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Wege der Germanistik in transkultureller Perspektive

Akten des XIV. Kongresses der Internationalen Vereinigung für Germanistik (IVG) (Bd. 7) - Jahrbuch für Internationale Germanistik - Beihefte

von Laura Auteri (Band-Herausgeber:in) Natascia Barrale (Band-Herausgeber:in) Arianna Di Bella (Band-Herausgeber:in) Sabine Hoffmann (Band-Herausgeber:in)
©2022 Konferenzband 690 Seiten
Open Access

Zusammenfassung

Vergleichende Literaturwissenschaft aus synchronischer und diachronischer Perspektive ist die Hauptthemenstellung des Bandes. Diskutiert werden u.a. die Konstruktion von Differenzen und von Identität, die Rolle der Mehrsprachigkeit in literarischen Werken, die Bedeutung der Jiddistik gestern und heute.
Der siebte Band enthält Beiträge zu folgenden Themen:
- Konstruktionen des Orients in der Literatur des Mittelalters;
- Kongruenzen französisch-deutschen und deutsch-jiddischen Kulturtransfers in Chansons de geste, Romanen und Erzählungen;
- Sprache der Migration. Migration der Sprache. Sprachidentitäten und transkulturelle Literatur im Zeitalter der Globalisierungsprozesse;
- Jiddische Sprache und Literatur in Geschichte, Gegenwart und Zukunft

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Konstruktionen des Orients in der Literatur des Mittelalters
  • Konstruktionen des Orients in der Literatur des Mittelalters. Eine Einführung (Julia Zimmermann (Graz))
  • Königsgräber in Ost und West. Konstruktion und Transformation heidnischer und christlicher Begräbnisriten bei Wolfram von Eschenbach (Magdalena Butz (München))
  • Fürstenlob im Horizont des Orients. Zu Tannhäusers V. Leich Der künic von Marroch (Alexandra Urban (München))
  • Monster und Fabelwesen des Orients im Herzog Ernst (Concetta Giliberto (Palermo))
  • Arraz und Azagouc – Ackers und Babilonie Heroische Kompensation der materiellen Unterlegenheit gegenüber den Heiden (Walter Kofler (Vorchdorf))
  • Heiden, Christen – Dämonen? Zur triuwe in Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur (Eva Bauer (München))
  • Das Orient- und Heidenbild im altfranzösischen Cassidorus (Abdoulaye Samaké (Bamako/Lausanne/Saarbrucken))
  • Der Orient als „Gegenraum“: Heterotopien in Johann Hartliebs Alexanderroman (Susanne Knaeble (Bayreuth))
  • Faustus als Verführer. Zur Orientpassage in der Historia von D. Johann Fausten (Alexander Rudolph (München))
  • Kongruenzen romanisch-, französisch-deutschen und deutsch-jiddischen Kulturtransfers in Chansons de geste, Romanen und Erzählungen
  • Einleitende Vorbemerkung (Danielle Buschinger (Amiens) und Sieglinde Hartmann (Würzburg))
  • Der deutsche Fortunatus: zwischen Übersetzung und Adaptation (am Beispiel einer jiddischen Überlieferung) (Galina Baeva (St. Petersburg))
  • Transformationsprozesse von altfranzösischen höfischen Romanen und Chansons de geste über das Mittelhochdeutsche zu jiddischen Prosaerzählungen in der Frühen Neuzeit (Danielle Buschinger (Amiens))
  • Der mittelhochdeutsche Gregorius: Transformation der altfranzösischen Legende zur Mythenerzählung bei Hartmann von Aue? (Sieglinde Hartmann (Würzburg))
  • Das Bild der Sirene in Gottfrieds Tristan, der Folie Tristan d’Oxford und im Reinfried von Braunschweig (Rosmarie Morewedge (New York))
  • Wagners Lohengrin: Ein musiktheatralischer Kulturtransfer. Deutschtum gegen Grand Opéra nach französischer Art (Philippe Olivier (Berlin))
  • Topographische Transformationen zwischen französischer und deutscher Epik in Aliscans und Wolframs von Eschenbach Willehalm (Ronny F. Schulz (Kiel))
  • Petrarkismus in der deutschen Sonettdichtung des 17. Jahrhunderts (Galina Shapovalova (Moskau))
  • Aspekte von Kunst- und Kulturtransfer in der Malerei am Beispiel oberitalienischer Marienkrönungen um 1400 im transalpinen Raum (Irma Trattner (Salzburg))
  • Mehrsprachige Texte in der „deutschsprachigen“ Literatur
  • Einleitung (Barbara Siller (Cork), Sandra Vlasta (Bologna), Aine McMurtry (London))
  • Literarische und nichtliterarische Mehrsprachigkeitsforschung – Überlegungen zur Analyse von mehrsprachigen Texten (Katrin Gunkel (Berlin))
  • „habe / seit ich / laufen / kann […] das rennete“: Gestalt(ung) und Verfahren mehrsprachiger Lyrik in der Literatur Alto Adige-Südtirols (Erika Unterpertinger (Wien) )
  • „Eine Frauennase in einem Männergesicht“ Zum Verhältnis von Körper- und Raummetaphern der Mehrsprachigkeit (Rainer Guldin (Lugano))
  • Applikationen englischsprachiger Popmusik in Texten mit deutscher Basissprache (Rolf Parr (Duisburg-Essen))
  • Tagebücher deutschstämmiger Migrant*innen in Brasilien als Beispiel mehrsprachiger autobiographischer Texte (Izabela Drozdowska-Broering (Santa Catarina))
  • Vom Jenseits und Diesseits der Sprache: Sprachliche Positionierungen und Sprachlandschaften in Zafer Şenocak (Nishant K. Narayanan (Hyderabad))
  • Deutsch-rumänische Kulturvermittlung in Südosteuropa – der rumäniendeutsche Autor Oscar Walter Cisek (Roxana Nubert (Temeswar), Ana-Maria Dascălu-Romițan (Temeswar))
  • Sprache der Migration – Migration der Sprache. Sprachidentitäten und transkulturelle Literatur im Zeitalter der Globalisierungsprozesse
  • Einleitung: Sprache der Migration – Migration der Sprache. Sprachidentitäten und transkulturelle Literatur im Zeitalter der Globalisierungsprozesse (Sandro M. Moraldo (Bologna), Max Graff (Heidelberg), William Franke (Nashville))
  • Einsprachigkeit oder Mehrsprachigkeit würdigen? Der Diskurs um Sprachlichkeit in der Geschichte des Adelbert-von-Chamisso-Preises (Beatrice Occhini (Salerno))
  • Geschichten aus der Fremde. Sehnsucht, Isolation und Anpassung in den frühen Erzählungen Rafik Schamis (Irene Faipò (Heidelberg))
  • Sprache und Autobiographie bei Emine Sevgi Özdamar (Silvia Palermo (Neapel))
  • Heimkommen ins „Altneuland“. Transkulturelle Aspekte in der Lyrik Manfred Winklers (Monica Tempian (Wellington))
  • Heimaten, Heimatsprachen und Sprachheimaten bei Stefanie Zweig (Natalie Eppelsheimer (Middlebury/VT))
  • Ästhetische Hybridität und heimatlose Individuen bei Zaimoğlu und Belinga Belinga (Karina Becker (Magdeburg))
  • „Vielleicht hat jeder Autor einen eigenen, einzigen Satz“. Selbstreflexives Schreiben in Herta Müllers Essays der 1990er-Jahre: Wie Erfundenes sich im Rückblick wahrnimmt (Raluca Dimian-Hergheligiu (Suceava))
  • Literarische Doppelgängerphantasien und Sprachidentitäten im transkulturellen Kontext: Herta Müller (Gerald Bär (Lissabon))
  • Zwischen Erinnerungsbildern und Identitätsdiskursen. Zur zweisprachigen literarischen Produktion italienisch-deutscher Autorinnen (Nora Moll (Rom))
  • Flucht, Sprache und Sprachreflexion bei Abbas Khider (Max Graf (Heidelberg) )
  • „Die Katastrophe des Nie-irgendwo-ankommen-Dürfens“. Macht, Gewalt und Sprache in den Texten Abbas Khiders (Beate Baumann (Catania))
  • Geschlecht, Kunst und Migration in Nino Haratischwilis Roman Das achte Leben (für Brilka) (2014) (Anna-Katharina Gisbertz (Mannheim/Dortmund))
  • Dialogische Bildbetrachtungen. Navid Kermanis Ungläubiges Staunen (2015) (Julia Bohnengel (Heidelberg))
  • Spracherfahrungen und Identitätsentwürfe am Beispiel von Zsuzsa Bánks Roman Schlafen werden wir später (2017) (Ulrike Reeg (Bari))
  • Migration und Flucht als utopische Räume der pluralen Gesellschaft: Diaspora als Bewegung der Postmigration in Ilija Trojanows Nach der Flucht (2017) (Markus Hallensleben (Vancouver))
  • Postmigration und autosoziobiografisches Erzählen in Dilek Güngörs Vater und ich (2021) (Jule Thiemann (Hamburg))
  • Wladimir Kaminer: Von Moskau nach Berlin, oder: Der Weg zu einer nationalkulturellen Identität im multikulturellen Berlin. Ein Gespräch mit dem Schriftsteller (Tiziana Corda (Berlin))
  • Die Aufgabe der Literatur in der sich globalisierenden Welt, oder: Begegnung mit dem Unvergleichbaren. Walter Benjamin und die Weltliteratur (William Franke (Nashville))
  • Jiddische Sprache und Literatur in Geschichte, Gegenwart und Zukunft
  • Erinnerungskultur im Jiddischen kontrastiv zum Deutschen, am Beispiel des jüdischen Theaters im Shanghaier Exil (Shoou-Huey Chang (Kaohsiung))
  • Gauguin und Anti-Gauguin: Völker und Länder mit den jiddischen Augen des Peretz Hirschbein gesehen (Ber Kotlerman (Ramat Gan))
  • Mond oder levone, mund oder moyl? Stimmen in der Kontroverse um Germanismen und Daytshmerizmen im Ostjiddischen 1860–2000 (Steffen Krogh (Århus))
  • Demonstrativa im älteren Jiddisch (Henrike Kühnert (Trier))
  • Ein jiddischer Artusroman. Werkstattbericht zur Edition des „Widuwilt“ (Astrid Lembke (Mannheim), Tatjana Meisler (Berlin), Ina Spetzke (Berlin))
  • Polemische Blicke auf die christliche Mehrheitskultur: Zwei jiddische „Toledot Yeshu“-Handschriften aus Amsterdam aus dem 18. Jahrhundert (Evi Michels (Tübingen))
  • Jiddisch kommentierte Sprichwortsammlungen (Simon Neuberg (Trier))
  • Die Herausbildung eines jiddischsprachigen kulturellen Feldes in der Bukowina. Eine Untersuchung am Beispiel der Zeitschrift „Tshernovitser bleter“ (1929–1937) (Francisca Solomon (Iaşi))
  • Das Kind als Identitätsfaktor in der Cambridger Handschrift (1382) (Astrid Starck-Adler (Mulhouse))
  • Altchinesische und judenchinesische Einflüsse im Jiddischen (Paul Wexler (Tel-Aviv))
  • Reihenübersicht

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Konstruktionen des Orients in der Literatur des Mittelalters. Eine Einführung

1. Konstruktionen des Orients1

In gegenwärtigen ebenso wie in vergangenen (geo-)politischen Debatten sind Fragen danach, was und wie der Orient ist oder wo dieser überhaupt beginnt bzw. wieder aufhört, häufig substantiell verzerrt und diskursiv kaum einholbar, auf jeden Fall aber ausgesprochen strittig. Die Diskussion dieser Fragen hat in den kulturtheoretisch orientierten Geisteswissenschaften spätestens seit Edward Saids wirkmächtiger Studie Orientalism (1978) und den darauf fußenden sog. Postcolonial Studies erheblich an Fahrt aufgenommen.2 Saids teils widersprüchliche und in der Wissenschaftsgemeinschaft teils heftigen Widerspruch auslösende programmatische Ausführungen sind geprägt von Foucaults Diskursanalyse und dessen Überlegungen zur Korrelation von Wissen und Macht (vgl. hierzu Brands/Schnepel/Schönig 2011: 7–13). Auch wenn Saids Kulturbegriff in diesem Zusammenhang alles andere als eindeutig ist (hierzu Kramer 2011: 29–41), so hat er doch auf den Konnex zwischen inter- bzw. transkulturellen Begegnungen, Phänomenen und Kontaktzonen und den Mechanismus von asymmetrischen Identitätskonstruktionen und Kulturimperialismus hingewiesen (vgl. auch Plotke 2019: 115). Westliche Orientvorstellungen scheinen dabei im positiven ebenso wie im negativen Sinne als diskursive Praktiken eines „Othering“ auf, das seine Grundlage in spezifischen Imaginationen und stereotypen Vorstellungswelten hat.

Die seit knapp 40 Jahren anhaltende Kritik an Saids polemischer Schrift, alles Aufdecken von Widersprüchlichkeiten, alle wissenschaftlichen Reibungen an seinen Überlegungen zu Alterität und Macht, alle Erkenntnis von der ←13 | 14→Dynamik des Orientalismus- bzw. Okzidentalismus-Begriffes3 zeugen freilich nicht allein von der unablässigen Produktivität kritischer Auseinandersetzung mit Said, sondern vor allem von der Signifikanz der grundlegenden Fragestellung: Sind Bedeutung und Verwendung des Begriffs „Orient“ nicht schon von vornherein „orientalistisch“ (im Sinne Saids) und solchermaßen eine Konstruktion?

Vor diesem Hintergrund ist die titelgebende Frage unserer Sektion nach „Konstruktionen des Orients in der Literatur des Mittelalters“ bereits insofern heikel, als die Orientrezeption der Vormoderne in historischer Differenzierung sicherlich in anderer Weise konturiert ist als die mit dem Begriff des „Orientalismus“ verbundenen Präsuppositionen der vergangenen Jahrzehnte. Gleichwohl ist auch der Orient der Vormoderne „von seiner Bezeichnung her eine ‚europäische‘ ‚Perspektivierung‘ (Plotke 2019: 115), deren Analyse zuallererst ein christlich-abendländisches Selbstverständnis freilegt. Da vormoderne Vorstellungen vom Orient abhängig sind von Standpunkt und Wissen des Betrachters und seiner Einbindung in divergierende geschichtliche, geopolitische, soziokulturelle, religiöse, geographische, heilsgeschichtliche, ethische u. a. Diskurse, ist dieses Selbstverständnis in sich aber keineswegs einhellig. Gerade der Literatur mit ihren Möglichkeiten der fiktionalen Darstellung bietet sich ein breiterer Spielraum im produktiven Umgang mit imaginären Entwürfen, da sie „von unmittelbaren referentiellen Funktionen entlastet“ ist und deshalb „Wissensformationen, Kulturmuster, Normen und Leitbilder aus anderen Redeordnungen“ übernehmen (Kellner 2009a: 177; vgl. auch Müller 2004: 306) und in neue Sinnformationen übertragen kann. Obwohl der Orient auch in mittelalterlicher Zeit kein fiktiver Raum ist und insbesondere die Tradition der patristischen Geographie ihn als realen Bestandteil der Welt ausweist, bietet er sich der Literatur dennoch als ein „Spielraum des Erzählens“ an (Stock 2002: 294), in dem durch die Setzung verschiedener Gegen- oder Außenmarkierungen immer wieder vor allem das „Eigene“ reflektiert werden kann (vgl. ebd.). Infolgedessen lässt sich im Blick auf die Literatur der Vormoderne im Grunde kaum von Konstruktionen des (einen) Orients sprechen, vielmehr geben sich unterschiedliche Orientkonzeptionen im diskursiven Nebeneinander, teilweise sogar in Überblendung zu erkennen.

←14 | 15→Eine Besonderheit stellt dabei der Umstand dar, dass der abendländischen Christenheit durchaus nicht nur – einem dualistischen Weltverständnis entsprechend – ein morgenländisches „Heidentum“ gegenübergestellt ist. In Bezug auf ältere griechische, lateinische und alttestamentliche Traditionen dient der Orient-Begriff zunächst der groben Zuordnung zu einer Himmelsrichtung. Die plaga orientalis findet sich im diffusen Irgendwo einer Weltgegend östlich von Israel bzw. Juda. Entsprechend zeigt auch die Verwendung des mhd. Begriffes ôrîent, der in den Quellen übrigens auffallend selten genannt wird, kaum das Interesse einer mittelalterlich-europäischen Literatur an einem „realen“ Orient; Angaben zur geographischen Lage oder zur Topographie eines orientalischen Landes bleiben häufig im Ungewissen. Und so genügt – um nur wenige Beispiele zu nennen – etwa in Wolframs Willehalm die Aussage Gyburgs, ihr heidnischer Vater werde weitere Hilfstruppen von Orient (Wh. 94,11) zum Kampf gegen die Christen rekrutieren; im Marienleben Wernhers des Schweizers reicht als Hinweis auf die Herkunft der Heiligen Drei Könige die Angabe von Orient dem landen (V. 3377) und in der heilgeschichtlichen Dichtung Die Erlösung darf der allmächtige Gott selbstverständlich über die ganze Welt, obene von orient | biz niden an den occident (V. 6250 f.) herrschen. Wenn zum Ende des Jüngeren Titurel schließlich der Gral in eigentümlicher Selbstbestimmtheit beschließt, gen orient (Str. 6052,2) zu migrieren, weiß auch hier allein der versierte Rezipient, dass damit das indische Reich des Priesterkönigs Johannes gemeint ist. Abseits solch konkreter, aber zugleich unkonturiert verbleibender ôrîent-Benennungen erweisen sich mittelalterliche Bilder und Vorstellungen vom Orient freilich als vielschichtiger und im Blick auf topographische Verortungen (sofern sie denn in den Texten vorgenommen werden) als durchaus beweglich.

Mit dem morgenländischen Schisma ist dem weströmischen Reich zunächst ein oströmisches Reich, ist der abendländischen Christenheit ein christlicher Orient zur Seite gestellt. In der Vorstellungswelt des abendländischen Christentums ist dieser Orient aus der Vagheit einer östlichen Weltgegend gleichsam in die unmittelbare Nachbarschaft des Westens gerückt und steht konkret für das Byzantinische Reich bzw. für die Ostkirche. Der byzantinische Orient ist folglich ein christliches, in der östlichen Peripherie der eigenen Welt gelegenes Herrschaftsgebiet, das allerdings in Konkurrenz zum christlichen Okzident, insbesondere zum Papst und zum westlichen Kaisertum, steht (vgl. Plotke 2019: 115 f.) und dessen Ränder sich in den mittelalterlichen Jahrhunderten aufgrund von Eroberungen, Expansionen, Kreuzzügen u. a. immer wieder verschoben haben (hierzu Suttner 1993: 838 f.).

Neben diesem geographisch-politischen Orientverständnis entwickelt sich mit dem Erstarken des Islams und dem Aufkommen der Kreuzzüge ein weiteres, in sich durchaus heterogenes Orientbild, das im Wesentlichen durch die religiöse Differenz zum Christentum geprägt ist. Dieser „Kreuzzugsorient“ ←15 | 16→(Szklenar 1966: 177) ist – je nach historischer Momentaufnahme – ebenfalls durch fließende bzw. sich kontinuierlich verschiebende Grenzen charakterisiert. So konnte zeitweise sogar das maurische Spanien Teil dieses Orients sein. Gerade zu Letzterem wie auch zur Levante bestand aus europäischer Sicht über Jahrhunderte durchaus nicht nur ein Verhältnis der kriegerischen Auseinandersetzung, sondern auch des regen wirtschaftlichen und kulturellen Austauschs, insbesondere im wissenschaftlichen Bereich (hierzu u. a. Jankrift 2007).

Neben dem byzantinischen und dem – im weitesten Sinne – muslimischen Orient existieren in der mittelalterlichen Literatur darüber hinaus die auf antike Wissenstraditionen zurückzuführenden Vorstellungen von einem sog. „Mirabilienorient“ (zum Begriff siehe Quenstedt 2018: 297). Gemeint ist damit eine Weltgegend, die im (sehr) fernen Osten der Erzählwelten und damit in größtmöglicher, aber immerhin erreichbarer Distanz zur westlichen Eigenwelt loziert wird, die einer meist als India bezeichneten Region zugerechnet ist, deren Beschreibungen mit Tatsachenwissen oder Realitätserfahrung „wenig, wenn nicht gar nichts zu tun“ haben (Kugler 1990: 110), und die als Vorstellungsraum des Wunderbaren fungiert. Dieses Wunderland ist auffallend ambivalent: Neben toposhaft überbordender Fruchtbarkeit und immensem Reichtum an natürlichen und übernatürlichen Ressourcen ist India auch Herkunftsland bzw. Aufenthaltsort monströser Völker, Wunder- und Fabelwesen (ausführlich hierzu u. a. Simek 2015), die zumindest topographisch als das ganz „Andere“ markiert sind und vielfach als Bedrohung wahrgenommen werden. In symbiotischer Verkopplung von literarisch tradiertem Bildungswissen und christlich-heilsgeschichtlichen Weltbildern werden der Reichtum und die Fruchtbarkeit des Mirabilienorients mit dessen Nähe zum Irdischen Paradies begründet. Dieses ist im noch östlicheren, dem Menschen allerdings unzugänglichen Osten lokalisiert und markiert vor allem in mittelalterlichen Wissenstexten christlicher Lehre einen weiteren eigenständigen orientalischen Sonderraum.4

Zahlreiche Erzählexte des 12. und 13. Jahrhunderts siedeln auf einem oder mehreren der angeführten orientalischen Gebiete ihre Handlungsschauplätze teilweise oder gar mehrheitlich an. Die Literatur tritt damit in ein implizites kulturelles Dialogverhältnis zu historischen Ereignissen, narrativen Konstellationen oder diskursiven Wissensformationen. Die Texte verhandeln die kulturellen Beziehungen zwischen Europa und dem (jeweiligen) Orient, indem sie ←16 | 17→an bestimmten Machtkonfigurationen und Handlungsmustern (Brautwerbung, Eroberungsfeldzug, Kreuzzug, Entdeckungsreise, Vision etc.) verschiedene Relationsverhältnisse durchspielen und die unterschiedlichen kulturellen Positionen in Beziehung zueinander jeweils neu definieren. Zuweilen überblenden sich dabei freilich verschiedene Orientvorstellungen. Angeführt sei nur ein Beispiel: Die mittelalterlichen Mappae mundi, in denen alles, was sich östlich des heilsgeschichtlichen Weltzentrums Jerusalem befindet, dem „Orient“ zugezählt ist, verorten (in ihrer traditionellen Dreiteilung der Welt in die Kontinente Europa, Afrika und Asien) die besagten Wundervölker nicht im paradiesnahen Indien, sondern am südlichen Rand Afrikas.5 Entsprechend können diese Wundervölker auch in literarischen Texten auftauchen, die kriegerische Begegnungen zwischen Christen und Nicht-Christen etwa im Kontext der Kreuzzugsthematik schildern. Im Rolandslied, in Wolframs Willehalm oder im Jüngeren Titurel treten etwa diverse Wundervölker im Verbund mit heidnischen Heerscharen als Gegner der christlichen Streiter in Erscheinung. Sie sind damit – in den Texten gänzlich unhinterfragt – in einen anderen Orient („Kreuzzugsorient“) eingebunden als in den, der gemeinhin als ihre Heimstatt oder ihr Herkunftsland gilt („Mirabilienorient“).

Wichtiger als Formen der Verwischung des mittelalterlichen Orientbildes in der Überblendung divergierender Imaginationen scheint schließlich die Beobachtung, dass eine Vielzahl der literarischen Darstellungen ihre Orientschilderungen auffallend unorientalisch gestaltet, ja teilweise scheinen sie den Orient in der Unaufgeregtheit, wenn nicht gar Nebensächlichkeit seiner narrativen Präsentation gleichsam zum Verschwinden zu bringen. Offenkundig geht es in diesem weniger deskriptiven als semiotischen Modus der Darstellung lediglich darum, den Orient als bloße Chiffre eines „Anderen“ zu kennzeichnen. Der Protagonist einer Erzählung hat sich den Herausforderungen dieses „Anderen“ zu stellen, herausgefordert und geprüft werden dabei aber eben immer auch die „vorher etablierten und weithin gültigen Sinnmodell[e]‌“ (Stock 2002: 293) des „Eigenen“. Den Orienterzählungen kommt damit eine bedeutende Funktion im Rahmen narrativ vermittelter Sinnstiftung zu.

2. Konstruktionen des Heidnischen

Eng an die Frage nach den vielfältigen Konstruktionen des Orients ist auch die nach den unterschiedlichen Vorstellungen von den Bewohnern des Orients, ←17 | 18→in der Forschung gemeinhin verstanden als die muslimischen heiden, gekoppelt.6 Auch diese Vorstellungen sind davon abhängig, in welchem Diskurs sie verankert sind. In den Auseinandersetzungen mit literarischen Darstellungen des Heidnischen als Antithese zum Christlichen konzentrierte sich die Mediävistik bislang vor allem auf zwei favorisierte Themen- bzw. Textfelder (hierzu und zum Folgenden bereits Seidl/Zimmermann 2011: 337–349). Beide werden sicherlich nicht zufällig dem Bereich der Chansons de geste zugerechnet, die, aufgeladen durch die Kreuzzugsthematik, den Glaubenskampf zwischen Christen und Heiden prägnant vor Augen führen: Unter dem Aspekt kategorialer Unversöhnbarkeit von religiösen Differenzen steht dabei zum einen die afrz. Chanson de Roland bzw. deren mhd. Adaptation, das Rolandslied des Pfaffen Konrad, im Blickpunkt (hierzu und zum Folgenden siehe insb. Seidl 2009: 46 f. sowie Strohschneider 2012: 395–401). Das hier entworfene Heidenbild, das fast ausnahmslos auf Muslime bzw. Sarazenen abzielt, ist deutlich als negatives Gegenbild zum Christen entworfen: Heiden sind hässlich, untreu, verräterisch, dumm, feige, intrigant, bar jeder Würde und überhaupt des Teufels; die Christen sind hingegen schön, tapfer und mit allen erdenklichen ritterlichen, ethischen und christlichen Tugenden ausgestattet (hierzu u. a. Koselleck 1989: 240). Das Gegensatzpaar von Christen und Heiden ist damit nicht zuletzt in der Vertextung durch einen auktorialen Erzähler Ausdruck einer maximalen begrifflichen Wertasymmetrie (vgl. Strohschneider 2012: 398). Dieses Erzählen vom Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Schwarz und Weiß, gilt in seiner grundsätzlichen Unvereinbarkeit von Christen und Heiden als ein maßgebliches Charakteristikum der Geschichten um den Tod Rolands und dessen Rache durch Karl den Großen.

Für das zweite favorisierte Themen- bzw. Textfeld ist mit dem Stichwort der sog. „religiösen Toleranz“ jene Forschungsdebatte angesprochen, die ihren Fokus vor allem auf Wolframs Willehalm-Fragment gerichtet hat. Der Willehalm ist sowohl durch formale und inhaltliche Korrespondenzen als auch durch die Kreuzzugsmotivik eng an das Rolandslied gebunden. Nach den ←18 | 19→Interpretationsangeboten des im gesamten Text präsenten Willehalm-Erzählers scheint das Verhältnis von Heiden und Christen zwar nach wie vor so gestaltet, dass Gott auf der Seite der Christen ist, während die heidnischen Götzen und Abgötter keinerlei Wirkung gegen die göttliche Allmacht haben (vgl. Bumke 82004: 336 f.). Auch das Heil ist klar verteilt: Den christlichen Streitern ist der Himmel gewiss, den Heiden allein die Hölle. Und dennoch sind Christen und Heiden hinsichtlich gesellschaftlicher Wert- und ethischer Moralvorstellungen nebeneinandergestellt; konkrete ritterliche Wertbegriffe oder der Minnegedanke sind von beiden Seiten in hohem Maß anerkannt. Durch diese Darstellungsweise scheint die vermeintlich konstitutive, binäre Opposition von „guten“ Christen und „bösen“ Heiden, die auch Reinhard Koselleck (1989: 240 f.) explizit anhand des Rolandsliedes als (wert-)asymmetrische aufzeigt, in Wolframs Willehalm insofern aufgeweicht, als kategoriale Gegenüberstellungen und Hervorhebungen von religiösen Differenzen im Verlauf der Dichtung zunehmend geringer werden, stellenweise sogar in die Idee der Anerkennung des Anderen münden. Diese Form der Anerkennung wurde in der germanistischen Forschung – gerade vor der Negativfolie des Rolandslieds – als Konzept einer sog. „religiösen Toleranz“ verstanden. Auf eine „tolerantere“ Sichtweise zielende Lesarten des Willehalm laufen freilich Gefahr, die religiöse Semantik der Dichtung zu überdehnen und „die Komplexität der literarischen Kommunikation im Blick auf theologische und ideologische Aussagen des Textes zu unterschneiden, indem etwa Figurenrede mit der Erzählerperspektive kurzgeschlossen wird oder indem Einzelaussagen zur Botschaft des Gesamttextes hypostasiert werden“ (Bulang/Kellner 2009: 126).

Die Tatsache, dass die Darstellungsweise des Rolandslieds ebenso wie die des Willehalm immer wieder als Ausgangspunkte eines Vergleichs zur Heidenthematik in anderen literarischen Texten dienen, spricht dafür, dass sich mit Rolandslied und Willehalm nicht die Normalfälle narrativer Auseinandersetzung mit dem Heidnischen zu erkennen geben, sondern dass die beiden Texte vielmehr zwei Extrempositionen markieren. Die mittelalterliche Literatur bietet zwischen diesen beiden Positionen und abseits der hier nur angerissenen Forschungsdebatten indes deutlich vielfältigere Darstellungsmöglichkeiten, verschiedene, durchaus auch widersprüchliche Haltungen und Meinungen nebeneinanderzustellen, ohne dass diese mit einer vorgegebenen ideologischen Vernunft in eine zusammenhängende Harmonie gebracht werden müssen. Nicht vergessen werden darf also, dass dort, wo strikt kategoriale wissenschaftliche Beschreibungsverfahren heuristisch Eindeutigkeit suggerieren, viele mittelalterliche Texte diese gerade konterkarieren.

Anstelle von zum Teil apodiktisch anmutenden Zuschreibungen erscheint es deshalb vielversprechender, semantische Verschiebungen dessen zu hinterfragen, was in den verschiedenen Texten und Quellen gemeinhin mit dem Begriff „Heiden“ resp. „Heidentum“ zum Ausdruck gebracht werden soll. ←19 | 20→Beispiele für diese Verschiebungen oder auch Nuancen im Umgang mit dem Heidnischen reichen etwa von der zum Teil radikalen Ablehnung des als heidnisch deklarierten antiken Wissens im theologischen Schrifttum des frühen Mittelalters, über die (durchaus auch auf sprachlicher Ebene manifestierte) vorwiegend gewaltsame Auseinandersetzung mit dem Islam zur Zeit der Kreuzzüge oder die panischen Abwehrbemühungen angesichts des Mongolensturms im 13. Jahrhundert bis hin zu dem, was in der älteren Forschung unter der Bildlichkeit des „edlen Heiden“ gemeinhin als eine zumindest differenziertere, in der jüngeren Forschung unter dem Stichwort der „Hybridität“ als eine vor allem literarisierte Sichtweise auf das Heidentum (so etwa bei Kellner 2009b) beschrieben wird. Allein die hier nur schlaglichtartig angeführte Reihung unterschiedlicher, teils sogar widersprüchlicher Facetten des „Heidnischen“ gibt klar zu erkennen, dass sich jeder Schematismus im Grunde von vornherein verbietet und dass die Begrifflichkeit vor allem vor dem Hintergrund der mit ihr verbundenen Sinnbildungsprozesse im Blick auf den oder die „Heiden“, das „Heidentum“ oder das „Heidnische“ jeweils neu ansetzen muss. Für die Frage, wie Heiden und Heidnisches in der Literatur des Mittelalters wahrgenommen und gedeutet werden, sollten kulturelle Semantiken und epistemologische Konstellationen im Mittelpunkt stehen. Deren Analyse ermöglicht Rückschlüsse auf das in der Literatur vermittelte Wissen über Heiden und Heidnisches, auf Wahrnehmungs- und Deutungsmuster sowohl des „Anderen“ als auch des „Eigenen“, auf Bewertungen, kognitive Muster und Stereotypen, aber eben auch auf Abweichungen der Darstellung.

3. Zum mhd. heiden-Begriff

Da die literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem mhd. heiden-Begriff – wie erwähnt – vorrangig auf eine Differenzierung von Christen und den muslimischen Andersgläubigen des „Kreuzzugorients“ abzielen, seien abschließend noch einige Bemerkungen zur Semantik des Begriffsfeldes in der mhd. Literatur angeführt. Für die kreuzzugs- und mirabilienorientalischen heiden scheint diese Auseinandersetzung auf den ersten Blick unproblematisch: Auf religiös-temporaler Abgrenzungsebene wird der „Heide“ als Gegner des Christen recht einhellig als mhd. heiden7 oder sogar konkret als ←20 | 21→Sarrazîn8 ausgewiesen, wenn er in den Texten nicht ohnehin durch spezifische Länder- oder Völkernamen (z. B. der Babilone, der von Zazamanc, der von Marroch, der Gaylotte etc.) der kreuzzugsorientalischen Welt zugeordnet ist. Ganz so einfach, wie es zunächst anmutet, ist es mit dem Heidenbegriff in den mhd. Texten dann aber doch nicht immer getan, und so mag es sicherlich erstaunen, wenn etwa in Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur-Fragment eine Schlacht zwischen Christen und Heiden stattfindet, bei der auf heidnischer Seite u. a. die Könige von Norwegen und Tenemarke als Repräsentanten der feindlichen Sarrazîne aufgezählt sind.9 In einem innerheidnischen Konflikt, in den Wolframs Parzival etwa seinen Helden Gahmuret geraten lässt, scheint die binäre Opposition von „guten“ Christen und „bösen“ Heiden sogar aufgelöst bzw. in eine (an den geläufigen wertasymmetrischen Zuschreibungen orientierte) Gegenüberstellung von „guten“ Heiden und „schlechten“ Heiden verschoben zu sein. Diese Verschiebung lässt sich indes nicht allein am heiden-Begriff ausmachen, der für beide Gruppen gleichermaßen verwendet wird, sondern allein an der semantischen Füllung seines wertenden Gehalts.

Ähnlich verhält es sich mit den narrativen Zuordnungen der orientalischen Wundervölker, die indes weniger durch ihre Religiosität denn vielmehr durch Hinweise auf ihre körperlichen Deformationen gezeichnet sind. Als Indizien ihrer frappanten „Andersheit“ scheinen diese Hinweise zur abgrenzenden Konturierung des „Eigenen“ offenbar zu genügen, denn es finden sich in den Erzählungen auffallend selten Anmerkungen oder gar Kommentare zu ihrem „Heidentum“.10

Fragt man schließlich vor dem Hintergrund des Koselleck’schen Konzepts asymmetrischer Gegenbegriffe, wer beispielsweise in Erzählungen, die auf vorchristliche Zeiten rekurrieren (z. B. die Antikenromane), als heiden apostrophiert wird, so zeigt sich die eigentliche Problematik des mhd. Begriffs noch deutlicher. Kosellecks Überlegungen zielen bekanntlich nicht nur auf den „Heiden“ als Gegenbegriff zum „Christen“ auf religiös-temporaler Abgrenzungsebene, sondern (insbesondere im Blick auf die vorchristliche Zeit) auch auf den „Barbaren“ als asymmetrischem Gegenbegriff zum „Griechen“/„Hellenen“ auf politisch-territorialer Abgrenzungsebene. Weil es im Mittelhochdeutschen bis ←21 | 22→zum 14. Jahrhundert keine adäquate Entsprechung für lat. barbarus gibt, fallen die im modernen Sprachgebrauch semantisch zu differenzierenden Begriffe „Barbar“ und „Heide“ in terminologischer, aber nicht zwangsläufig auch semantischer Doppelbesetzung zusammen:11 Mhd. heiden kann folglich gleichermaßen für lat. paganus, gentilis oder eben barbarus stehen. Entsprechend erscheint das mhd. Wort heiden (auch in den auf die zeitgenössische Gegenwart bezogenen Kommentaren und Exkursen der Antikenromane) nicht allein als asymmetrischer Gegenbegriff zum Christen, sondern es dient innerhalb der erzählten Welten vor allem als anachronistisches Äquivalent zum Barbaren-Begriff oder zumindest als Bezeichnung für den vorchristlichen Heiden. Auf begrifflich-sprachlicher Ebene hat man es insofern mit einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zu tun, als historisch verschiedene Erfahrungsräume (Antike/Christentum) im mhd. heiden-Begriff zusammenfließen.

Diese semantische Doppel- bzw. Mehrfachbelegung des mhd. Heiden-Begriffes kann in der narrativen Umsetzung zuweilen zu überraschenden Überblendungen führen. So kulminiert etwa im Alexanderroman Ulrichs von Etzenbach das feindliche Zusammentreffen eines Persers (barbarus) mit einem Makedonen (paganus/vorchristlicher Heide) in der paradoxen Gegenüberstellung von heiden und heiden.12 An anderer Stelle sind die persischen Feinde Alexanders sogar als Sarrazîne bezeichnet, ebenso anachronistisch werden Sarrazîne etwa in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg-Fragment einerseits als Verbündete der Trojaner genannt, andererseits tritt aber auch der pro-griechische König Protheselaus als hochgeborener Sarrazîn im Schlachtgeschehen auf.13 In der geistlichen Dichtung Die Erlösung ist schließlich sogar der neutestamentliche und gemeinhin den juden zugerechnete Tetrarch Herodes als der ungetrûwe Sarrazîn (V. 3650) entlarvt.

Die hier nur kursorisch aufgezeigte Spannbreite der mhd. heiden-Terminologie zeugt nicht allein von deren Instabilität und Unschärfe, sondern zugleich auch von der offenkundigen Skalierbarkeit ihres wertasymmetrischen Gehalts: Die Begriffskonnotationen sind vor der Folie der eingangs als „Extrempositionen“ markierten Texte wie des Rolandslieds oder des Willehalms ←22 | 23→zumindest deutlich vielfältiger und können in ihrer Verwendung gerade nicht immer eindeutig voneinander geschieden werden. Außerhalb von semantisch festen Kategorien verschmelzen sie vielmehr zu einer kaum überschaubaren Gemengelage. Aus den komplexen Bedeutungsüberlagerungen lassen sich manchmal allenfalls vage religiöse, territoriale, temporale, kulturelle u. a. Beschreibungsebenen dessen abstrahieren, was das „Heidnische“ jeweils ausmachen kann: Nach welchen Argumentationsstrukturen die jeweiligen Gegenpositionen konzipiert sind, kann nur im Einzelfall hinterfragt werden, und selbst dann können sich noch Widersprüche und Inkongruenzen zeigen, die ihre Grundlage in der funktionalen Beweglichkeit der Begriffssemantik haben. Die sich in ihrem semantischen Gehalt oft überblendenden Abgrenzungsebenen können, sie müssen aber folglich nicht zwingend eine wertmäßige Differenzierung zwischen Heiden und dem jeweils dazu in Opposition Gesetzten enthalten, die pejorativ das Böse und Verwerfliche auf der Seite des Heidnischen, das Gute und Nützliche zugunsten des Gegenüberliegenden (Christlichen, Griechischen, Vorbildlichen etc.) verbucht.

Details

Seiten
690
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783034345798
ISBN (ePUB)
9783034345804
ISBN (MOBI)
9783034345811
ISBN (Paperback)
9783034336611
DOI
10.3726/b19960
Open Access
CC-BY-NC-ND
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Februar)
Schlagworte
Vergleichende Literaturwissenschaft Bedeutung der Jiddistik Sprachidentitäten und transkulturelle Literatur im Zeitalter der Globalisierungsprozesse
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 690 S., 14 s/w Abb., 11 Tab.

Biographische Angaben

Laura Auteri (Band-Herausgeber:in) Natascia Barrale (Band-Herausgeber:in) Arianna Di Bella (Band-Herausgeber:in) Sabine Hoffmann (Band-Herausgeber:in)

Laura Auteri ist Ordentliche Professorin für deutsche Literatur an der Universität Palermo und war 2015-2021 Vorsitzende der Internationalen Vereinigung für Germanistik. Natascia Barrale ist Associate Professorin für deutsche Literatur an der Universität Palermo. Arianna Di Bella ist Associate Professorin für deutsche Literatur an der Universität Palermo. Sabine Hoffmann ist Ordentliche Professorin für deutsche Sprache und DaF-Didaktik an der Universität Palermo.

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Titel: Wege der Germanistik in transkultureller Perspektive
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