der Pandemie: Zwischenbilanz aus Sicht der Selbstverwaltung (Doris Pfeiffer und Markus Grunenberg)
  • Versorgung mit kritischen Gesundheitsprodukten (Ulrich M. Gassner)
  • Versorgung mit wesentlichen Gesundheitsgütern am Beispiel medizinischer Masken – Ein Kommentar aus der Anwaltspraxis (Katharina Köbler)
  • Autorenverzeichnis

Einleitung

Die COVID-19-Pandemie das Gesundheitswesen in Deutschland und weltweit vor eine Vielzahl neuartiger Herausforderungen gestellt. Insbesondere das Mehrebenensystem, in das Deutschland und die EU eingebettet sind, wird immer wieder als Problempunkt genannt. Verschiedene und z.T. widersprüchliche Vorgaben, unklare Zuständigkeiten, ungesicherte Finanzen, das Verbot der Mischverwaltung als Hinderung effektiver Administration in Zeiten großer Unsicherheit, begrenzter Kapazitäten und Ressourcen sowie fehlende Vereinheitlichung werden aus dem Blickwinkel einer Kritik am Föderalismus thematisiert. Aber auch im Blick auf die Einbettung in die EU werden mangelndes Engagement, fehlende Steuerung und der Verlust von Solidarität und effektiver Verteilung bemängelt.

Damit stellt sich die Frage danach, ob sich das Mehrebenensystem in der Krise bewährt hat, ob davon überhaupt in der Alltagsbewältigung ausgegangen werden kann und wo Reformbedarfe sichtbar geworden sind. Die Analyse und mögliche Therapieansätze für identifizierte Problembereiche können struktureller Natur sein, sie können aber auch speziell in einzelnen Bereichen des Gesundheitswesens zu verorten sein.

Der Aktualität des Themas angemessen, hat sich das Institut für Europäische Gesundheitspolitik und Sozialrecht an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. – ineges – am 22. März 2021 mit einer Online-Tagung diesem Themenkomplex gewidmet und Erfahrungen und Einschätzungen aus Wissenschaft und Praxis eingeholt und diskutiert. Der nun vorliegende Tagungsband bündelt die Beiträge dieser Tagung und integriert weitere Erkenntnisse der Referentinnen und Referenten in aktualisierter Weise.

Constanze Janda, Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer, untersucht in ihrem Beitrag „Die Europäische Gesundheitsunion – Vorschläge der EU-Kommission“ die vorgeschlagenen Strukturänderungen seitens der EU und kommt zum Fazit, dass die EU von einer echten Gesundheitsunion noch weit entfernt ist.

Patrick Stockebrandt, Centrum für Europäische Politik, Freiburg i. Br., sieht in seinem Beitrag „Impuls für eine Europäische Gesundheitsunion“ schon kompetenzielle Schwierigkeiten, die aus dem Weg geräumt werden müssten.

Minou Banafsche, Universität Kassel, ordnet in dem Beitrag „Der bundesdeutsche Gesundheitsföderalismus in Alltag und Krise“ das IfSG als ←7 | 8→verfassungsrechtlich bedenklich ein, zumal damit die föderalen Problembereiche nicht aufgefangen worden seien.

Doris Pfeiffer und Markus Grunenberg, GKV-Spitzenverband, Berlin, sehen in ihrem Beitrag „Gesundheit und Pflege in der Pandemie: Zwischenbilanz aus Sicht der Selbstverwaltung“ die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung grundsätzlich als stabil an, wobei die pandemischen Effekte die schon bestehenden Problembereiche noch verstärkt hätten.

Ulrich M. Gassner, Universität Augsburg, betrachtet mit der „Versorgung mit kritischen Gesundheitsprodukten“ einen speziellen Bereich, in dem er erheblichen Reformbedarf sowohl auf der nationalstaatlichen als auch auf der EU-Ebene attestiert.

Katharina Köbler, Oppenländer Rechtsanwälte, Stuttgart, kritisiert in ihrem Beitrag zur „Versorgung mit wesentlichen Gesundheitsgütern am Beispiel medizinischen Masken“ fehlende Standardsetzung und fehlende Notfallversorgung.

Bedanken möchte ich mich sehr herzlich bei unseren Referentinnen und Referenten, dass sie diese Veranstaltung und den Tagungsband möglich gemacht haben durch ihre engagierten Beiträge in Wort und Schrift. Zudem haben ca. 130 Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit vielen Diskussionsbeiträgen trotz des Online-Formats eine lebhafte Auseinandersetzung, weitere Impulse und weitere Aspekte eingebracht.

Großer Dank gilt auch den Förderern des Instituts für Europäisches Sozialrecht und Gesundheitspolitik – ineges – sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Instituts sowie der beteiligten Lehrstühle einschließlich des damaligen Lehrstuhlvertreters, Nils Schaks, die das Gelingen von Tagung und Tagungsband in vielerlei Hinsicht kräftig unterstützt und begleitet haben.

Frankfurt a.M., im Januar 2022

Indra Spiecker genannt Döhmann

←8 | 9→
Constanze Janda

Die Europäische Gesundheitsunion – Vorschläge der EU-Kommission

I. Einleitung

Über die mannigfaltigen Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie ist bereits viel geschrieben worden1 – die langfristigen gesellschaftlichen Konsequenzen werden sich erst noch erweisen müssen. Neben den medizinischen Fragen rund um die epidemiologische Beherrschbarkeit des Virus und die individuelle Behandlung der Infektionen wurden vielfältige strukturelle Hindernisse sichtbar, die eine effektive Bekämpfung des Virus und eine rasche Eingrenzung der Pandemie hinderten. Dies betrifft nicht nur das komplexe föderale Verhältnis der Bundesrepublik,2 welches im Zuge der Pandemiebekämpfung erstmals der breiten Bevölkerung ins Bewusstsein gerückt sein dürfte. Auch auf europäischer Ebene waren Friktionen zu beobachten, die je nach Stimmungslage in Forderungen nach einem „Mehr“ oder einem „Weniger“ an europäischem Einfluss auf die Gesundheitsunion resultierten. Angesichts der Ausfuhrbeschränkungen für medizinische Güter und Schutzausrüstung und der Wiedereinführung von Binnenkontrollen an den innereuropäischen Grenzen3 war von einem Versagen der Europäischen Union die Rede. Vielen Bürgerinnen und Bürgern wurde bewusst, wie selbstverständlich der grenzüberschreitende private wie berufliche Alltag 70 Jahre nach Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft geworden ist. Zugleich zeigte sich innereuropäische Solidarität als Patientinnen und Patienten in die Krankenhäuser der Nachbarstaaten aufgenommen und Impfvorräte wie auch medizinisches Personal und Gerätschaften grenzüberschreitend geteilt und ←9 | 10→überlassen wurden. Auch die gemeinschaftliche Beschaffung von Impfstoffen war Ausdruck des solidarischen Miteinanders, kam sie doch unmittelbar den kleineren, auf dem Weltmarkt kaum nachfragemächtigen Mitgliedstaaten zugute – sie barg jedoch wiederum Potenzial für Kritik an vermeintlich mangelnder Schnelligkeit und Effizienz. Zugleich wuchs die Erkenntnis, dass der Schutz vor sich weltweit ausbreitenden Erregern ein „genuin internationales Politikfeld“4 ist, das der überstaatlichen Koordination bedarf.

II. Vorschlag für eine Europäische Gesundheitsunion

Im November 2020 hat die Europäische Kommission einen Vorschlag zur Schaffung einer Europäischen Gesundheitsunion vorgelegt, mit der dezidiert die Resilienz der Union gegenüber grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren gestärkt werden soll.5 Zu diesem Zweck sollen Prävention und Vorbereitung sowie der Umgang mit europäischen und weltweiten Gesundheitskrisen gestärkt werden, um „konsistent, kohärent, koordiniert“ vorgehen zu können.6 Das Unionsrecht bietet zwar bereits einen Rahmen für ein abgestimmtes Vorgehen,7 die Kommission identifizierte im Zuge der Corona-Pandemie jedoch verschiedene Defizite. So haben die Mitgliedstaaten überaus unterschiedliche – gerade nicht untereinander abgestimmte – Regelungen zum Tragen von Masken und zum Abstandhalten, zu Isolierung und Quarantäne von Verdachts- und Krankheitsfällen, zum Testen und zur Kontaktnachverfolgung sowie dem Schutz besonders gefährdeter Gruppen erlassen. Die fehlende Einheitlichkeit habe im Zusammenspiel mit den Kapazitätsengpässen im Gesundheitswesen und der mangelnden Verfügbarkeit von Schutzausrüstung, Arzneimitteln und Impfstoffen in der Bevölkerung Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Maßnahmen ausgelöst.8←10 | 11→

Der Vorschlag der Kommission9 zur Schaffung einer Europäischen Gesundheitsunion soll diesen Problemen abhelfen. Zu diesem Zweck sind drei umfassende Regelungsentwürfe vorgelegt worden: Zum einen soll das Europäische Zentrum für Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC) zu einer europäischen Gesundheitsagentur ausgebaut und mit breiteren Befugnissen ausgestattet werden. Auch das Mandat der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) soll ausgeweitet werden, namentlich im Hinblick auf die Verhinderung von Kapazitätsengpässen bei Arzneimitteln und Medizinprodukten. Schließlich soll der Beschluss 1082/2013/EU zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren in eine Verordnung überführt werden, was nicht nur zu mehr Verbindlichkeit, sondern ebenfalls zu breiteren Reaktionsmöglichkeiten führen soll.

1. Ausbau des ECDC zu einer europäischen Gesundheitsagentur

Die Kommission stellt fest, dass die Mitgliedstaaten in der Corona-Pandemie durch die EU nicht hinreichend unterstützt worden sind. Dies betrifft sowohl spezifische Empfehlungen auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse als auch praktische Hilfe zur Krisenvorsorge und -reaktion. Daher schlägt die Kommission eine Neuausrichtung des als „Informationsagentur“10 bezeichneten ECDC vor, um künftig über einen strukturierten Rahmen für eine gemeinschaftliche Bewältigung von Gesundheitskrisen zu verfügen.11 Hierfür soll keine neue Verordnung erlassen, sondern die bestehende VO (EG) 851/200412 geändert werden. Ziel ist – neben der Digitalisierung der Systeme zur Sammlung und Auswertung von Gesundheitsdaten – die Entwicklung von Präventions- und Reaktionsplänen, die Abgabe von Empfehlungen zum Risikomanagement und der Einsatz einer EU-Gesundheits-Taskforce zur Unterstützung der Mitgliedstaaten. Zusätzlich sollen Schlüsselkompetenzen zur Überwachung der ←11 | 12→Kapazitäten im Gesundheitswesen, zur Identifizierung gefährdeter Bevölkerungsgruppen und zur Verknüpfung von Gesundheitsdiensten und Forschung aufgebaut werden.

a) Auftrag des ECDC

Der Auftrag des ECDC soll im neuen Art. 3 dahingehend präzisiert werden, die durch übertragbare Krankheiten bedingten Risiken für die menschliche Gesundheit zu ermitteln und zu bewerten, Informationen weiterzugeben und Empfehlungen zu den gebotenen Reaktionen auf unionaler, mitgliedstaatlicher und gegebenenfalls regionaler Ebene abzugeben. Bei Ausbrüchen von Krankheiten unbekannten Ursprungs, die sich innerhalb der Union ausbreiten könnten, soll das ECDC von sich aus tätig werden können. Die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten, der Kommission, sonstiger Einrichtungen und Agenturen wie auch internationaler Organisationen werden dabei ausdrücklich anerkannt, und es wird eine Kooperationspflicht sämtlicher Akteure angeordnet, Art. 3 Abs. 3. Zu den Aufgaben zählen unter anderem:

das Sammeln, Erheben, Auswerten und Verbreiten von wissenschaftlichen und technischen Daten und Informationen,

Details

Seiten
184
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631878996
ISBN (ePUB)
9783631879009
ISBN (Hardcover)
9783631878583
DOI
10.3726/b20047
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Juli)
Schlagworte
Pandemie Europäische Gesundheitsunion Gesundheitsföderalismus Versorgung Selbstverwaltung Gesundheitsprodukt Gesundheitsgüter Corona medizinischen Masken Mehrebenensystem Gesundheitswesen
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 184 S., 1 s/w Abb.

Biographische Angaben

Indra Spiecker gen. Döhmann (Band-Herausgeber:in)

Indra Spiecker gen. Döhmann ist Professorin für Öffentliches Recht an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie ist geschäftsführende Direktorin des Institutes für Europäische Gesundheitspolitik und Sozialrecht (ineges) und der Forschungsstelle Datenschutz sowie Mitglied der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech).

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