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Dostojewskij und die bildenden Künste

©2024 Dissertation 200 Seiten

Zusammenfassung

Fürst Myschkin kommt in Dostojewskijs Roman Idiot beim Betrachten einer Kopie des Gemäldes von Hans Holbein Der Leichnam Christi im Grabe zu der Erkenntnis, „von einem solchen Bild kann einem der Glaube vergehen.“ Dostojewskij selbst war ein begeisterter Bildbetrachter, sein Oeuvre inspiriert bis heute zahlreiche Künstler zu eigenen Werken. Der Band versammelt Beiträge, in denen der Frage nach den Wechselwirkungen zwischen Dostojewskij und den bildenden Künsten in der doppelten Ausrichtung als Frage nach der Rezeption von Kunst im Werk des Russen und nach der Rezeption von Leben und Werk Dostojewskijs durch bildende Künstler nachgegangen wird.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Title
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Kurze Reminiszenz an ein langes Leben: Zur Erinnerung an Ellen Lackner
  • Die Macht der Bilder. Fjodor Dostojewskij als Bildbetrachter. Versuch einer Annäherung
  • Fiktionale Personifikationen in der Kunst zu Dostojewskij
  • Der Schwerdenker als Denkmal. Zur Geschichte öffentlicher Dostojewskij-Skulpturen
  • Weiße Nächte – ein Jahrhundert in Bildern
  • Das Kultbild der Orthodoxie als Chiffre
  • Dostojewskijs Räume
  • Das Dostojewskij-Jahr 2021: Ein Rückblick
  • Begegnung mit F. M. Dostojewskij im 21. Jahrhundert (zum 200. Geburtstag des Schriftstellers)
  • F. M. Dostojewskijs ukrainische Wurzeln
  • Die Deutsche Dostojewskij-Gesellschaft
  • Rezension zu E. D. Gal’cova (Hrsg.): „Zapiski iz podpol’ja“ F. M. Dostoevskogo v kul’ture Evropy i Ameriki (F. M. Dostojewskijs „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ in der Kultur Europas und Amerikas)
  • Deutsche Dostojewskij-Bibliographie 2022

Christoph Garstka

Vorwort

Nie zuvor ist wohl die Herausgabe eines Jahrbuchs der Deutschen Dostojewskij-Gesellschaft mit derart verwirrenden Gefühlen begleitet gewesen wie die für das Jahr 2022. Geplant war eigentlich ein mehr oder weniger erbaulicher Rückblick auf das große Jubiläumsjahr 2021, in dem weltweit der 200. Geburtstag des russischen Schriftstellers in zahlreichen Veranstaltungen gefeiert wurde. Auch unsere Gesellschaft hat sich in einer „Jubiläumstagung“ in der Evangelischen Akademie in Loccum mit dem Thema „Dostojewskij und die bildenden Künste“ unter dem aus dem Roman Der Idiot bekannten Motto „Von einem solchen Bild kann einen der Glauben vergehen“ beschäftigt, und ein großer Teil der Beiträge findet sich in diesem Jahrbuch wieder.

Aber seit dem 24. Februar 2022, dem Beginn des russischen Überfalls auf seinen slawischen Nachbarn, die Ukraine, ist die Lust auf Feierlichkeiten und Erbaulichkeiten grundlegend vergangen. Ganz ohne Zweifel wird gegenwärtig in Russland von allen Klassikern des russischen 19. Jahrhunderts gerade Dostojewskij als ideologische Autorität für die Unausweichlichkeit eines gewaltsamen zivilisatorischen Ost-West-Konflikts, der in der Ukraine ausgetragen werde, angeführt und nicht der Pazifist Lew Tolstoj oder der sich selbst als „Deutscher“ bezeichnende Iwan Turgenjew, und auch viel weniger Alexander Puschkin und sein imperialistisches Pamphletgedicht „Den Verleumdern Russlands“ oder der Dichter Fjodor Tjutschew, den allerdings Ex-Präsident Dmitrij Medwedjew als Beleg dafür herangezogen hat, dass Russophobie im Westen seit Jahrhunderten existiere. Im Zentrum dieser Argumentation steht wieder einmal Dostojewskijs „prophetische Gabe“, die bereits vor 150 Jahren das angeblich verräterische Gebaren der kleineren slawischen Nationen, zu diesen werden die Ukrainer gezählt, vorausgesehen habe. In unzähligen Internetposts und Diskussionsbeiträgen wird dabei besonders auf jenen Eintrag im Tagebuch eines Schriftstellers vom November 1877 hingewiesen, in dem sich Dostojewskij mitten im Russisch-Türkischen Krieg nach Erfolgen der russischen Armee auf dem Balkan über die Zukunft der von den Osmanen „befreiten“ slawischen Völker auslässt. Dostojewskij äußert hier seine Überzeugung, dass (wobei man in gegenwärtigen Zitationen die Gleichsetzung von Slawen mit Ukrainern herauslesen muss)

Russland noch nie solche Neider, Hasser, Verleumder und sogar Feinde gehabt hat, wie es alle diese Slawen sein werden, sobald Russland sie einmal befreit hat und Europa sie als befreit anerkennt! […] ich weiß, dass wir von den Slawen keine Dankbarkeit fordern können und uns schon jetzt darauf gefasst machen müssen. Sie werden nach ihrer Befreiung ihr neues Leben, ich sage es wieder, damit beginnen, dass sie von Europa, z.B. von England und Deutschland, eine Garantie und ein Protektorat für ihre Freiheit erbitten werden; im Konzert der europäischen Mächte wird sich zwar auch Russland befinden, aber sie werden das Konzert gerade zum Schutz gegen Russland anrufen. Sie werden […] sich selbst innerlich einreden, dass sie Russland nicht den geringsten Dank schulden […] und dass, wenn sich Europa nicht eingemengt hätte, Russland sie sofort […] verschlungen haben würde, „um seine eigenen Grenzen zu erweitern und ein Allslawisches Reich zu gründen, in dem alle Slawen dem gierigen, listigen und barbarischen großrussischen Stamme untertan wären“. Lange, sehr lange werden sie nicht imstande sein, die Uneigennützigkeit Russlands und die von Russland erhobene große, heilige und unerhörte Idee anzuerkennen, eine von den Ideen, von denen die Menschheit lebt […]. Den befreiten Slawen wird es besonders angenehm sein, in der ganzen Welt auszuposaunen, dass sie gebildete, der höchsten Kultur fähige Völker seien, während Russland ein barbarisches Land, ein düsterer nordischer Koloss sei, […], ein Widersacher und Hasser der europäischen Zivilisation. Sie werden natürlich gleich am Anfang eine konstitutionelle Regierung mit Parlamenten, verantwortlichen Ministern und Rednern haben. […] Mögen sie uns noch so sehr hassen und in Europa verleumden, […], sie werden dennoch immer instinktiv fühlen […], dass sie ihre Existenz auf der Welt nur dem großen Magneten – Russland zu verdanken haben […]. Es wird sogar Augenblicke geben, da sie imstande sein werden, zuzugeben, dass, wenn Russland, das große östliche Zentrum mit seiner großen Anziehungskraft nicht existierte, ihre Einheit sofort auseinanderfallen und sich auflösen und sogar ihre Nationalität im europäischen Ozean wie ein Tropfen im Meere verschwinden würde. […] Russland wird natürlich immer wissen, dass es das Zentrum der slawischen Einheit ist und dass die Slawen ein freies nationales Leben nur deshalb haben, weil Russland es wollte und will, weil Russland es geschaffen hat. […] Wenn dieser Krieg günstig abläuft, wird Russland zweifellos in eine neue und höchste Phase seiner Existenz treten …1

Unwillkürlich erinnert man sich an so manche Passage aus Putins pseudohistorischen Aufsätzen, die zur Begründung des Überfalls verfasst wurden, wenn man liest, wie Dostojewskij den slawischen Völkern das Existenzrecht als Nation – und damit als eigenständiger Staat – abspricht. Die „undankbaren“ kleinen slawischen Brüder verraten ihre Bestimmung, indem sie europäisch werden wollen, kann das nicht eine Prophezeiung des Euromajdans sein? Hat Russland, respektive die von Moskau aus agierende sowjetische Regierung, nicht Nationen wie Belarus und die Ukraine erst „geschaffen“ und sie dann, nach 1991, auch in die Unabhängigkeit entlassen und somit „befreit“?

Bei genauerer Betrachtung jedoch werden die Unterschiede zwischen 1877 und 2023 deutlich. So schnell lässt sich Dostojewskij nicht vor den Karren der Kriegstreiber spannen. Ja, in Zukunft, so Dostojewskij, werde es unter Führung der Russen zur allslawischen Einheit kommen, die der Menschheit ein heilbringendes Wort bringen werde, und diese werde von Konstantinopel aus, das „uns gehören muss“, regiert. Aber, und jetzt lohnt es sich, genauer zu lesen, um „einen großen und mächtigen Organismus einer brüderlichen Vereinigung der Völker zu schaffen“, dürfe man auf keinen Fall „mit dem Schwerte, sondern durch Ermahnung, Beispiel, Liebe, Selbstlosigkeit und Licht“ vorgehen.2 Gewalt lehnt der Autor ausdrücklich ab, auch wenn es dann hundert Jahre dauern könnte, bis die slawischen Brüder freiwillig unter die russischen Fittiche gekrochen kämen. Russland denke „nicht im geringsten daran und wird auch niemals daran denken, sein Territorium auf Kosten der Slawen zu vergrößern, sie politisch zu annektieren und ihre Länder in russische Gouvernements zu verwandeln“. Dieser Teil der Ausführungen aus dem Tagebuch ist in den aktuellen Zitationen nicht zu finden. Dostojewskijs Träume einer allslawischen Einheit durch brüderlichen Zusammenschluss mögen in unserer westlichen Sicht als Phantastereien erscheinen, mit militärischer Gewalt wollte er sie allerdings nicht erzwingen.

Dies ist nur eines unter vielen belegbaren Beispielen, wie unser Autor von russischer Seite in die Diskussionen um einen Ost-West-Konflikt eingebracht wird, nämlich als Hauptvertreter einer antiwestlichen Zivilisationskritik, nach der Europa (und die USA) als Reich des Bösen einen geradezu apokalyptischen Kampf auf ukrainischen Boden gegen das Gute in Gestalt des orthodoxen Russlands führt. Blickt man durch dieses Prisma zurück auf die Feierlichkeiten des Jubiläumsjahrs 2021 und die auf ihnen geäußerten hehren Worte über die weltweit wirkende verbindende Kraft des Autors und seines Werks, bleibt ein fahler Nachgeschmack.

Welche Schlussfolgerungen sind daraus zu ziehen? Ein resignierendes Eingeständnis, dass die Ziele unserer Gesellschaft, als Brücke zwischen Deutschland und Russland zu fungieren, grandios gescheitert sind? Oder gar ein Rückzug auf eine rein werkgelenkte, werkimmanente Auslegung nur des fiktionalen Opusʼ Dostojewskijs unter völliger Ausblendung aller aktuellen politischen Implikationen? Allein: dieser „vertrackte Russe“ bleibt eine zentrale Figur zum Verständnis des widersprüchlichen Denkens in Russland. Sein Oeuvre kritisch zu deuten, seine Wirkung bis heute einzuordnen und die Ergebnisse in seriöser Weise einem breiten Publikum bekannt zu machen, wird auch weiterhin das Hauptanliegen der Arbeit unserer Gesellschaft sein. Und unter diesem Blickwinkel sind auch die Beiträge in diesem Jahrbuch zu lesen.

Sie konzentrieren sich in thematischer Hinsicht, wie bereits erwähnt, zunächst auf unsere Jubiläumstagung im September 2021, auf der in doppelter Perspektive zum einen auf Dostojewskij als Kunstrezipient und zum anderen auf Dostojewskijs Wirkung auf die bildenden Künste geblickt wurde.

Die Bamberger Kunsthistorikerin Ada Raev stellt uns anfangs Dostojewskij als Bildbetrachter vor. Aus den Erinnerungen von Anna Grigorjewna wissen wir sehr genau, wie sich Dostojewskij nach seiner Ankunft in Dresden 1867 sofort in die königliche Gemäldegalerie begeben und dort die Meisterwerke der abendländischen Kunst intensiv studiert hat. Wichtiger ist aber, dass Dostojewskij, wie Raev zeigt, schon als Kind großes Interesse für bildende Kunst zeigte, diese aber, z.B. im Dreifaltigkeits-Kloster in Sergijew Possad, in ihrem sakralen Zusammenhang kennengelernt und in ihrer religiösen Bedeutung eingeordnet hat. Und so muss man davon ausgehen, dass er auch die Gemälde, die er in den westeuropäischen Galerien kennenlernte, nie allein nur aufgrund ihrer ästhetischen Könnerschaft beurteilte. Als Bildbetrachter, so Raev, war Dostojewskij darüber hinaus immer literarisch interessiert. Dieser „Literaturzentrismus“ offenbart sich in vielen seiner Werke, in denen vor allem Gemäldebeschreibungen kunstvoll in das Geschehen eingebaut sind. Gleich anschließend präsentiert uns der Kunsthistoriker Andreas Hüneke die umgekehrte Perspektive: nun rückt Dostojewskij und sein Werk als Bildthema in den Fokus. Hüneke stellt uns zahlreiche fiktionale Personifikationen in der Kunst zu Dostojewskij in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor und kommt zu der vielleicht gar nicht so erstaunlichen Feststellung, dass der russische Autor mit über 50 bisher bekannten Werken in der bildenden Kunst zu den am häufigsten porträtierten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts gehört.

Die zahlreichen Denkmäler, die für Dostojewskij nicht nur in Russland, sondern auch in Deutschland errichtet wurden, betrachtet im Anschluss Andreas Guski sehr eingehend. Dabei zieht er spannende Verbindungen zu gemalten Porträts und stellt die klassischen oder auch sozialistisch-realistischen Darstellungsweisen, die vielfach die „zerfurchte Denkerstirn“ des Schriftstellers betonen, den vielleicht grotesk und exzentrisch anmutenden, aber doch eher zu einem „interpretativen Dialog“ (Umberto Eco) anregenden Skulpturen avantgardistisch orientierter Künstler gegenüber. Der Beitrag von Gudrun Goes stellt im Anschluss die Buchillustrationen dreier Künstler – ein deutscher und zwei russische – vor, die sie zu Dostojewskijs Erzählung „Weiße Nächte“ anfertigten und die im Anschluss auch publiziert wurden. Dabei ist es interessant zu erfahren, wie die Künstler mit jeweils ganz eigenen Methoden die träumerische, fast schon somnambule Atmosphäre der „unwirklichsten“ Stadt und ihrer Bewohner eingefangen haben, die besonders in dieser frühen Erzählung des Autors thematisiert wird.

Als gläubigem orthodoxen Christen war Dostojewskij auch die Ikonenverehrung sehr nahe. Im Tagebuch eines Schriftstellers erwähnt er, dass ein lutheranischer Pastor es niemals verstehen werde, wie sich Menschen, die an den lebendigen Gott glauben, vor einem bemalten Brett verneigen können. Auch in seinem literarischen Werk spielt die Ikone und die besondere Bildhaftigkeit einer Ikone eine herausragende Rolle. Nadine Menzel unternimmt es in ihrem Beitrag, die Relevanz der Ikone für die Erzählung „Die Sanfte“ herauszuarbeiten. Sie kommt zu der Erkenntnis, dass der Pfandleiher daran scheitern musste, aus seiner jungen Ehefrau, die sich kurz zuvor umgebracht hatte, eine Ikone zu „schreiben“, dass aber darin auch die Aussicht auf Wandel der Einstellung des Erzählers zum Ausdruck komme. Abgeschlossen wird dieser thematische Block des Jahrbuchs mit Beispielen der Wirkung von Dostojewskij auf zeitgenössische Künstler, indem uns der Wiener Maler, Zeichner und Graphiker Oswald Auer seine Arbeiten zum Thema „Dostojewskijs Räume“ vorstellt.

Es folgen danach zwei Beiträge, in denen einige der vielen Aktionen und Veranstaltungen anlässlich des 200-jährigen Jubiläums Dostojewskijs vorgestellt werden. Zunächst wirft Yvonne Pörzgen einen Blick auf Russland, Deutschland und die Welt, bevor sie die bedeutsame Frage stellt „Was bleibt?“ Im Anschluss geht Natalia Block-Nargan eingehender auf die Veranstaltungen in Moskau und St. Petersburg im November 2021 ein, an denen sie selbst teilgenommen hat, vor allem die Konferenz „Dostojewskij und die Weltkultur“ in St. Petersburg und die Eröffnung des neugestalteten Moskauer Museums in der ehemaligen Wohnung der Familie Dostojewskij. Die zahlreich angeführten Titel der Konferenzbeiträge geben dabei einen guten Überblick über die gegenwärtigen Interessen der vorwiegend russischen Dostojewskijforschung.

Details

Seiten
200
Jahr
2024
ISBN (PDF)
9783631910504
ISBN (ePUB)
9783631912720
ISBN (Paperback)
9783631910498
DOI
10.3726/b21403
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (April)
Schlagworte
Russisch/Literatur Künstler Kulturaustausch Einflussforschung Rezeptionsgeschichte Rezeption literarischer Werke in der Kunst, bildende Künste Dostojewskij als Bildbetrachter
Erschienen
Peter Lang – Berlin · Bruxelles · Chennai · Lausanne · New York · Oxford, 2024. 200 S., 37 S/W-Abb.
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