Lade Inhalt...

Das Corporate-Literature-Modell: Wie viel Literatur steckt in der Unternehmenskommunikation?

Zum Ästhetisch-Literarischen in der modernen Unternehmenskommunikation

von Barbara Jesch (Autor:in)
©2022 Dissertation 484 Seiten

Zusammenfassung

Der normative Literaturbegriff negiert die Existenz narratologischer Strukturen außerhalb der Schönen Literatur und exkludiert damit die Zugehörigkeit der Alltagsliteratur zum literaturwissenschaftlichen Spektrum. Dabei kann ein strukturalistischer Literaturbegriff ein Forschungsfeld öffnen, das in der unbeachteten Schnittmenge zwischen Literaturwissenschaft und Betriebswirtschaft vegetiert: die Unternehmenskommunikation. Das vorliegende Buch schließt diese Lücke, indem es nach der Literarizität in der Unternehmenskommunikation sowie nach ihren typischen Dispositionen fragt und die Zugehörigkeit zur Epik unter dem Genre «Corporate Literature» einfordert. Durch die Entwicklung eines interdisziplinären Analysemodells aus narrativen Elementen, biologischen Mechanismen und Grundlagen der Corporate Communication kann Literarizität in drei Praxisbeispielen nachgewiesen werden.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • 1. Einleitung in die literarische Ästhetik und Methodik in der Unternehmenskommunikation
  • 1.1. Zur Relevanz der Literarizität in der Unternehmenskommunikation
  • 1.1.1. Zur Relevanz literarischer Erzählformen in der Unternehmenskommunikation: ökonomische Effekte guter Geschichten
  • 1.1.2. Relevanz der Kanonisierung unternehmenskommunikatorischer Arbeiten für die Literaturwissenschaft
  • 1.2. Das Corporate-Literature-Modell: Forschungsfragen, Vorgehensweise und Methode
  • 1.2.1. Forschungsfragen und aktueller Forschungsstand
  • 1.2.2. Vorgehensweise und Methode dieser Arbeit
  • 2. Die grundlegende Ebene des Corporate-Literature-Modells: das narratologische Raster
  • 2.1. Storytelling als Annäherung eines Modells der Corporate Literature
  • 2.2. Die Zweiteilung der unternehmerischen Erzählung: literaturwissenschaftliche Grundlage
  • 2.2.1. Was wird erzählt? – Der Inhalt der erzählten Welt in einem Werk der Unternehmenskommunikation
  • 2.2.1.1. Oberflächenstrukturale Handlungselemente der unternehmerischen Erzählung
  • 2.2.1.2. Tiefenstrukturale Handlungsausprägungen unternehmerischer Erzählung
  • 2.2.1.3. Von Helden und Schurken: Protagonisten, Antagonisten und andere handelnde Charaktere
  • 2.2.1.4. Räumliche Gegebenheiten
  • 2.2.2. Wie wird erzählt? – Bedeutungshaftigkeit und Semiotik im Diskurs der unternehmerischen Erzählung
  • 2.2.2.1. Die vermittelnde bzw. erzählende Instanz
  • 2.2.2.2. Die Unzuverlässigkeit des Erzählens
  • 2.2.2.3. Zeitliche Gegebenheiten
  • 2.3. Warum wird erzählt? – Zur Auswirkung und Steuerung von Leseraffekten
  • 2.4. Die Analysemethode für das narratologische Raster der Corporate Literature
  • 2.5. Zusammenfassung
  • 3. Die zweite Ebene des Corporate-Literature-Modells: das biologisch-psychologische Raster
  • 3.1. Erfolgsfaktor Aufmerksamkeit
  • 3.2. Aufmerksamkeit gewinnen und aufrechterhalten – Kognitive Mechanismen als Grundvoraussetzung für Literarizität
  • 3.3. Die Analysemethode für das biologisch-psychologische Raster
  • 3.4. Zusammenfassung
  • 4. Die dritte Ebene des Corporate-Literature-Modells: das Corporate-Communication-Raster
  • 4.1. Die unternehmerischen Botschaften und ihre Emotionalisierung
  • 4.2. Das Gerüst der unternehmerischen Botschaft: Corporate Communication
  • 4.2.1. Was ist Unternehmenskommunikation? Eine Definition
  • 4.2.2. Integrierte Kommunikation als Konzept ganzheitlicher Rezipientenansprache
  • 4.2.3. Corporate Publishing und seine Erscheinungsformen als Trägermedium der Corporate Communication
  • 4.2.3.1. Corporate Publishing in gedruckter Form
  • 4.2.3.2. Audiovisuelles Corporate Publishing
  • 4.2.3.3. Online- und Social-Media-Corporate-Publishing
  • 4.3. Corporate Reputation und Image als Manifestation der Wahrnehmung
  • 4.4. Der Rezipient als Endpunkt der Corporate Literature
  • 4.5. Die Analysemethode für das Corporate-Communication-Raster
  • 4.6. Zusammenfassung
  • 5. Das Corporate-Literature-Modell in der Praxis: Markierende Aspekte literarischen Erzählens in der Unternehmenskommunikation
  • 5.1. Literarizität durch die Heldenreise als Konstituente unternehmerischer Identität und Herkunft
  • 5.1.1. Das narratologische Raster
  • 5.1.1.1. Die Geschichte bzw. Histoire des Werkes „Lebenserinnerung – Autobiografie Werner von Siemens“
  • 5.1.1.2. Der Diskurs des Werkes „Lebenserinnerung – Autobiografie Werner von Siemens“
  • 5.1.1.3. Leseraffekte im Werk „Lebenserinnerungen“
  • 5.1.2. Das biologisch-psychologische Raster
  • 5.1.3. Das Corporate-Communication-Raster
  • 5.1.4. Zusammenfassung
  • 5.2. Literarizität durch die Organisation von Botschaften als Rahmen- und Binnenerzählungen in Corporate-Campaign-Videos
  • 5.2.1. Narratologisches Raster
  • 5.2.1.1. Die Geschichte bzw. Histoire des Werkes „Grow Up“
  • 5.2.1.2. Der Diskurs des Werkes „Grow Up“
  • 5.2.1.3. Leseraffekte des Werkes „Grow Up“
  • 5.2.2. Biologisch-psychologisches Raster
  • 5.2.3. Corporate-Communication-Raster
  • 5.2.4. Zusammenfassung
  • 5.3. Literarizität durch Rekurs: Mythos und archetypische Handlungsschemata; zum Fantastischen als Träger von Botschaften
  • 5.3.1. Narratologisches Raster
  • 5.3.1.1. Die Geschichte bzw. Histoire des Werkes „Die Geschichte von Eatkarus“
  • 5.3.1.2. Der Diskurs des Werkes „Die Geschichte von Eatkarus“
  • 5.3.1.3. Leseraffekte des Werkes „Die Geschichte von Eatkarus“
  • 5.3.2. Biologisch-psychologisches Raster im Werk „Die Geschichte von Eatkarus“
  • 5.3.3. Corporate-Communication-Raster im Werk „Die Geschichte von Eatkarus“
  • 5.3.4. Zusammenfassung
  • 5.4. Zusammenfassung des Kapitels
  • 6. Ausblick und Zusammenfassung: Auswirkungen des Corporate-Literature-Modells auf Unternehmenskommunikation und Literaturwissenschaft 383
  • 6.1. Die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Unternehmenskommunikation und die Corporate Literature
  • 6.2. Die Auswirkungen der Corporate Literature auf produktive Aspekte der Unternehmenskommunikation
  • 6.3. Die Auswirkungen der Corporate Literature auf gattungspoetische Fragen der Literaturwissenschaft
  • 6.4. Zusammenfassung und Fazit der Arbeit
  • Anhang
  • Anhang A: Erzählkategorien nach Swantje Ehlers
  • Anhang B: Details der Handlungsanalyse des Werkes „Lebenserinnerungen – Autobiografie Werner von Siemens“
  • Anhang C: Filmprotokoll des Gesamtwerkes „Grow Up“
  • Anhang D: Filmprotokoll des Werkes „Die Geschichte von Eatkarus“
  • Abbildungsverzeichnis
  • Tabellenverzeichnis
  • Glossar
  • Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

←14 | 15→

Abkürzungsverzeichnis

Anm. d. Verf. (A.d.V.)

Anmerkung des Verfassers/der Verfasserin

B2B-Markt

Business-to-Business-Markt

Absatzmarkt, der als Vertragsparteien zwei Unternehmen vorsieht

B2C-Markt

Business-to-Customer-Markt

Absatzmarkt, der als Vertragsparteien ein Unternehmen als Verkäufer und einen Endkunden als Käufer vorsieht

o.J.

ohne Jahr

o.O.

ohne Ort

o.V.

Autor unbekannt

PoV

Point of View

←16 | 17→

1. Einleitung in die literarische Ästhetik und Methodik in der Unternehmenskommunikation

„It is time to break free from the traditional understanding of narrative and the limited forms of analysis that it has produced.“1

Rick Altman

Abstract: Corporate communication is at the intersection of literary studies and business administration: the economic necessity of good stories is opposed by a normative concept of literature that excludes everyday literature from the scientific canon. This chapter introduces the topic by asking: What does literacy mean in corporate communications? How and in what dispositions does it express itself?

Unternehmenskommunikation befindet sich in der Schnittmenge zwischen Literaturwissenschaft und Betriebswirtschaft: der wirtschaftlichen Notwendigkeit guter Geschichten steht ein normativer Literaturbegriff entgegen, der die Zugehörigkeit von Alltagsliteratur zum narratologischen Kanon negiert.

Keywords: narratology, literary studies, business administration, corporate communication, corporate literature, storytelling, interdisciplinary

„Das Erzählen ist überall.“2

Wenngleich dieser Ausspruch dahin gesagt oder trivial wirkt, impliziert er die Bedeutung des Narrativen, denn wie Silke Lahn und Jan Christoph Meister bereits ausführen, gibt es nichts, worüber man nicht erzählen kann.3 Das menschliche Leben, die Gesellschaften, in denen es organisiert ist, die Grundfeste, auf denen es fußt: Sie alle sind durch Erzählung bedingt, werden durch diese zusammengehalten, erweitert und entwickelt. Das Erzählen, das alles durchdringt, wie es Mentzer und Sonnenschein anregen, ist also nicht so trivial, ←17 | 18→wie es zunächst erscheinen mag. In der Kultur- und Sozialwissenschaft wird dieses Phänomen unter dem Begriff ‚Narrative turn‘4 geführt, der den Umstand der Allgegenwärtigkeit und zentralen Bedeutung des Erzählens für die gesamte Kultur bezeichnet5:„Nicht nur die Dichter, sondern (fast) alle erzählen, sei es im Alltag, sei es in der Wissenschaft. Unfallberichte, Wetterprognosen, Wegbeschreibungen […] besitzen in vielen Fällen eine mehr oder weniger ausgeprägte narrative Struktur: Sie präsentieren Fakten und Annahmen nicht nur punktuell und isoliert, sondern als Bestandteile eines dynamischen Prozesses, in dessen Verlauf sich etwas ›ereignet‹.“6

Für den Schwerpunkt dieser Arbeit ist es jedoch nötig, den Allgemeinplatz ‚überall‘ einzugrenzen. Erzählen wird dort gesucht und analysiert, wo es zunächst nicht vermutet wird, im Sinne des ‚Narrative turn‘ jedoch zu finden sein muss: in der Wirtschaft. Denn wo man Zahlen erwartet, die von ihrer Natur aus nicht narrativ sind, eröffnet sich auch für das Erzählen eine neue Spielwiese: die Unternehmenskommunikation. Diese Arbeit sucht nicht nur das ökonomische Erzählen zu finden, sondern auch die Literarizität in ihr. Damit einher geht auch die Forderung einer Zuordnung der Werke der Unternehmenskommunikation zum literarischen Korpus, die es im Verlauf dieser Arbeit zu untermauern gilt. Die wissenschaftliche Aufarbeitung dieses Themas wird einen wertvollen Beitrag zum literarischen Diskurs leisten und eine, in der aktuellen Forschungsliteratur, vorhandene Lücke schließen.

1.1. Zur Relevanz der Literarizität in der Unternehmenskommunikation

Die Frage nach der Literarizität in der Unternehmenskommunikation betrifft zwei wissenschaftliche Disziplinen, die, bezüglich ihrer fachlichen Ausrichtung, ←18 | 19→nicht nah beieinanderliegen: die Literaturwissenschaft und die Betriebswirtschaft. Während die Literaturwissenschaft unter anderem das Ästhetische in der Erzählung und seine konstituierenden Elemente untersucht, sind Fragen zur Struktur eines Unternehmens und seiner Teilelemente, wie es die Unternehmenskommunikation ist, in der Wirtschaftswissenschaft beheimatet. Daher beginnt diese Arbeit mit den Ausführungen zur Relevanz eines Themas, das nur auf den ersten Blick in der Peripherie zwischen zwei Forschungsfeldern einzuordnen ist, denn auch wenn scheinbar keine offensichtliche Verbindung zwischen diesen beiden wissenschaftlichen Disziplinen besteht, gibt es doch eine Schnittmenge, in der diese Arbeit angesiedelt ist. Diese Schnittmenge ist begründet im wirtschaftlichen Streben und in der sich daraus ergebenden Notwendigkeit der Prägnanz unternehmerischer Botschaften und der aufmerksamkeitssteigernden Performanz narrativer Gestaltung, die die Literaturwissenschaft dazu beitragen kann.

Der erste Anhaltspunkt für die Relevanz des Themas ist also seine Bedeutung für Praxis und Wirtschaft, wie in Kapitel 1.1.1 genauer ausgeführt wird. Doch auch unter erkenntnistheoretischen Aspekten in der Literaturwissenschaft erschließt die Frage nach der Literarizität in der Unternehmenskommunikation neue Perspektiven und öffnet ein Forschungsfeld, das bisher nur wenig im Fokus der literaturwissenschaftlichen Forschung stand (siehe hierzu Kapitel 1.1.2).

1.1.1. Zur Relevanz literarischer Erzählformen in der Unternehmenskommunikation: ökonomische Effekte guter Geschichten

Es ist ein häufig gezogener Trugschluss, dass es Zahlen und Bilanzen seien, die in der Wirtschaft entscheidend sind. Zunächst einmal gilt, dass „jedes Unternehmen […] ein zielgerichtetes soziales System mit wirtschaftlicher Zwecksetzung“7 ist. Damit einher geht die Verpflichtung zur Einhaltung systemkonstituierender Regeln, beispielsweise der Zweck, Leistung zu erbringen, die Festlegung auf ein Zielsystem, in diesem Fall das Ergebnis der Geschäftstätigkeit, die ←19 | 20→Integration verschiedener Systemteile zur Beeinflussung und Zielerreichung sowie die Interaktion des Systems mit der Umwelt.8 Ein noch detaillierterer Einblick in den Gegenstand und Zweck eines Unternehmens, wie ihn die Systemtheorie allgemein beziffert, ergibt sich, wenn man in die Betriebswirtschaft blickt, denn hier findet sich der Grundzweck, der ureigenste Antrieb einer jeden Unternehmung: die Gewinnerzielung.9 Es ergibt sich aus der Natur der Sache heraus, dass es nur möglich ist, Gewinn zu erzielen, wenn auf der anderen Seite auch jemand steht, der bereit ist, eine Gegenleistung, meist in Form monetärer Mittel, zu erbringen. Es bedarf also Kunden, damit das System funktioniert. In den meisten Industriestaaten sind diese potenziellen Kunden jedoch weniger ausgeprägt vorhanden, als die Angebote auf der anderen Seite. Es herrscht ein Käufermarkt, auf dem das Angebot größer ist als die Nachfrage.10

Aus dieser Situation heraus entsteht ein Engpass, an dessen Spitze der Kunde und seine Kaufentscheidung stehen, denn die Existenz eines Unternehmens hängt davon ab, ob es Abnehmer für seine Produkte und Dienstleistungen findet.11 Es ist daher nicht verwunderlich, dass Unternehmen bemüht sind, diese Kaufentscheidung zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Um auf dieses Wahlverhalten aktiv Einfluss nehmen zu können, bedarf es eines vorgelagerten Schrittes: Es bedarf zunächst einmal der Aufmerksamkeit des Rezipienten. Dies ist der Anknüpfungspunkt zur Unternehmenskommunikation, denn um den Wettstreit für sich zu entscheiden, kommt für Unternehmen als Vehikel zur Beeinflussung menschlichen Wahlverhaltens neben Marketing, Verkauf und Werbung12 auch Unternehmenskommunikation infrage. Schließlich ist es unter anderem die Aufgabe der Unternehmenskommunikation, Aufmerksamkeit zu erregen, zu sichern und zu halten. Sie dient als Organ, das in der Lage ist, mit der Umwelt des Unternehmens durch Kommunikation zu interagieren (um in der Terminologie der Systemtheorie zu bleiben) und so zur Zielerreichung ←20 | 21→des Systems ‚Unternehmen‘ beizutragen. In der Folge avanciert die Unternehmenskommunikation zum strategischen Erfolgsfaktor.13 Dabei entpuppt sich jedoch das in der Praxis häufig anzutreffende Gebot der sachlichen, nüchternen Information als keineswegs probates Mittel, um Aufmerksamkeit und Relevanz zu erzeugen, wie auch Thomas Köhler, ehemaliger Leiter der Kommunikation Siemens Global Business Services, bestätigt:

„Generische Aussagen, die nicht greifbar sind, werden […] beim Publikum nicht ankommen und sogar einen negativen Effekt bewirken.“14

Wie Köhler sprechen sich auch Zerfaß und Piewinger gegen diese Sachbezogenheit generischer Unternehmensaussagen aus. Ihrer Meinung nach wird „der Wettbewerb um Kunden, Mitarbeiter und gesellschaftliche Akzeptanz […] nicht allein auf der Sachebene, sondern auch […] auf der kommunikativen Ebene ausgetragen.“15

Diese kommunikative Ebene ist konstituierend für einen der wesentlichsten Unternehmenswerte überhaupt: den Ruf bzw. das Image oder die Reputation eines Unternehmens. Denn die Stellung eines Unternehmens am Markt hängt in entscheidendem Maß auch von vorökonomischen Werten wie einem guten Ruf, Ansehen, Tradition und Glaubwürdigkeit ab.16 Gerade Letztere folgt, wie Zerfaß andeutet, keinen klaren Regeln.17

Doch gibt es einen Faktor, der eng mit der Glaubwürdigkeit einer Aussage verbunden ist und daher als grundlegend, auch für die Diskussion um erzählerische Methoden in der Unternehmenskommunikation gesehen werden kann: die Relevanz. Was erachten Menschen, gar Gesellschaften, als relevant ←21 | 22→und wie kann das Wissen darum zu reputationsbildenden und damit ökonomischen Zwecken genutzt werden?

Wie eingangs und bei Zerfaß und Piewinger schon festgestellt, sind es nicht die traditionellen Mittel der sachlichen Faktenbezogenheit, die es vermögen, Aufmerksamkeit und Relevanz bei Rezipienten zu erzeugen. Der Grund hierfür liegt unter anderem in der Funktionsweise des menschlichen Gehirns sowie seiner biologischen und psychologischen Mechanismen, die in Kapitel 3 genauer zu umreißen sind. An dieser Stelle sei nur kurz angesprochen, dass Emotionen und Affekte in Wahrnehmungs-, Aufmerksamkeits- und Gedächtnisprozessen eine bedeutende Rolle spielen.

Wenn es nun aber nicht die faktuale Hülle ist, die Unternehmensbotschaften zu mehr Aufmerksamkeit bei potenziellen Käufern gereichen, was ist dann ein probates Mittel, eben jene biologischen und psychologischen Schemata und Mechanismen zu überlisten? Die Antwort liefert die Literaturwissenschaft, die als binäre Opposition zum faktualen, den fiktiven Text stellt. Eine Kommunikation, die auf narrativen Grundprinzipien beruht, kann das Wissen, die Überzeugungen, die Einstellungen und das Verhalten von Menschen beeinflussen.18 Felix Frey stellt dazu die These auf, dass

„[…] narrative Texte deshalb verständlicher sind als andere, weil das Verstehen von zielgerichteten Handlungen und den zugrundeliegenden Intentionen – egal ob medial vermittelt oder nicht – leichter und müheloser vonstatten geht als das Verstehen anderer Sachverhalte, z. B. physikalisch-kausal determinierter Vorgänge oder logischer Argumentationen.“19

Diese persuasive Kraft zeigt sich auch in Bereichen wie Politik, Lehre und Recht20 und wird als Manipulation bezeichnet, denn die Kommunikation über ein Ereignis und auch über Produkte erzeugt eine Erinnerung an etwas, das nicht geschehen ist, wie die Psychologin Elizabeth Loftus in einem Experiment ←22 | 23→bewies.21 Eine signifikante Mehrheit von Probanden konnte sich an ein erfundenes angebliches Ereignis aus ihrer Kindheit ‚erinnern‘, das ihnen zuvor auf einer Liste mit Kindheitserinnerungen aus dem eigenen Familienkreis vorgelegt wurde.22 Diese starke Erinnerungshaftigkeit zeigt, wie nutzbringend narrative Strukturen für die Unternehmenskommunikation sein können, sind doch, wie Fog sagt, die westlichen Märkte voll mit Produkten, die eigentlich nicht benötigt werden und eine Entscheidung dafür oder dagegen wird nicht aufgrund sachlicher Features, sondern aufgrund ebensolcher Erfahrungen und Emotionen getroffen.23 Die Narration stellt das Alltägliche aus der Perspektive des Erzählenden dar und ermöglicht damit, Zugänge zur dargestellten Welt für Zuhörer greifbar zu machen.24 Auf die Unternehmenskommunikation übersetzt bedeutet dies, dass narrative Kommunikation potenziellen Kunden einen lohnenswerten Zugang zum Unternehmen und zu dessen Produkten eröffnet und dadurch das abstrakte Konstrukt Unternehmen bzw. Produkt verständlich macht.

„Auch ein Unternehmen […] braucht eine Geschichte – eine ‚story‘ […], eine Firmenerzählung, die potenzielle Aktionäre fesselt und Phantasien freisetzt. Wobei das Erzählen durchaus die Funktion haben kann, die nackten Zahlen eines Geschäftsberichts zum Leben zu erwecken […].“25

Die Konsequenzen hieraus sind positive ökonomische Auswirkungen auf materielle (Gewinn, Umsatz) oder immaterielle (Reputation, Image) Unternehmenswerte.←23 | 24→

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Relevanz für die hier zu untersuchende Frage nach der Literarizität in der Unternehmenskommunikation aufseiten der Wirtschaftswissenschaft in den positiven ökonomischen Effekten narrativer Darstellungsformen liegt. Untersucht wird in dieser Arbeit eine Form der Unternehmenskommunikation, deren Grundfeste auf narrativen Prinzipien basieren. Diese Ausrichtung hat Auswirkungen auf die Literaturwissenschaft und bildet den zweiten Teil der Relevanzfrage: jener nach der Genre-Berechtigung im literarischen Korpus der Epik, die im nächsten Kapitel 1.1.2 diskutiert wird.

1.1.2. Relevanz der Kanonisierung unternehmenskommunikatorischer Arbeiten für die Literaturwissenschaft

Traditionell befassen sich Literaturwissenschaftler mit der Analyse und Interpretation von Texten der drei literarischen Gattungen Epik, Lyrik und Drama.26 Ihnen allen gemein ist ein nach einem normativen Verständnis erzählerisches Moment, also die Fiktionalität des Erzählten. Davon strikt abzugrenzen sind laut Lahn und Meister andere Formen der Alltagsrede, wie sie in Berichten, Beschreibungen und Informationen vorkommen.27 Folgt man der Definition dieser traditionellen Auffassung, sind Texte der Unternehmenskommunikation kein lohnenswerter Untersuchungsgegenstand für die Literaturwissenschaft, da ihnen ein Wahrheitsanspruch, der als konstituierend für faktuale Alltagserzählungen anzusehen ist28, unterstellt wird. Dies führt zu dem bis heute vorherrschenden Konsens, dass Texten der Unternehmenskommunikation deshalb die Zugehörigkeit zum literarischen Korpus abzusprechen sei.

Diese Auffassung gibt aus literaturwissenschaftlicher Sicht in dieser Arbeit den Ausschlag zur Frage, wie viel Literatur in der Unternehmenskommunikation enthalten ist. Der oben beschriebenen Auffassung soll an dieser Stelle aus zwei Gründen widersprochen werden.←24 | 25→

Zum einen verschwimmt die Grenze zwischen faktualer und fiktiver Erzählung immer mehr. Göran Rossholm vertritt beispielsweise die Grundannahme, dass jeder Text fiktional und faktual gelesen werden kann.29 Er geht sogar so weit zu sagen, das faktuale Erzählen sei aufgrund der diversen Unzuverlässigkeiten von Umständen und Erzählern, die im faktualen Erzählen hinterfragt werden müssen, fiktiver als das fiktive Erzählen30: „The narratologist might disagree with one of my contentions: that fictional narratives in distinction to factual narratives are secure, that they leave no room for doubt.“31

So fragt er, ob der Leser aus faktualem Erzählen genauso allgemeine Wahrheiten extrahieren und projizieren kann, wie das beim fiktionalen Erzählen der Fall ist.32 Dem Leser fiktionaler Texte falle es leichter, universelle Wahrheiten im Text zu erkennen, als dem Leser eines faktualen Diskurses33, da die Anstrengungen zur Erlangung faktualer Informationen größer seien, als jene zur Erlangung kontrafaktualer Informationen aus einem Text, denn jede Aussage müsse hinterfragt werden, was kognitive Anstrengung erfordert. Dies sei im fiktiven Erzählen nicht der Fall, da hier der Leser bereits wisse, dass es sich um unwahre Umstände handelt.34 Zwar bezieht sich Rossholm in seinen Ausführungen auf Märchen, doch kann seine Argumentation auch umgekehrt gelten: faktuale Texte wie die der Corporate Communication können als fiktionale Texte gelesen werden, womit die gattungspoetische Diskussion eine neue Richtung einschlagen würde.

Der zweite Grund, aus dem diese Arbeit versucht, den Stellenwert der Unternehmenskommunikation für die Literaturwissenschaft zu beweisen, liegt in der aktuellen Tendenz der Literaturwissenschaft ihren Kanon aus einem breiter aufgestellten Kulturbegriff zu beziehen. Ingo Schneider bemängelt in seiner ←25 | 26→Abhandlung über die Konjunktur des Erzählens und der Erzähltheorien das Fehlen von Texten des alltäglichen Erzählens (also nicht literarischer Texte) im Kanon bei gleichzeitiger Erkenntnis um die Vielfalt und Tiefe der Kulturalisierung in den Geisteswissenschaften35:

Details

Seiten
484
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631867419
ISBN (ePUB)
9783631867426
ISBN (Hardcover)
9783631856611
DOI
10.3726/b19046
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Februar)
Schlagworte
Storytelling Narratologie Epik Gattungspoetik Strukturalismus Kultur Medien Social Media Betriebswirtschaft
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 484 S., 15 farb. Abb., 72 s/w Abb., 15 Tab.

Biographische Angaben

Barbara Jesch (Autor:in)

Barbara Jesch studierte Tourismus-Management an der Hochschule München sowie Buchwissenschaft, Germanistik und Kunst/Musik/Theater an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU). An der LMU hat sie im Fachbereich Neuere deutsche Literatur und Medien auch promoviert. Ihre Forschungsschwerpunkte sind organisationelle Narratologie und Erzählungen.

Zurück

Titel: Das Corporate-Literature-Modell: Wie viel Literatur steckt in der Unternehmenskommunikation?
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
486 Seiten