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Inseln als literarischer und kultureller Raum

Utopien, Dystopien, Narrative der Reise

von Georg Pichler (Band-Herausgeber:in) Christina Jurcic (Band-Herausgeber:in) Francisca Roca Arañó (Band-Herausgeber:in) María Luisa Siguan Boehmer (Band-Herausgeber:in)
©2023 Konferenzband 448 Seiten

Zusammenfassung

Der Band analysiert das Motiv der Insel in der deutschsprachigen Literatur und Kultur. Ausgehend von mittelalterlichen Texten spannt er über Reisebeschreibungen der Neuzeit und des 18. wie des 19. Jahrhunderts einen Bogen bis in die Gegenwart, wobei sein Schwerpunkt auf dem 20. und 21. Jahrhundert liegt. In allen untersuchten Texten und Filmen spielen Inseln eine wesentliche Rolle als literarischer und kultureller Raum. Dem Inselmotiv zugeordnete Themenkomplexe wie Utopie, Dystopie und Narrative der Reise werden an den unterschiedlichsten Werken und Filmen dargestellt. Dazu gesellen sich literarhistorische und kultursoziologische Studien über die Insel als Metapher, als Flucht oder als Projektionsfläche sozialer Wunschvorstellungen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • „Das schöne Stückwerk im Meer“ – Inseln als literarischer und kultureller Raum. Eine Einleitung
  • Gestrandet. Inselnarrative als Geschichten vom gescheiterten Leben (Hans Richard Brittnacher)
  • Inseln vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert
  • Die Insel Isenstein im Nibelungenlied: Brünhilts Königreich im hohen Norden als Versuchslabor einer matriarchalischen Herrschaft? (Miriam Strieder)
  • Metanarrative der insularen und arktischen Alterität in Dithmar Blefken, Island (1607) (María Rosario Martí Marco)
  • Deutsche Abenteurer, Missionare, Forscher und Künstler in Niederländisch-Ostindien (Jesús Pérez-García)
  • Teneriffa in den Augen von Wilhelmine von Gersdorff: Eine Insel zwischen Realität und Fiktion (Mireia Vives Martínez)
  • Die Ambivalenz der Inseln. Zwischen Heinse und Chamisso (Berta Raposo)
  • Die Insel als zivilisatorischer Ur-Ort im Werk von Adelbert von Chamisso (Ingrid Cáceres-Würsig)
  • Moritz Willkomms Erkundung der Balearen im Frühling 1873 (Ingrid García-Wistädt)
  • Ökoliterarische Annäherung an die Flussinseln des Nils im Werk von Alfred Edmund Brehm (Catalina Soto de Prado Otero)
  • (Halb-)Inseln bei Adalbert Stifter. Zu seinen Erzählungen „Der Hochwald“ und „Der Hagestolz“ (Stefan Lindinger)
  • Inseln im frühen 20. Jahrhundert
  • Die vielfältige Bedeutung von Inseln im Werk von Paula von Preradović (Johann Georg Lughofer)
  • Die Insel als ambivalente Heimat in Fedor Sommers Ein wunderliches Eiland (1914) (Christina Jurcic)
  • Die Insel als Raum von Entmenschlichung. Franz Kafkas „In der Strafkolonie“ aus postkolonialer Sicht (Juanjo Monsell Corts)
  • Der Mythos der Insel im expressionistischen Film Die Insel der Verschollenen (1921) (Paloma Ortiz-de-Urbina)
  • Inseln des Exils und national(sozialistisch)e Inseln
  • Strategien des Umgangs mit der Herausforderung Insel in (völkisch-)nationaler und nationalsozialistischer Literatur (Lukas Schramm)
  • Ibiza als Insel der Utopie: Walter Benjamin, Raoul Hausmann, Rafael Alberti (Marisa Siguan)
  • Das ‚Paradies‘ Santo Domingo: Geburtsort einer Dichterin (Brigitte E. Jirku)
  • Omegapunkt Haiti. Zum letzten Buch von Anna Seghers (M. Loreto Vilar)
  • Der Körper als Archipel: Poetik der Vertreibung und des Exils. „Die gelbe Schlange“ und „Schwarzwild“ von Gertrud Kolmar (Mireia Casanyes Dalmau)
  • Nachkriegsinseln
  • Die Katharsis der Insel. Das Herz des Hais von Ulrich Becher (Georg Pichler)
  • Die Insel im Werk von James Krüss: Die Glücklichen Inseln hinter dem Winde (Carmen Cuéllar Lázaro)
  • „Ein Schild, das Aussicht über die Insel verspricht – OVERLOOK“ – Max Frisch auf der Suche nach Erinnerungsorten seiner Lebensstationen in Montauk (Anna Jagłowska)
  • Inseln als Verdammnis, Abenteuer und Sehnsuchtsorte zu Zeiten der deutschen Trennung in Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus (Isabella Leibrandt)
  • Inseln der Gegenwartsliteratur
  • Die Insel als Zufluchtsort, als Ort der Versöhnung bzw. als Projektion des heutigen Menschen in Peter Stamms Werk (Jordi Jané-Lligé)
  • Total oder totalitär? Insel-Gemeinschaften in utopischer Gegenwartsliteratur (Linda Maeding)
  • Verseuchung und Verfall: Imperium von Christian Kracht und Die Nächte der Pest von Orhan Pamuk (Şebnem Sunar)
  • Ambivalente Perspektiven jenseits von Zivilisation und Zeit: Juli Zehs Psychothriller Nullzeit (Rosa Pérez Zancas)
  • Die Insel als Speicher der Erinnerungen in Inger-Maria Mahlkes Roman Archipel (Margarita Blanco Hölscher)
  • Bücher auf einer einsamen Insel. Zur Rolle der Literatur in Marc Buhls Das Paradies des August Engelhardt (Marc Arévalo Sánchez)
  • Inseln zwischen Ausnahmezustand und Normalbefindlichkeit – Annette Pehnt Insel 34 und Uwe Timm Vogelweide (Di Wu )
  • Haftaufenthalt als Inseldasein. Die bröckelnde Festung von Gabriele Stötzer (Anja Rothenburg)
  • Kein Idyll: Karen Köhlers Roman Miroloi (2019) (Sabine Zubarik)
  • Insularitätskonzepte als Diskurslieferanten. Lukas Maisels Roman Buch der geträumten Inseln (Nina Weigel)
  • Hiddensee – „Capri des Nordens“? Zu Lutz Seilers Roman Kruso (Rolf-Peter Janz)
  • Die Insel als Bereich des Übergangs (Rolf G. Renner)
  • „Warum druckt man die Meere nicht schwarz, wie die Augen der Toten, oder rot wie Blut?“ Kontaminierte Landschaft in Lutz Seilers Kruso (Ana Giménez Calpe)
  • Die Anziehungskraft des schönen Nichts. Judith Schalanskys Verzeichnis einiger Verluste und Atlas der entlegenen Inseln (Heidi Grünewald)
  • „Das Paradies mag eine Insel sein“. Insulare Inszenierungen und ihre Archivierung in Judith Schalanskys Atlas der abgelegenen Inseln (Kathrin Holzapfel)
  • Kindheitsort in der DDR: Die Insel Usedom in Judith Schalanskys Blau steht Dir nicht. Matrosenroman (Juliane Fehlig)
  • Namensregister

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„Das schöne Stückwerk im Meer“ – Inseln als literarischer und kultureller Raum. Eine Einleitung

Inseln, „das schöne Stückwerk im Meer, umschwommen von kalten Strömen“1, wie Ingeborg Bachmann sie nannte, sind seit der Antike ein Topos der europäischen Kulturgeschichte, und natürlich nicht nur von ihr allein. Bis heute werden Bilder der Insel als Paradies, als Orte des Begehrens, der Zuflucht, der Einsamkeit und Verlassenheit, aber auch als Orte von Angst und Terror immer neu reproduziert und aktualisiert. So etwa in den klassischen Modellen von Platons Beschreibungen der Insel Atlantis, der idealisierten Sehnsuchtsinsel Ithaka aus der Odyssee, der mythischen, den äußersten Norden der bekannten Welt bezeichnenden Insel Thule; später im imaginären Eiland Barataria des Don Quijote, in Thomas Morus’ namensprägender Insel Utopia ebenso wie in den populären Varianten der Schatzinsel nach dem Roman von Robert Louis Stevenson, in den Inseln von Daniel Defoes Robinson Crusoe und des Dr. Moreau von H. G. Wells, bis hin zum bedrohlichen Dinosaurierparadies von Steven Spielbergs Jurassic Park.

Gemein ist diesen Inseldarstellungen zumeist, dass sie einen Ort im Außen, an der Peripherie beschreiben, der sich durch seine Sonderstellung von der ‚Normalität des Festlandes‘ absetzt und zu einem eigenen Kosmos wird. Oft repräsentieren sie eine bipolare Welt des Innen und Außen, des Eigenen und Fremden, wie denn auch ihre eigentliche Existenz bipolar ist: So gibt es kontinentale Inseln, die einst von einem Kontinent abgetrennt wurden, zwar mit dem Kontinentalsockel verbunden bleiben, doch einen Bruch mit ihrer Vergangenheit erfahren haben. Ozeanische Inseln hingegen sind aufgrund von Vulkanausbrüchen oder anderen geologischen und biologischen Phänomenen aus dem Meeresboden emporgewachsen und ragen als vereinzelt oder in Gruppen stehende, zu Inseln gewordene Berge frei aus dem Meer. Bipolar ist auch ihre sozialkritische Funktion, denn auf abgelegene, unbekannte Inseln werden mit Vorliebe Entwürfe von utopischen oder dystopischen Sozietäten projiziert, um der eigenen Welt einen positiven oder negativen Spiegel vorzuhalten, beides in der Absicht, auf die eigene Gesellschaft Einfluss zu nehmen.

←11 | 12→Neben ihrer Funktion der Andersheit ist den Inseln, vor allem den verlassenen, einsamen Inseln, aber auch das Moment des Unbekannten, des Neuen, des Entdeckens eingeschrieben, und dies bis hin in unsere weltweit vernetzte Gegenwart, in der angeblich alles bekannt, alles zugänglich, alles anklickbar ist – mehrere Beispiele in diesem Band belegen dies. Insofern sind Inseln der Ziel- oder Endpunkt von Narrativen der Reise, die erzählt werden wollen, die oft von Geheimnissen, von Unvorstellbarem, von Phantastischem, von Unheimlichem und von Initiation handeln. Eine Initiation, die Gilles Deleuze etwas mystisch mit der „Idee eines zweiten Ursprungs“2 bezeichnet, die „der einsamen Insel ihren vollen Sinn“ verleihe. Denn nach dem ersten ursprünglichen Schöpfungsakt stelle l’île déserte3 eine Neuschöpfung dar, da sie, „in einer heiligen Erde inmitten des Ozeans konzentriert“, vielen Mythen zufolge der Ort sei, an dem man ein „kosmisches Ei“, also eine Neugeburt, finde. Zugleich würde dieser Ort meist von „weibliche[n]‌ Gemeinschaften“ gebildet, seien es Kirke, Kalypso oder andere. Insofern ist die einsame Insel „die Materie dieses Unvordenklichen oder Tieferen“ – und vielleicht in dieser Mystik auch der Grund, warum man manche Inseln „niemals finden“4 kann, wie es Umberto Eco an zahlreichen historischen Beispielen etwas konkreter ausführt.

Literarisch kann man die Insel als existentielle Metapher begreifen und sie entweder als einen zwar einsamen und abgelegenen, doch in ein soziales Netz eingebundenen Punkt begreifen, wie es John Donne in dem vielzitierten Gedichtanfang seiner „Meditation XVII“ tut: „No man is an island entire of itself; every man / is a piece of the continent, a part of the main“5. Oder man kann die Ausgesetztheit eines unfreiwilligen Inseldaseins als Bild für das Schreiben beschwören, wie Franz Kafka in einem Brief an Max Brod: „Dieses ganze Schreiben ist nichts als die Fahne des Robinson auf dem höchsten Punkt ←12 | 13→der Insel.“6 Die Insel kann für vieles stehen, sie bietet Raum genug, um sich mit Inhalt füllen zu lassen.

Auch in der deutschsprachigen Literatur und Kultur hat die Insel auf vielfältige Weise Platz gefunden, etwa in Goethes Iphigenie auf Tauris, als Insel Felsenburg von Johann Gottfried Schnabel oder als Zauberinsel von Nestroys Barometermacher. Im 20. Jahrhundert kommen Inseln als eine utopische Projektion in Alfred Anderschs Sansibar oder der letzte Grund und als Satire in Arno Schmidts Gelehrtenrepublik vor, in vielen Texten sind Inseln aber auch ein realer historischer Hintergrund für zeitgenössische Romanhandlungen, seien es die Inseln in der Nord- und Ostsee, in der Adria oder in Griechenland, sei es das Exil auf den Balearen oder der Mythos Capri. Im 21. Jahrhundert wird das Motiv der Insel oft in Form von (post)historisch unterlegten Romanen neu aufgearbeitet, wie es in Christian Krachts Imperium und in Raul Schrotts Tristan da Cunha oder Die Hälfte der Erde der Fall ist. Viele dieser Werke sind bereits in anderen Untersuchungen erforscht worden7, einige von ihnen werden es auch im vorliegenden Band, andere werden hier erstmals aus diesem Blickwinkel behandelt.

In seinem Mittelpunkt steht der Topos der Insel in der deutschsprachigen Literatur und Kultur ebenso wie in vergleichenden Ansätzen mit anderen Literaturen, weniger als Metapher denn als konkreter Ort. Chronologisch gegliedert, reicht das Spektrum der analysierten Texte vom Nibelungenlied bis hin in die unmittelbare Gegenwart, umfasst also knapp neun Jahrhunderte.

Nach einer Überblicksdarstellung, die die Inselproblematik durch mehrere Jahrhunderte hindurch verfolgt, widmet sich der erste Abschnitt frühen Texten. Ausgehend vom bereits erwähnten Nibelungenlied widmet er sich neuzeitlichen Reisebeschreibungen von Island und Niederländisch-Ostindien, ←13 | 14→Reiseberichten von spanischen Inseln aus dem 18. und 19. Jahrhundert, einer Katalogisierung von Flussinseln des Nils und Inseldarstellungen bekannter deutscher oder österreichischer Autoren aus dem 19. Jahrhundert.

Es folgen Untersuchungen zu Texten aus dem frühen 20. Jahrhundert, die konkrete Inseldarstellungen im Mittelmeer und in der Ostsee, aber auch fantastische Inseln bei Kafka oder im frühen expressionistischen Film analysieren.

Unterschiedliche Inseldarstellungen und -auffassungen prallen im nächsten Kapitel aufeinander. Die Idee der Insel in der (völkisch-)nationalen und nationalsozialistischen Literatur unterscheidet sich grundlegend von den Inseln, die das deutschsprachige antifaschistische Exil (und nicht nur dieses) auf Ibiza, in der Karibik oder auf Haiti vorfand.

Inseln in einer Nachkriegszeit, in der die touristische Ausbeutung noch nicht so extrem war wie heute, gilt der folgende Abschnitt, der Texte präsentiert, die auf den Liparischen Inseln ebenso angesiedelt sind wie auf den Kanaren, in denen eine Halbinsel zum Ort der autobiografischen Erinnerung und ein Gefängnis zum Fluchtpunkt aus der DDR wird.

Den weitaus umfangreichsten Abschnitt bilden Analysen zu Konstruktionen von Inseln in der Gegenwartsliteratur. Schwerpunkte haben sich um die Romane von Lutz Seiler und Judith Schalansky herauskristallisiert, es gibt aber auch Beiträge zur Gestaltung von Inseln in Texten von Peter Stamm, Julie Zeh, Inger-Maria Mahlke, Christian Kracht, Orhan Pamuk, Marc Buhl, Annette Pehnt, Uwe Timm, Gabriele Stötzer, Karen Köhler und Lukas Maisel. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit werden hier somit wichtige deutschsprachige Texte und Filme zum Inseldasein der letzten beiden Jahrzehnte im Kontext der internationalen Forschung zum Themenkomplex Insel analysiert.

Stellte Plinius der Ältere in seiner Naturgeschichte in Bezug auf tatsächlich schwimmende, sich deplatzierende Inseln fest, „quaedam insulae semper fluctuantur – manche Inseln schwimmen, fluktuieren immer“8, so kann man diesen Gedanken dahingehend weiterführen, dass die Idee der Insel, die Metapher der Insel selbst über die Jahrhunderte fluktuierte, von Kultur zu Kultur verschieden war und es bis heute ist, da sie immer neue Möglichkeiten bietet, dieses Phänomen in literarischer, künstlerischer oder filmischer Weise zu reinterpretieren. Dieser Band möchte ein Beitrag dazu sein.

* * *

←14 | 15→Die Herausgeberinnen und Herausgeber danken allen Institutionen, die das Zustandekommen dieses Bandes durch ihre Unterstützung möglich gemacht haben. Für ihre Mitarbeit bei der Vorbereitung der Drucklegung danken wir Marc Arévalo Sánchez und Jianna Rose Walker.

In den Literaturangaben wurden alle Online-Quellen Ende September 2022 auf ihre Richtigkeit überprüft.

Georg Pichler, Christina Jurcic, Francisca Roca, Marisa Siguan


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Hans Richard Brittnacher
Freie Universität Berlin

Gestrandet. Inselnarrative als Geschichten vom gescheiterten Leben

Abstract: This article uses examples from literary and cultural history in a discussion of a pessimistic variant of the island narrative;rescue and survival, difficult conditions of a life spent in solitude and the inevitable failure of life plans.

Keywords: Robinsonade, Daniel Defoe, Adelbert von Chamisso, Christian Kracht, Lost

Wer Inseln bewohnt, lebt dort oft nicht aus freier Entscheidung, sondern erzwungen, als Gefangener oder als Überlebender eines Schiffbruchs. Gewiss kennt auch die Literaturgeschichte ein glückliches Inselleben in friedlicher Übereinstimmung mit der Natur. Aber die überwiegende Mehrheit von Inseldarstellungen entwirft ein eher deplorables Bild des buchstäblich ‚isolierten‘ Lebens. Aus diesen eher dunklen Impressionen zum Inselleben möchte ich im Folgenden vier Stationen aus 300 Jahren Kultur- und Literaturgeschichte näher betrachten: Daniel Defoes Robinson Crusoe von 1719, Adelbert Chamissos Terzinen Salas y Gomez von 1830 und Christian Krachts Roman Imperium von 2012. Abschließend soll ein Blick auf die Fernsehserie Lost aus den Jahren 2004 bis 2010 die Tauglichkeit des Inselnarrativs – und der von ihm behandelten existenziellen Tristesse – auch im populären Medium des Serienfernsehens explizieren.

I. Robinson: Die Depravation des gestrandeten Helden

Am Beginn der literarhistorischen Expedition in die Inselwelt stehen die sogenannten Robinsonaden, die den Gattungsnamen Daniel Defoes berühmtem, 1719 erschienenem Roman eines Schiffbrüchigen verdanken, der sich auf eine Insel retten konnte, wo er 28 Jahre lang, überwiegend in Einsamkeit, lebte.1 Dem Roman liegt die Lebensgeschichte Alexander Selkirks zugrunde, der als Schiffbrüchiger viereinhalb Jahre auf einer Pazifikinsel zubrachte. Dass Defoe ←17 | 18→diese Zeit versechsfachte, dass er die Insel nicht zum locus amoenus verklärte,2 sondern das Leben des Gestrandeten auf der Insel halbwegs realistisch schilderte, zeigt, wie sehr es ihm in diesem Roman in Abkehr von der barocken Tradition phantastisch-romanzenhaften Erzählens, um die Provokation eines Lebens in totaler Isolation ging.

Der Held des Romans, der junge Robinson, hat Flausen im Kopf, einen unwiderstehlichen Drang nach Abenteuern, den ihm sein Vater, ein erfolgreicher Kaufmann, austreiben will. Aber vergeblich sucht er den Sohn vom „Glück und Wohlergehen des Mittelstandes“ (R 37) zu überzeugen.3 Im Alter von 19 Jahren verlässt der unbelehrbare Sohn heimlich das Vaterhaus und fährt zur See. Er will fremde Länder und neue Absatzmärkte kennenlernen, will Handel mit Eingeborenen treiben und für sich und seine Nachbarn billige ‚Negersklaven‘4 beschaffen, bis das Schicksal seine Höhenflüge dämpft: Nach Kämpfen mit Piraten, Gefangenschaft, Sklaverei und Befreiung kentert sein Schiff während eines Sturms. Er allein überlebt, kann aber aus dem angetriebenen Schiffswrack retten, was ihm fürs Überleben unentbehrlich ist: Kleidung, Schusswaffen, Werkzeuge. Er verstaut alles in einer Höhle und beginnt ein Tagebuch: incipit vita nuova.

Wie bei Dante wird das Unglück zum Anlass der Umkehr. Deshalb liest sich das Tagebuch Robinsons, als hätte der alte Crusoe es geschrieben: Es erinnert mitunter eher an das Kassenbuch eines Lagerverwalters als an die Reiseerzählung eines Abenteurers. Berühmt geworden sind die Listen, die Robinson immer wieder anlegt, auf denen er sich über die Misslichkeiten seiner Lage hinwegtröstet. Seine Bereitschaft, seine pro- und contra-Kalkulationen auch ontologisch und zuletzt sogar metaphysisch im Sinne einer seelischen Buchführung zu konvertieren, verweist auf die Gewinn- und Verlustbuchungsführung, die Max Weber für das ausgeprägte technische Merkmal des modernen Kapitalismus gehalten hat:5 „Schlimm: Ich bin auf eine schrecklich einsame Insel ←18 | 19→verschlagen, ohne Hoffnung auf Erlösung.“ Dem steht in der anderen Spalte gegenüber: „Aber ich bin am Leben. Ich bin nicht wie alle meine Gefährten ertrunken.“ (R 85) An die Stelle der Trauer um den Verlust der Gefährten tritt der Überlebensstolz. Die Hypostasierung des Nützlichkeitsmotivs hat freilich die Entwertung anderer Denk- und Handlungsweisen zur Folge.6 Immer wieder findet der Held Gründe, seine Sorgen zu bagatellisieren, sich auf seine Tatkraft zu besinnen und sich in eine religiös fundierte Bescheidenheit einzuüben. Buchhalterische Gründlichkeit zeigen auch Robinsons Listen über die Zahl seiner erlegten Feinde:

1 getötet durch unsere erste Salve vom Baum aus

2 beim nächsten Schuß getötet

2 getötet durch Freitag im Boot

2 getötet durch ditto, aus der Zahl derer, die zuerst nur verwundet waren

1 getötet durch ditto, im Wald

3 getötet vom Spanier

4 da und dort verwundet hingestürzt und an ihren Wunden gestorben oder von Freitag auf der Flucht niedergemacht;

4 im Boot entkommen, einer davon verwundet, wenn nicht tot;

21 alles in allem. (R 217)

Der Bilanz „21 alles in allem“ ist die Befriedigung des Kaufmanns anzumerken, der seinen Besitz mit tödlicher Effizienz verteidigt hat.

Der Überlebenswille Robinsons wird in den folgenden Jahren und Jahrzehnten oft geprüft, aber nicht gebrochen. Der Abenteurer ist zum Pragmatiker geworden: Ihn interessiert nicht – das unterscheidet ihn von den Schwärmern in den späteren Tahiti-Romanzen – die Schönheit der Natur, sondern ihre Nützlichkeit. Robinson legt auf seiner Insel einen Gemüsegarten an, züchtet Ziegen, sammelt Honig, sät und erntet und backt Brot. All das hält er in seinem Hauptbuch fest – hier findet bald auch sein Gefährte Berücksichtigung, nämlich der vor Kannibalen gerettete Wilde, dem er den Fuß in den Nacken setzt und mit pfleglicher Behandlung zu einem guten Diener und Christen erzieht: „sein Name sollte Freitag sein, weil ich ihm an diesem Tag das Leben gerettet hatte. Ich nannte ihn so zur Erinnerung an diesen Tag; ebenso lehrte ich ihn, das Wort ‚Herr‘ zu sagen, und bedeutete ihm, das sei mein Name.“ (R 193).

Details

Seiten
448
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631882122
ISBN (ePUB)
9783631882139
ISBN (Hardcover)
9783631882115
DOI
10.3726/b20496
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (März)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 448 S., 5 S/W-Abb.

Biographische Angaben

Georg Pichler (Band-Herausgeber:in) Christina Jurcic (Band-Herausgeber:in) Francisca Roca Arañó (Band-Herausgeber:in) María Luisa Siguan Boehmer (Band-Herausgeber:in)

Georg Pichler ist Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der Universidad de Alcalá. Christina Jurcic ist Dozentin für Deutsche Sprache und Literatur sowie Gender Studies an der Universidad de Oviedo. Francisca Roca Arañó ist Professorin für Deutsche Sprache und Literatur an der Universität der Balearen. Marisa Siguan ist Professorin für Deutschsprachige Literatur der Moderne an der Universität Barcelona. Sie ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

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Titel: Inseln als literarischer und kultureller Raum
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