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Interessenkonflikte und Anlegerschutz im Handel mit Finanzinstrumenten in der Kapitalmarktunion

Bestandsaufnahme, Kritik und Perspektiven

von Georg Lütkenhaus (Autor:in)
©2023 Dissertation 254 Seiten

Zusammenfassung

Seit dem Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 hat sich die Finanzmarktregulierung
mit atemberaubender Geschwindigkeit entwickelt, und eine „Entschleunigung“
der Rechtsentwicklung ist nicht in Sicht. Die Vielzahl der in
den letzten Jahren veröffentlichten Rechtsakten lässt sich kaum überblicken.
Dies macht es notwendig und lohnenswert, die Rechtsentwicklung wissenschaftlich
zu untersuchen und in ihrer Effektivität zu hinterfragen, um nicht
zuletzt Anstöße zu rechtspolitischer Weiterentwicklung geben zu können.
In diesem Sinne möchte der Autor mit der vorliegenden Arbeit einen kleinen
Teilaspekt aus der vielfältigen Regulierung des Bankaufsichtsrecht herausgreifen
und vertieft untersuchen: Interessenkonflikte und Anlegerschutz im
Handel mit Finanzinstrumenten in der Kapitalmarktunion.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Kapitel I: Einführung
  • I. Einleitung
  • II. Erfassung der Materie
  • 1. Strukturelle Komplexität
  • 2. Inhaltliche Komplexität
  • 3. Rechtssystematische Einordnung
  • Kapitel II: Adressaten, Gegenstand und Struktur der Interessenkonfliktregulierung
  • I. Das Objekt der Regulierung: Interessenkonflikte
  • 1. Das schutzwürdige Gut
  • 2. Interessenkonflikt gleich Interessendifferenz?
  • 3. Kategorien von Interessenkonflikten
  • a) Vertikale Interessenkonflikte
  • b) Horizontale Interessenkonflikte
  • II. Die Adressaten der Regulierung: Die Händler von Finanzinstrumenten
  • 1. Die zentralen Finanzintermediäre des deutschen Rechts
  • a) Das Wertpapierdienstleistungsunternehmen
  • b) Die Kapitalverwaltungsgesellschaft
  • 2. Die zentralen Finanzintermediäre des europäischen Rechts
  • a) Die Wertpapierfirma
  • b) Die OGAW-Verwalter und AIF-Manager
  • III. Die regulierte Tätigkeit
  • 1. Die Wertpapierdienstleistung
  • 2. Die Wertpapiernebendienstleistung
  • 3. Die entsprechenden Begrifflichkeiten im Kapitalanlagerecht
  • 4. Die Erbringer von Dienstleistungen und ihr Konfliktpotential
  • 5. Die Dienstleistungsempfänger
  • a) Der Kunde des Wertpapierhandelsrechts
  • b) Der Anleger des Kapitalanlagerechts
  • IV. Die normative Verankerung von Interessenkonflikten
  • 1. Überblick
  • a) Europäische Vorgaben
  • aa) Level 1
  • bb) Level 2
  • cc) Level 3
  • dd) Die Bedeutung der Erwägungsgründe
  • b) Nationale Umsetzung
  • c) Zusammenfassung
  • 2. Die für den Umgang mit Interessenkonflikten relevanten Normen
  • a) Verortung auf nationaler Ebene
  • aa) Wertpapierhandelsrecht
  • (1) § 63 WpHG: Allgemeine Verhaltensregeln
  • (2) § 80 WpHG: Organisationspflichten
  • (3) Wertpapierdienstleistungs-, Verhaltens- und -Organisationsverordnung
  • (4) Mindestanforderungen an die Compliance
  • bb) Kapitalanlagerecht
  • (1) Vorab: Nachrangige Bedeutung des KAGB
  • (2) Vorschriften für Kapitalverwaltungsgesellschaften
  • (3) Vorschriften für Verwahrstellen
  • (4) KAVerOV
  • cc) BVI-Wohlverhaltensregeln
  • b) Verortung auf europäischer Ebene
  • aa) OGAW
  • (1) Die Vorgaben der OGAW-Richtlinie
  • (2) Die Vorgaben der KomRL 2010/43/EU
  • (3) Die Vorgaben der DelVO (EU) 2016/438
  • bb) AIFMD
  • (1) Die Vorgaben der AIFMD
  • (2) Die Vorgaben der Delegierten Verordnung (EU) Nr. 231/2013
  • cc) MiFID II
  • (1) Die Vorgaben der MiFID II
  • (2) Die Vorgaben der Delegierten Verordnung (EU) 2017/565
  • (3) Die Vorgaben der Delegierten Richtlinie (EU) 2017/593
  • (4) Flankierung durch MAR und MAD II
  • V. Zwischenergebnis
  • Kapitel III: Inhaltliche Auseinandersetzung mit den Interessenkonflikten
  • I. Die drei Stufen des Umgangs mit Interessenkonflikten
  • 1. Interessenkonflikte erkennen
  • 2. Interessenkonflikte managen
  • a) Verpflichtung zu reiner Fremdnützigkeit?
  • b) Angemessenheit des Interessenkonfliktmanagements
  • c) Das organisatorische Interessenkonfliktmanagement
  • d) Der Gleichbehandlungsgrundsatz
  • 3. Interessenkonflikte offenlegen
  • a) Deutliche Angabe
  • b) Genaue Beschreibung
  • aa) Inhalt der Offenlegung
  • bb) Spezielle Regelungen für Zuwendungen und Eigenhandel
  • c) Zeitpunkt der Offenlegung
  • 4. Zwischenergebnis
  • II. Der Umgang mit ausgewählten Fällen von Interessenkonflikten
  • 1. Der Anlageberatungsvertrag
  • 2. Unabhängige Honorar-Anlageberatung
  • 3. Gebühren, Provisionen und andere Vorteile
  • a) Der Zuwendungsbegriff
  • b) Rückvergütungen (Kick-backs) und Innenprovisionen
  • c) Analysen
  • d) Finanzanlagenvermittler und Honorar-Finanzanlagenberater
  • e) Churning, Scalping, Frontrunning
  • 4. Vergütungspolitik
  • a) Die Grundlagen in WpHG und DelVO (EU) 2017/565
  • b) Spezialfälle FinVermV und WpIG
  • c) Vergleichbare Regelungen im Kapitalanlagerecht
  • 5. Robo-Advisor
  • 6. Zwischenergebnis
  • Kapitel IV: Ausblick auf weitere Entwicklungen der Regulierung
  • I. Überarbeitung von MiFID II, AIFMD und OGAW-Richtlinie
  • II. Änderungen für Finanzanlagendienstleister
  • Kapitel V: Fazit und Vorschlag zur weiteren Rechtsentwicklung
  • I. Zusammenfassung der gewonnenen Erkenntnisse
  • II. Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Interessenkonfliktregulierung
  • 1. Strukturelle Veränderungen
  • 2. Inhaltliche Veränderungen
  • III. Thesen der Untersuchung
  • IV. Resümee
  • Literaturverzeichnis

Kapitel I: Einführung

I. Einleitung

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Problematik von Interessenkonflikten im Handel mit Finanzinstrumenten. Durch die Regelungen der Markets in Financial Instruments Directive II (MiFID II)1 und der Markets in Financial Instruments Regulation (MiFIR)2 vom 15. Mai 2014, die am 3. Januar 2018 in Kraft getreten sind, hat die Regulierung des Wertpapierhandelsrechts an Aktualität und Bedeutung gewonnen. Diese Regelwerke bzw. ihre Umsetzung in das jeweilige nationale Recht der Mitgliedstaaten haben den rechtlichen Rahmen zum Umgang mit Interessenkonflikten enger gezogen und strengere Vorgaben aufgestellt, als es noch unter der Vorgängerrichtlinie MiFID3 der Fall war. Wie zu sehen sein wird, treten (potentielle) Interessenkonflikte in einer Vielzahl von Geschäften mit Finanzinstrumenten auf, sodass eine rechtlich möglichst präzise Einordnung solcher Fälle nicht zuletzt für die an derartigen Geschäften beteiligten Parteien von großer Bedeutung ist. Dies herauszuarbeiten, ist ein Ziel der vorliegenden Arbeit. Zudem wird aber auch deutlich werden, dass die Rechtsentwicklung keineswegs nur positive Folgen in der praktischen Umsetzung hat, sodass Alternativen zum aktuellen Konzept der Regulierung von Interessenkonflikten aufgezeigt werden sollen.

Über MiFID II und MiFIR hinaus setzen den weiteren Rechtsrahmen auf europäischer Ebene für den Umgang mit Interessenkonflikten die Alternative Investment Funds Managers Directive (AIFMD)4 vom 8. Juni 2011 und die Richtlinie zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW-Richtlinie)5 (englisch: Directive on undertakings for collective investments in transferable securities (UCITS)) vom 13. Juli 2009 in der Fassung der „OGAW V“ vom 17. September 20146. Diese Regelwerke bzw. ihre nationale Umsetzung sollen bei der Betrachtung der Neuerungen durch MiFID II und MiFIR als Referenzen in den Blick genommen werden, um ein umfassendes Bild vom richtigen Umgang mit Interessenkonflikten zeichnen zu können. Zur Gewährleistung einer gewissen Übersichtlichkeit wird die Untersuchung vorrangig anhand der deutschen Umsetzung der europäischen Rechtsakte erfolgen, die freilich nicht ohne den Rückgriff auf letztere Normen betrachtet werden können.

Die dabei gewonnenen Erkenntnisse sollen in einem weiteren Schritt beurteilt werden, und es soll überprüft werden, an welchen Stellen sich Verbesserungsmöglichkeiten ergeben. Hierzu werden Vorschläge entwickelt, die einerseits die erkannten Defizite des aktuellen Stands der Regulierung von Interessenkonflikten beseitigen und andererseits eine zweckmäßige Weiterentwicklung der Regulatorik zum Ziel haben sollen. Diese Perspektiven werden anschließend in einer Gesamtbeurteilung der derzeitigen Situation und Entwicklung finalisiert.

II. Erfassung der Materie

Grundsätzlich sind Interessenkonflikte keineswegs eine Spezialität des Kapitalmarktrechts, sondern finden sich überall im (Wirtschafts-) Leben. Solche Konflikte können bspw. dann auftreten, wenn ein Stellvertreter vertraglich zur Wahrung der Interessen des Vertretenen verpflichtet ist (bspw. als Makler), gleichzeitig aber als Privatperson ein bestimmtes eigenes Interesse an der Abwicklung des Geschäfts hat.7 Solche Fälle sind im deutschen Recht nicht speziell geregelt, die vorhandenen Normen wie zu den Treuepflichten aus dem Vertretungsverhältnis und das Schadensersatzrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB)8 gewährleisten grundsätzlich einen hinreichenden Interessenausgleich zugunsten einer etwaig geschädigten Vertragspartei.

Anders sieht es im Kapitalmarktrecht aus: Aufgrund der Komplexität der Materie, der unüberschaubar großen Anzahl an verschiedenartigen Finanzinstrumenten und des überdurchschnittlich starken Wissensgefälles zwischen Unternehmen wie Banken, die sich täglich mit Finanzinstrumenten beschäftigen, und ihren Vertragspartnern – häufig Verbrauchern – hat die Problematik der Interessenkonflikte im Kapitalmarktrecht eine besondere Regulierung erfahren.9 Auf europäischer Ebene befasste sich erstmals die Richtlinie 93/22/EWG vom 10. Mai 1993 über Wertpapierdienstleistungen mit Interessenkonflikten am Kapitalmarkt10. Im Jahr 1999 veröffentlichte die Kommission der Europäischen Gemeinschaften dann den Aktionsplan Finanzdienstleistungen (Financial Services Action Plan – FSAP)11, auf dem später die MiFID I und auf der wiederum MiFID II aufbaute.12 Im besonderen Fokus vertiefter Regulierung von Interessenkonflikten standen dabei früh die Ratingagenturen, die aufgrund ihrer mächtigen Position bei gleichzeitig kleinem Wettbewerb großen Einfluss auf die Weltwirtschaft nehmen können und sich daher bereits im Jahr 2009 durch die Verordnung (EG) Nr. 1060/200913 mit umfangreichen Regeln zu Interessenkonflikten konfrontiert sahen.14

Gleichzeitig hat sich der Charakter der europäischen Regulierung vom Ziel der Mindestharmonisierung zur Vollharmonisierung verschoben, was sich bspw. an der Verordnung MiFIR zeigt, die zusammen mit der MiFID II erlassen wurde. Im Zuge dessen hat die Regulierung von Interessenkonflikten eine immer umfangreichere Gestalt angenommen, und es steht zu erwarten, dass diese Materie auch künftig Gegenstand gesetzgeberischer Tätigkeit bleiben wird.

Indem die Regulierung eine immer größere Detailtiefe erreicht hat, ist sie gleichzeitig auch immer komplexer und unübersichtlicher geworden.15 Dies stellt die Marktteilnehmer natürlich vor besondere Herausforderungen bei der Umsetzung der Regelungsflut in der Praxis und schafft nicht zuletzt Probleme bei Fragen der Rechtssicherheit aufgrund der kurzen „Lebensdauer“ vieler Vorschriften.16 Durch den gestiegenen Beratungsbedarf drohen höhere Transaktionskosten sowie eine regulatorisch bedingt beeinträchtigte Kapitalmarkteffizienz.17 Gerade im Bereich der Kapitalmarktregulierung stößt man auf eine schiere Unzahl an Dokumenten ohne klaren rechtlichen Gehalt bei gleichzeitig fehlender Systematik, Konsistenz oder Bestimmtheit.18 Insofern bedarf es vor der detaillierten Auseinandersetzung mit einzelnen Rechtsfragen der Gewinnung eines Überblicks, der die rechtssystematische Einordnung der Interessenkonflikte ermöglicht. Auf dieser Grundlage gilt es anschließend, Stellschrauben herauszuarbeiten, um die Regulatorik effizienter zu gestalten.

1. Strukturelle Komplexität

Das aktuelle Gefüge der rechtlichen Vorgaben für die Kapitalmärkte ist in ganz überwiegendem Umfang von europäischem Recht determiniert, kaum eine Norm hat keinen unionsrechtlichen Hintergrund. Bereits aus diesem Umstand folgt eine gewisse Uneinheitlichkeit des geltenden Rechts: Teile des auf EU-Ebene geschaffenen Rechts sind unmittelbar in den Mitgliedstaaten anwendbar (wie bspw. Verordnungen19), andere bedürfen einer nationalen Umsetzung, die entsprechend der europäischen Vorgaben zu erfolgen hat (wie bspw. Richtlinien20).21 Hinzu treten allgemeinverbindliche und indirekt zu berücksichtigende Rechtsakte anderer EU-Organe sowie Auslegungshilfen von EU-Behörden.

Die Umsetzung ins nationale Recht schafft eine weitere Zersplitterung der Rechtssetzung: Auch auf deutscher Ebene findet das staatliche Aufsichtsbestreben Ausdruck in vielen verschiedenen Rechtsakttypen. Neben Bundesgesetzen sind so noch Verordnungen und zahlreiche Auslegungshilfen und Verwaltungsvorschriften von Bundesbehörden durch die Finanzmarktakteure zu beachten.

Für die verschiedenen Adressaten und Tätigkeiten an den Kapitalmärkten ergeben sich so verschiedenste, kleinteilige Regelungen, sodass sich immer die Frage stellt, was in welcher Situation für wen gilt. Gleichwohl ist von den jeweiligen Rechtssetzern grundsätzlich eine rechtsaktübergreifende Betrachtung gewünscht. Dies hat bspw. die Europäische Wertpapieraufsicht (European Securities and Markets Authority – ESMA)22 in ihrem „Technical Advice to the European Commission on possible implementing measures of the Alternative Investment Fund Managers Directive“ vom 16. November 2011 zum Ausdruck gebracht, in dem sie den Managern von Alternativen Investmentfonds, die originär der AIFMD und deren zugehörigen Level-2- und -3-Akten sowie Umsetzungsrechtsakten unterliegen, aufträgt, auch die Level-2-Akte zu OGAW-Richtlinie und MiFID zu berücksichtigen.23 Auf die Einzelheiten dieser Rechtsstrukturen wird später noch näher eingegangen.

2. Inhaltliche Komplexität

Zu dieser strukturellen Unübersichtlichkeit kommt noch eine inhaltliche hinzu: Die Regulierung des Kapitalmarktes hat eine sehr komplexe Detailfreude entwickelt, die eine schier unendlich große Anzahl überdurchschnittlich langer Gesetze und Verordnungen hervorgebracht hat. Insbesondere seit der Finanzkrise hat die europäische Regulierung mit dem Ziel der Schaffung einer Banken- und Kapitalmarktunion noch einmal deutlich an Intensität zugenommen. Alleine die Erfassung des gesamten geltenden Rechts bedeutet daher einen nicht unerheblichen Aufwand.

Das zentrale Gesetz des deutschen Kapitalmarktrechts ist das Gesetz über den Wertpapierhandel (Wertpapierhandelsgesetz – WpHG)24, das aufgrund der Breite der Regelungsmaterie gerne auch als „Verfassung des Kapitalmarktrechts“ bezeichnet wird.25 Es regelt den Handel mit Wertpapieren, also den Sekundärmarkt, und steht damit neben dem Primärmarkt, dessen Gegenstand das erstmalige Inverkehrbringen von Wertpapieren ist und der durch das Börsengesetz (BörsG)26 und das Vermögensanlagengesetz (VermAnlG)27 geregelt wird. Das WpHG enthält unter anderem an die Marktteilnehmer gerichtete Verhaltens-, Organisations- und Transparenzpflichten, zu denen auch die Interessenkonflikte gehören. Anfang der neunziger Jahre war der „grundgesetzliche“ Charakter des WpHG freilich noch ausgeprägter gewesen, als es noch die Vorschriften zur Marktintegrität (Insider- und Marktmanipulationsverbote und Ad-hoc-Publizität) enthielt, die später direkt durch die EU in Gestalt der Marktmissbrauchsverordnung (Market Abuse Regulation – MAR)28 geregelt und damit der nationalen Regelungszuständigkeit entzogen wurden.29

Inhaltlich stellt das WpHG in seiner aktuellen Fassung im Wesentlichen eine Umsetzung der MiFID II dar, die mit Blick auf das Ziel der Kapitalmarktunion europaweit einheitliche Standards für die Kapitalmärkte vorgibt.30 Von zentraler Bedeutung sind die vom europäischen Gesetzgeber so genannten Wohlverhaltensregeln, zu denen auch der Umgang mit Interessenkonflikten gehört. In ihrer ursprünglichen Form der Richtlinie 93/22/EWG waren diese noch sehr zurückhaltend geregelt, denn Erwägungsgrund (ErwGr) 3 sah vor, „daß eine Harmonisierung nur insoweit angestrebt wird, wie dies zur Gewährleistung der gegenseitigen Anerkennung der Zulassungen und der Aufsichtssysteme unbedingt erforderlich […] ist“. Über MiFID I wurden die Regelungen 2004 intensiviert, und die Finanzkrise 2008 veranlasste den europäischen Gesetzgeber, mit MiFID II und MiFIR die Rahmenbedingungen für die Finanzmärkte zu verschärfen.31 Ziel der weiteren Harmonisierung und Verschärfung der Wohlverhaltensregeln war insbesondere die Verbesserung des Anlegerschutzes.32

Weitere Meilensteine hat die EU durch die Schaffung von Verordnungen erreicht, die Bereiche abdecken, die bisher individuell von den Mitgliedstaaten oder von EU-Richtlinien und damit abhängig von nationalen Umsetzungsgesetzen geregelt waren. Diese Entwicklung war neben dem Erlass der MiFIR bspw. auch bei der Ablösung der Prospektrichtlinie33 durch die Prospektverordnung34 zu beobachten. Für die Thematik der Interessenkonflikte ist die MiFIR allerdings von nachrangiger Bedeutung, da sie sich nicht mit Wohlverhaltenspflichten befasst.

Von größerer Relevanz ist die unter MiFID II erlassene Delegierte Verordnung (DelVO) (EU) 2017/56535, die in einem Kapitel „Organisatorische Anforderungen“ speziell den Interessenkonflikten einen eigenen Abschnitt widmet.36 Darüber hinaus befasst sich die Delegierte Richtlinie (DelRL) (EU) 2017/59337 mit Spezialfällen von Interessenkonflikten, nämlich den Konzeptionsphasen von Finanzinstrumenten und Zuwendungen.

Neben die Regelungsmaterie des WpHG tritt das Kapitalanlagegesetzbuch (KAGB)38. Dieses umfangreiche Gesetzbuch wurde 2013 durch den deutschen Gesetzgeber im Zuge der Umsetzung der bereits genannten europäischen Richtlinie AIFMD geschaffen und enthält darüber hinaus die Regelungen der zuvor im Investmentgesetz (InvG)39 umgesetzten OGAW-Richtlinie. Das KAGB bildet damit ein umfassendes Regelwerk im Investmentbereich, es gilt sowohl für sämtliche Investmentvermögen40 als auch deren Kapitalverwaltungsgesellschaften. Die drei Oberkategorien sind dabei Spezial-AIF (wobei „AIF“ für „Alternative Investmentfonds“ steht, der zentrale Begriff der AIFMD), die ausschließlich professionellen und semiprofessionellen Anlegern offenstehen, Publikums-AIF, in die auch Privatanleger investieren können, und OGAW (der zentrale Begriff der OGAW-Richtlinie), welche stets offene Fonds sind, die vor allem in Wertpapiere investieren (auch Effekten genannt, also fungible Wertpapiere).41

Bei der Regulierung von Fonds ist der Umgang mit Interessenkonflikten von nicht geringerer Bedeutung als im Wertpapierhandel, was eine Einbeziehung in dieser Arbeit notwendig macht, um einen vollständigen Überblick zu gewinnen. Während das Wertpapierhandelsrecht das Verhältnis der Unternehmen zu einzelnen Kunden und deren Interessen im Blick hat, ist das Kapitalanlagerecht stärker auf die Integrität der Finanzmärkte und die Interessen der Anleger als Kollektiv und weniger auf die Individualinteressen ausgerichtet.42 Gleichwohl gibt es gerade im Hinblick auf die Verhaltenspflichten der Unternehmen Schnittmengen zwischen beiden Rechtsmaterien, sodass insbesondere Normen des WpHG auch auf Investmentvermögen Anwendung finden.

3. Rechtssystematische Einordnung

Die rechtssystematische Einordnung der Wohlverhaltensregeln – sei es der des Wertpapierhandelsrechts oder der des Kapitalanlagerechts – ist in Literatur und Rechtsprechung umstritten: Handelt es sich als Aufsichtsrecht um reines öffentliches Recht oder wegen der Auswirkungen auf die Rechtsbeziehungen der Marktteilnehmer untereinander auch um Zivilrecht? Dass WpHG und KAGB grundsätzlich als das Verhältnis zwischen Aufsichtsbehörden und Wertpapierdienstleistungsunternehmen regelndes Aufsichtsrecht öffentliches Recht darstellen, ist unumstritten.43 Genauso ist unstreitig, dass die aufsichtsrechtlichen Regelungen nicht vertraglich abdingbar sind.44 Wie aber die zivilrechtlichen Auswirkungen darüber hinaus aussehen, darüber gehen die Meinungen weit auseinander, und das wird in den verschiedenen Mitgliedstaaten der Europäischen Union auch unterschiedlich gehandhabt. So hat etwa der österreichische Oberste Gerichtshof den Wohlverhaltensregeln zivilrechtliche Wirkung zugesprochen.45 Vergleichbares gilt für Italien durch den Kassationshof, und in Schweden gibt es ein eigenes Gesetz, das Anlegern Schadensersatzansprüche bei fehlerhafter Anlageberatung zuspricht.46

Zum WpHG a. F. hatte der Bundesgerichtshof (BGH) wiederholt entschieden, dass die Wohlverhaltensregeln auf seine zivilrechtliche Rechtsprechung keinerlei Auswirkung hätten, da diese im deutschen Recht rein öffentlich- rechtlich umgesetzt seien. Der Gesetzgeber habe ausschließlich öffentliches Recht schaffen wollen, wie sich aus den Gesetzesmaterialien zum Finanzmarktrichtlinie-Umsetzungsgesetz (FRUG) vom 16. Juli 2007 ergebe.47 Auch materiell-rechtlich könnten öffentlich-rechtliche Normen weder eine Begrenzung noch eine Erweiterung der zivilrechtlich zu beurteilenden Haftung bewirken.48 Derselbe BGH-Senat hat in seiner Zinsswap-Entscheidung aber auch verlangt, dass die Aufklärung gewährleisten muss, dass der Kunde im Hinblick auf das Risiko des Geschäfts im Wesentlichen den gleichen Kenntnis- und Wissensstand hat wie die beratende Bank.49

In diese Richtung kann auch das Grundsatzurteil des BGH vom 3. Juni 2014 verstanden werden, in dem das Gericht zur Frage nach der Offenlegung von Zuwendungen Dritter festhielt, dass das aufsichtsrechtliche Prinzip, dass Zuwendungen Dritter grundsätzlich verboten und allenfalls dann erlaubt sind, wenn diese offen gelegt werden, als Ausdruck eines allgemeinen – nunmehr nahezu flächendeckenden – Rechtsprinzips bei der Auslegung der (konkludenten) Vertragserklärungen zu berücksichtigen sei.50 Damit erkennt derselbe BGH-Senat, der im ersten genannten Urteil eine Wirkung des Aufsichtsrechts auf das Zivilrecht noch völlig ausschließen wollte, zumindest für den Fall der Zuwendungen an, dass es rechtlich vertretbar ist, den aufsichtsrechtlichen Wohlverhaltensregeln eine zivilrechtliche Wirkung zuzuerkennen.

Details

Seiten
254
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631903650
ISBN (ePUB)
9783631903667
ISBN (Hardcover)
9783631897898
DOI
10.3726/b20964
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (August)
Schlagworte
Kapitalmarktrecht Bankaufsichtsrecht Wertpapierhandelsrecht Kapitalanlagerecht MiFID II / MiFIR Anlageberatung Verbraucherschutz Regulierung
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 254 S.

Biographische Angaben

Georg Lütkenhaus (Autor:in)

Georg Lütkenhaus studierte an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt, der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Sapienza – Università di Roma Rechtswissenschaft und schloss daran ein Promotionsstudium an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken an.

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