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Flüchtlinge? Zur Dynamik des Flüchtens in der Romania

von Maria Lieber (Band-Herausgeber:in) Christoph Oliver Mayer (Band-Herausgeber:in)
©2020 Sammelband 242 Seiten

Zusammenfassung

Fluchten und Flüchtlinge sind in der Kulturwissenschaft nicht erst seit 2015 zu einem Thema geworden. Die in diesem Sammelband vereinten Beiträge zeigen vorwiegend an Beispielen aus der Romania, wie dynamisch sich Flucht in der Geschichte, der Literatur und der Sprache ausgewirkt hat. Unterschiedliche Fluchten, von der Emigration bis zur Flucht aus dem Elternhaus, erweisen sich insofern als produktive Matrix für Veränderung: Es entstehen neue Texte, neue Blickrichtungen und neue didaktische Unterrichtsmethoden. Sprache wandelt sich und Wissen verbreitet sich.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Zur Dynamik des Flüchtens (nicht nur) in der Romania – eine Einleitung (Maria Lieber (Dresden) / Christoph Oliver Mayer (Dresden/Berlin))
  • Nous et les refugiés: Französische Reaktionen auf den Umgang Europas mit Geflüchteten und Migranten (Marina Ortrud M. Hertrampf (Regensburg/Berlin))
  • Die Wahrnehmung der französischen Flüchtlingsdebatte um Calais in Polen, gezeigt an ausgewählten Beispielen (Martin Henzelmann (Hamburg))
  • Emigrazione – immigrazione. Migration in und aus Italien und ihr Potential zur politischen Bildung sächsischer Italienischlernender (Robert Mintchev (Dresden))
  • Immersives Lernen zum Thema Flucht – eine studentische Exkursion nach Buenos Aires und Montevideo (Felix Kraut (Dresden) / Christoph Oliver Mayer (Dresden/Berlin))
  • La grammatica in fuga. Gli esuli italiani religionis causa tra anti-toscanismo e fedeltà alla norma (Franco Pierno (Toronto))
  • Kultur der Mehrsprachigkeit in migrationsbegründeten Gemeinden Südbrasiliens (Elmar Eggert (Kiel))
  • Flucht als Movens der Literatur. Literaturtheoretische Überlegungen am Beispiel Fabio Geda (Christoph Oliver Mayer (Dresden/Berlin))
  • Idee e scritture in movimento. Le Courtisan du comte Balthasar Castillion (Mscr.Dresd.Oc.56) (Adriana Paolini (Trento))
  • „Nur mein romanistisches Arbeitszeugnis ist mir wichtig …“. Victor Klemperer – kein zweitklassiger Romanist (Maria Lieber (Dresden) / Christoph Oliver Mayer (Berlin/Dresden))
  • Flucht aus dem Elternhaus – Autobiographien zwischen Emanzipation und Rekonstruktion: Didier Eribon, Annie Ernaux und Édouard Louis (Christoph Oliver Mayer (Dresden/Berlin))
  • ‚Flüchtlinge‘? Das Problem von Unsichtbarkeit und Sichtbarmachung im Theater. Ein vergleichender Blick auf den deutschsprachigen Raum: Höner, Schuberth, Jelinek (Romana Weiershausen (Saarbrücken))
  • Die Flüchtlinge der Colonia Dignidad – ein Interview (Peter Burghardt (Hamburg))
  • AutorInnenverzeichnis

cover

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die vorliegende Publikation ist im Rahmen der Tätigkeit
der Herausgeberin an der Technischen Universität Dresden
am Institut für Romanistik erstellt worden und wurde von der
Technischen Universität Dresden finanziell unterstützt.

Autorenangaben

Maria Lieber ist Professorin für Romanische Sprachwissenschaft und Direktorin des Italien-Zentrums an der Technischen Universität Dresden.

Christoph Oliver Mayer ist Gastprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin für Fachdidaktik der romanischen Sprachen und Privatdozent für Italienisch und Französisch an der Technischen Universität Dresden.

Über das Buch

Maria Lieber / Christoph Oliver Mayer (Hrsg.)

Flüchtlinge? Zur Dynamik des Flüchtens in der Romania

Fluchten und Flüchtlinge sind in der Kulturwissenschaft nicht erst seit 2015 zu einem Thema geworden. Die in diesem Sammelband vereinten Beiträge zeigen vorwiegend an Beispielen aus der Romania, wie dynamisch sich Flucht in der Geschichte, der Literatur und der Sprache ausgewirkt hat. Unterschiedliche Fluchten, von der Emigration bis zur Flucht aus dem Elternhaus, erweisen sich insofern als produktive Matrix für Veränderung: Es entstehen neue Texte, neue Blickrichtungen und neue didaktische Unterrichtsmethoden. Sprache wandelt sich und Wissen verbreitet sich.

Zitierfähigkeit des eBooks

Diese Ausgabe des eBooks ist zitierfähig. Dazu wurden der Beginn und das Ende einer Seite gekennzeichnet. Sollte eine neue Seite genau in einem Wort beginnen, erfolgt diese Kennzeichnung auch exakt an dieser Stelle, so dass ein Wort durch diese Darstellung getrennt sein kann.

Inhalt

Maria Lieber (Dresden) / Christoph Oliver Mayer (Dresden/Berlin)

Zur Dynamik des Flüchtens (nicht nur) in der Romania – eine Einleitung

Marina Ortrud M. Hertrampf (Regensburg/Berlin)

Nous et les refugiés: Französische Reaktionen auf den Umgang Europas mit Geflüchteten und Migranten

Martin Henzelmann (Hamburg)

Die Wahrnehmung der französischen Flüchtlingsdebatte um Calais in Polen, gezeigt an ausgewählten Beispielen

Robert Mintchev (Dresden)

emigrazione – immigrazione. Migration in und aus Italien und ihr Potential zur politischen Bildung sächsischer Italienischlernender

Felix Kraut (Dresden) / Christoph Oliver Mayer (Dresden/Berlin)

Immersives Lernen zum Thema Flucht – eine studentische Exkursion nach Buenos Aires und Montevideo

Franco Pierno (Toronto)

La grammatica in fuga. Gli esuli italiani religionis causa tra anti-toscanismo e fedeltà alla norma

Elmar Eggert (Kiel)

Kultur der Mehrsprachigkeit in migrationsbegründeten Gemeinden Südbrasiliens

Christoph Oliver Mayer (Dresden/Berlin)

Flucht als Movens der Literatur. Literaturtheoretische Überlegungen am Beispiel Fabio Geda

Adriana Paolini (Trento)

Idee e scritture in movimento. Le Courtisan du comte Balthasar Castillion (Mscr.Dresd.Oc.56)

Maria Lieber (Dresden) / Christoph Oliver Mayer (Berlin/Dresden)

„Nur mein romanistisches Arbeitszeugnis ist mir wichtig …“. Victor Klemperer – kein zweitklassiger Romanist

Christoph Oliver Mayer (Dresden/Berlin)

Flucht aus dem Elternhaus – Autobiographien zwischen Emanzipation und Rekonstruktion: Didier Eribon, Annie Ernaux und Édouard Louis

Romana Weiershausen (Saarbrücken)

‚Flüchtlinge‘? Das Problem von Unsichtbarkeit und Sichtbarmachung im Theater. Ein vergleichender Blick auf den deutschsprachigen Raum: Höner, Schuberth, Jelinek

Peter Burghardt (Hamburg)

Die Flüchtlinge der Colonia Dignidad – ein Interview

AutorInnenverzeichnis

←6 | 7→

Maria Lieber (Dresden) /
Christoph Oliver Mayer (Dresden/Berlin)

Zur Dynamik des Flüchtens (nicht nur) in der
Romania – eine Einleitung

2018 präsentierte sich Frankreich beim Eurovision Song Contest in Lissabon mit einem Duo namens Madame Monsieur. Ihr französischsprachiger Beitrag „Mercy“,1 der sich ebenso wie die Beiträge von Italien (über Terroranschläge) und dem siegreichen Israel („Me-too-Debatte“) zeitaktuell und damit politisch positionierte, landete auf dem 13. Platz, wurde aber mit dem Marcel-Bezençon-Preis ausgezeichnet, den die internationale Presse dem ihrer Meinung nach besten Lied außerhalb des eigentlichen Wettbewerbs zuspricht.2 Das Thema von „Mercy“, dessen Titel mit der englischen Bedeutung des Wortes (dt. Barmherzigkeit, Gnade, Segen, Schonung, Glück) spielt, aber auch realbiographisch als Name eines Mädchens erklärt wird,3 thematisiert die ganz Europa in Trab haltende „Flüchtlingswelle“, und das vor dem Hintergrund der Ost und West spaltenden Debatte um die Aufnahme der Flüchtenden auf der Balkanroute und aus dem Mittelmeer.4

Aus dem Blickwinkel der gerade mitten auf dem Meer und damit als staatenlos geborenen kleinen Mercy („Je suis née ce matin / Je m’appelle Mercy“), die auf den mühseligen Weg ihrer vor dem Krieg flüchtenden Mutter zurückblickt, ←7 | 8→wird deren Schicksal aus dem Mund einer das „weiße Frankreich“ verkörpernden Sängerin „Madame“, begleitet von dem ebenso prototypischen „Monsieur“, evoziert. Auf der europäischen Bühne erhält die Botschaft der Nächstenliebe zusätzliches didaktisches Potential: Den Geflüchteten, die nichts zu verlieren haben, außer dem eigenen Leben, und für die die Geburt der Tochter ein Hoffnungsschimmer ist, soll aufgrund ihrer aussichtslosen Lage und durch die Perspektive auf das junge unschuldige Kind mit positiven Affekten begegnet werden. Im Lied wird der Neugeborenen auch bereitwillig die Hand gereicht, bedrohlich für sie bleibt aber das Meer („une immensité bleue peut-être infinie“), das ihr Überleben in Frage stellt. Mercy steht damit Pate für all diejenigen, die das Mittelmeer ‚verschluckt‘ hat („Je suis tous ces enfants que la mer a pris“) und deren Andenken sich somit in das Gedächtnis bzw. Gewissen auf ewig einprägen wird („Je vivrai cent mille ans, je m’appelle Mercy“). Wohl auch um an die Moral der Zuhörerinnen und Zuhörer zu appellieren, wird zwar ein das Gewissen beruhigendes Rettungsschiff assoziiert („un navire ami“), das Schicksal bzw. die Zukunft der kleinen Mercy bleibt aber dezidiert unklar: „Que sera demain?“.

Das Lied hat in Frankreich mit dieser Problematik die Vorentscheidung „Destination Eurovision 2018“5 gewonnen und damit die Fernsehzuschauerinnen und -zuschauer überzeugt. Die Botschaft und das Thema haben auch polarisiert, in jedem Fall aber haben sie insbesondere die genuin an der Veranstaltung interessierte Internet-Gemeinde dynamisiert.6 Die „Flüchtlings-Debatte“ hat somit wie kaum ein anderes aktuelles Thema und wie in nahezu allen europäischen Ländern nicht nur den politischen, sondern auch den kulturellen Diskurs belebt, wobei sie, ganz abgesehen von allen damit verbundenen menschlichen und persönlichen Schicksalen, Animositäten und Rührseligkeiten, Engagement und Grenzziehungen, als eine produktive Matrix neue Texte, Konzepte und Diskurse angeregt hat. Gerade die Stimmen der Geflüchteten, seien sie authentisch oder evoziert, literarisch fiktional konstruiert oder realbiographisch dokumentiert, bringen zudem neue Sichtweisen ein und versprechen, ob man das nun begrüßt oder nicht, durch den reichen Stoff eine dynamische Zukunft. ←8 | 9→Die Veränderungen bzw. Neuproduktionen entstehen in diesem Kontext explizit durch exogene Faktoren, die, entsprechend der Abgrenzung von Flucht zu Migration, zum Verlassen der eigentlichen ‚Heimat‘ zwingen, das Handeln generieren und etwas Neues und Unerhörtes hervorbringen, das thematisiert und besprochen, verarbeitet und interpretiert werden muss.7 Dass durch das Einschreiben in die neue Aufnahmekultur gerade diese von den Fluchtimpulsen kulturell profitiert bzw. sich das kulturelle Feld dadurch verändert, bringt also von außen neue Dynamiken ein. Die Ergebnisse sind jedoch im Sinne des Foucault’schen Begriffs vom Dispositiv von vornherein eingeengt und vorhersehbar, da sie nur einen bestimmten Sektor des literarischen Feldes betreffen.8

Flucht ist nicht nur im oben genannten Lied mit Affekten und Emotionen konnotiert. Dass gerade auch rechtskonservative und rechtspopulistische Kreise gerne darauf hinweisen, dass sie selbstverständlich für ein Asylrecht für Flüchtende (nicht aber für Arbeitsmigranten) eintreten würden, zeigt, dass Flucht starke und nicht einfach von der Hand zu weisende Emotionen des Mitgefühls und Reflexe der Hilfe auslöst.9 Flucht gilt dabei allgemein als etwas, das unverschuldet und nicht freiwillig vollzogen wird und wird damit der als egoistisch abgewerteten oder zumindest als Selbstverwirklichung anders qualifizierten Auswanderung aus ökonomischen Gründen entgegengestellt.10 Denn die Flucht ist ein Teil der Menschheitsgeschichte und ein Narrativ, das sich vermutlich in allen Kulturen der Welt findet: man denke an den Exodus der Bibel, an die Odyssee Homers, an Boccaccios Decameron (mit der Flucht vor der Pest) oder an die Idee der Völkerwanderung. Die Geschichte kennt Glaubensflüchtlinge (wie die Hugenotten nach der Aufhebung des Edikts von Nantes durch Ludwig XIV.), Flüchtlinge vor Naturkatastrophen (vom Ausbruch des Vesuv bis zu Tschernobyl und Fukushima) und Dürreepidemien (die irische Auswanderung in die USA; wiederkehrende Hungersnöte in Äthiopien) sowie natürlich Kriegsflüchtlinge aller Schattierung (von den Exilanten der Glaubenskriege bis zu den Heimatvertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg, von den vietnamesischen Boat-People bis zu den syrischen Asylsuchenden). In allen Fällen wirkt die Flucht zumindest ←9 | 10→in den Aufnahmegesellschaften als Dispositiv, wenn von ihr erzählt oder sie kreativ verarbeitet wird. Folgt man der Definition von Gilles Deleuze, dass ein Dispositiv dazu diene, „sehen zu machen oder sehen zu lassen und sprechen zu machen oder sprechen zu lassen“,11 so ist das Flüchten ein prototypisches Beispiel dafür. Auffällig ist nämlich, dass sich der Diskurs deutlich weniger um das Sosein und die Anwesenheit der Migrantinnen und Migranten dreht, dass diesbezügliche Theorien der Integration mit wenig öffentlichem Interesse diskutiert werden12 und auch weniger die Fluchtursachen in den Blick genommen werden, als dass das Flüchten selbst geradezu wortprägend und identitätsstiftend für die Neuankömmlinge der letzten Jahre in (West-)Europa (aber auch in anderen Gegenden der Welt) wirkt. Der Akt des Flüchtens erlaubt es, das Schicksal und die Befindlichkeiten der Geflüchteten in den Mittelpunkt zu rücken und macht es der (Aufnahme-)Gesellschaft möglich, sich dem Thema zu nähern.

Blicken wir kulturspezifisch auf die Romania, so gilt es, sich an die Fluchtprozesse zu erinnern, die Teil des kulturellen Gedächtnisses in Frankreich und frankophonen Ländern (Stichworte: Hugenotten, Adelsflucht während der Revolution, Acadie, Résistance, Algerien-Krieg, Ost-Dissidenten, Entkolonialisierung: vietnamesische Boatpeople etc.), Italien (Massenauswanderung nach Amerika und Australien, politisches Exil im Risorgimento, Flucht vor dem Faschismus, brain drain), Spanien (Vertreibung der Mauren und der Juden; politisches Exil unter Napoleon und zur Franco-Zeit) und Lateinamerika (Immigration von Flüchtlingen während und nach dem Zweiten Weltkrieg, Flucht der Dissidenten aus Kuba, Kolumbianischer Bürgerkrieg) sind. Nur vor diesem Hintergrund kann das Dispositiv ‚Flucht‘ seine Wirkung entfalten, wird doch jede neue Flucht-Erzählung an der Geschichte gemessen. Erste Assoziationen mit „fuga“ oder „evasione“ im italophonen, „fuite“ oder „évasion“ im frankophonen bzw. „fuga“ oder „huida“ im hispanophonen Kontext müssen dann nicht notwendigerweise mit der ganzen Bandbreite kulturspezifischer welthistorischer Ereignisse zu tun haben und beinhalten etwa nicht die europäische Auswanderung Ende des 19. Jahrhunderts nach Übersee, die man zumindest im allgemeinsprachlichen Gebrauch auch unter Flucht subsummieren könnte. Der Prozess des Flüchtens (ital. „fuggire“ / „scappare“; frz. „s’enfuir“ / „se réfugier“; span. „huir“ / „refugiarse“) hingegen weckt eventuell andere, weitere Assoziationen und kategorisiert eine spezifische Migrationsbewegung. Beide Kontextfelder wären aber durch das positive wie negative Konnotationen auflösende Dispositiv ←10 | 11→des Flüchtens eingefangen, das ohnehin neuerdings im vielleicht ersten wirklich gemeinsam gebrauchten Konzeptbegriff aus dem ‚Globish‘ bzw. Global English, dem „refugee“13 aufgeht, was das Titelbild unseres Beitrags, aufgenommen im Sommer 2017 in der Innenstadt von Madrid, eindrücklich zeigt.

Das in ganz Westeuropa an öffentlichen Gebäuden zu sehende Plakat „Refugees welcome“ zierte einen Sitz der Madrider Stadtverwaltung am Plaza de Cibeles, der zudem das Centro Cibeles de Cultura y Ciudadanía, auch CentroCentro benannt, beinhaltet, das sich der zeitgenössischen Kunst verschrieben hat.14 Interessant dabei ist, dass der 1917 erbaute Palacio mit einer Fläche von mehr als 12.000 m2 ursprünglich (bis 2007) das Hauptpostgebäude der spanischen Hauptstadt beherbergte. Der Architekt, Antonio Palacios, verbindet dabei nordamerikanisch angehauchte modernistische Elemente mit spanischen Traditionen, er integriert aber auch eine Feier des spanischen Kolonialismus gerade in der Fassade, die Büsten von mittlerweile höchst umstrittenen Konquistadoren wie Hernán Cortés oder Balboa aufweist. Damit kontrastiert das farblich dezente, da an die irdene Farbe der Fassade angepasste Banner. Die ehrfurchterzeugende Schwere der Gebäudekunst wird somit unterwandert und dekonstruiert. Die Stadt möchte offensichtlich nicht nur Weltoffenheit, sondern darüber hinaus die Integrationswilligkeit symbolisieren, öffnet sich für neue Bewohnerinnen und Bewohner und kommuniziert nach außen so wie das Gebäude als Postamt für Kommunikation und Internationalität im kollektiven Stadtgedächtnis steht. Symptomatisch ist dabei natürlich noch, dass das Plakat sich auf Englisch an die Geflüchteten wendet und damit gerade in den romanischen Ländern die Dominanz des Globish-Englisch verstärkt, so absurd die Nutzung der englischen Sprache gegenüber Menschen, die ihre Zuflucht in Spanien suchen und selbst mehrsprachig, meist jedoch nicht mit Englisch aufgewachsen sind, auch sein mag. Wobei die Unsinnigkeit des Englischen als Mittlersprache sich zusätzlich darin zeigt, dass das Arabische, zu dieser Zeit Hauptsprache der in Spanien ankommenden Hilfesuchenden, wesentlich mehr Gemeinsamkeiten mit dem Kastilischen aufweist und interkomprehensiv erlernt werden könnte. Dazu müssten aber wiederum Expertinnen und Experten der Sprachdidaktik und Sprachwissenschaft in den Debatten gehört werden…

Die Sprachkritik ist deshalb umso angemessener, als seit Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise nicht nur über die korrekte Sprachwahl nachgedacht ←11 | 12→wird, sondern diese als Ausweis der politischen Gesinnung gedeutet wird.15 Zudem mag auch versucht worden sein, durch das englische Wort alle sprachgeschichtlichen Konnotationen zu tilgen oder aber die Besonderheit der neuen Situation zu unterstreichen (bzw. bei bewusstem Verharren im alten Sprachjargon dies geradezu vehement in Abrede zu stellen). Das alles hat sicherlich dazu geführt, dass „Refugees Welcome“ im Jahr 2015 der nicht sehr schmeichelhafte, sondern zumindest in der medialen Öffentlichkeit pejorativ interpretierte Titel „Anglizismus des Jahres“ verliehen wurde.16 Zugleich aber wird übersehen, dass gruppendynamische Prozesse bzw. gruppenidentitätsbildende Initiativen nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Romania mit Anglizismen oder englischen Begriffen hantieren: „We are Family“, „Come together“ oder Begrifflichkeiten wie Team-Building sind europaweit sprachenübergreifend zu konstatieren.

Details

Seiten
242
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631820414
ISBN (ePUB)
9783631820421
ISBN (MOBI)
9783631820438
ISBN (Hardcover)
9783631818091
DOI
10.3726/b16876
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (April)
Schlagworte
Flucht Handlung Sprachgeschichte Migration Theater Manuskriptforschung
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 242 S., 17 s/w Abb., 5 Tab.

Biographische Angaben

Maria Lieber (Band-Herausgeber:in) Christoph Oliver Mayer (Band-Herausgeber:in)

Maria Lieber ist Professorin für Romanische Sprachwissenschaft und Direktorin des Italien-Zentrums an der Technischen Universität Dresden. Christoph Oliver Mayer ist Gastprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin für Fachdidaktik der romanischen Sprachen und Privatdozent für Italienisch und Französisch an der Technischen Universität Dresden.

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Titel: Flüchtlinge? Zur Dynamik des Flüchtens in der Romania
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