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Über paradoxen Sozialismus

von Ulrich Knappe (Autor:in)
©2018 Monographie 286 Seiten

Zusammenfassung

Noch vor wenigen Jahren schien der weltweite Siegeszug des Kapitalismus ein Nachdenken über gesellschaftliche Alternativen zu erübrigen. Heute wendet sich das Blatt. Der Kapitalismus steht vor gewaltigen Herausforderungen und plötzlich erscheint auch die untergegangene Gesellschaftsordnung wieder bedenkenswert. Diese Renaissance lässt aber einen Gesichtspunkt völlig unberührt. Das Wesen des Sozialismus ist kaum erforscht. An dieser Stelle setzt dieses Buch an und entwirft einen originellen Zugang durch Ausarbeitung der Paradoxa, die den Sozialismus geprägt haben.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Ein Schmetterling vorab
  • Teil I Das geistige Handwerkszeug
  • 1 Das Paradoxon
  • 1.1 Ausgangspositionen in der Theorie – Das formulierte Sozialismus-Paradoxon in der Geschichtswissenschaft
  • 1.2 Das Paradoxon im Allgemeinen
  • 1.3 Das Gesellschaftsparadoxon
  • 2 Das Beharrungsvermögen der Geschichte
  • 2.1 Strukturen in der russischen Geschichte
  • 2.1.1 Die Kontinuität
  • 2.1.2 Die Parallelität
  • 2.1.3 Der Knoten
  • 2.1.4 Die Brücken
  • 2.2 Hinführung zu einer ersten Kontinuität – Das ambivalente Verhältnis Russlands zum Westen
  • 2.2.1 Eine erste Kontinuität – Das ambivalente Verhältnis Russlands zum Westen
  • 2.3 Hinführung zu einer Parallelität – Gewalt und Terror als Mittel zur Gesellschaftsgestaltung
  • 2.3.1 Eine Parallelität – Das Versagen von Gewalt und Terror als Gesellschaftstriebkräfte
  • 2.4 Hinführung zu einer zweiten Kontinuität – Fortschritt als Herrschaftskonzentration (Autokratie)
  • 2.4.1 Eine zweite Kontinuität – Das Fortschrittliche an der russischen Autokratie
  • 2.5 Hinführung zu einem Knoten – Die russische Dorfgemeinde
  • 2.5.1 Der (gordische) Knoten – Die russische Dorfgemeinde
  • 2.6 Hinführung zu einer ersten Brücke – Das Entstehen der russischen Bürokratie
  • 2.6.1 Die erste Brücke – Das Hinüberwachsen der russischen Bürokratie in den sozialistischen Staat
  • 2.7 Hinführung zu einer zweiten (und vorerst letzten) Brücke – Die Industrialisierung
  • 2.7.1 Die zweite Brücke – Die Industrialisierung
  • 3 Die Marx’sche Gesellschaftsauffassung
  • 3.1 Wesensbestimmung
  • 3.2 Der humanistische Grundgedanke
  • 3.3 Die zentrale Kategorie – Die bürgerliche Gesellschaft (Kapitalismus)
  • 3.3.1 Warenproduktion
  • 3.3.2 Lohnarbeit (und Kapital)
  • 3.3.3 Kapital (und Lohnarbeit)
  • 3.3.4 Kleine und große Zirkulation
  • 3.4 Das gesellschaftliche Eigentum
  • Teil II Der praktizierte Sozialismus im 20. Jahrhundert
  • 4 Das ökonomische Gesellschaftsparadoxon des Sozialismus
  • 4.1 Das sowjetische Gesellschaftsparadoxon
  • 4.1.1 Die Entwicklung von Lohnarbeit in der Sowjetunion oder das Schicksal der russischen Dorfgemeinde
  • 4.1.2 Die Entwicklung von Kapitalersatz in der Sowjetunion oder die Herausbildung von Kollektiveigentum der Sowjetbürokratie
  • 4.2 Das ökonomische Paradoxon – Die WERTform der Ware im Sozialismus
  • 4.3 Die Alternative zur „gefesselten WERTform der Ware“ im Sozialismus nach Stalin
  • 5 Die Besonderheit Chinas
  • 5.1 Hinführung zu einer Kontinuität – der Weltmacht China
  • 5.1.1 Die frühe Weltmacht
  • 5.1.2 Die Demütigung
  • 5.2 Der Aufstieg der chinesischen Kommunisten zur nationalen Führungskraft
  • 5.2.1 Erste Etappe – Fuß fassen
  • 5.2.2 Zweite Etappe – Das Handwerk erlernen
  • 5.2.3 Dritte Etappe – Das Handwerk anwenden
  • 5.2.4 Vierte Etappe – Die Spaltung der Staatsklasse
  • 5.2.5 Fünfte Etappe – Das Chaos
  • 5.2.6 Sechste Etappe – Phönix aus der Asche
  • Teil III Eine fragmentarische Analyse des Friedens in einer bipolaren Welt
  • 6 Die USA und die Sowjetunion im Vorfeld des Kalten Krieges
  • 6.1 Die Vereinigten Staaten von Amerika
  • 6.2 Die Sowjetunion
  • 7 Eine geistige Dimension des Kalten Krieges
  • 8 Vom Wesenswandel des Krieges und des Friedens
  • 8.1 Die Erosion des konfrontativen Denkens in der DDR
  • 8.2 Der politische Anstoß
  • 8.3 Der naturwissenschaftliche Anstoß
  • 8.4 Was war der Kalte Krieg?
  • Nachwort und Summary
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Glossar (russisch)
  • Glossar (chinesisch)/Pinyin
  • Literaturverzeichnis
  • Zeittafeln
  • Register

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Ein Schmetterling vorab

Wir schreiben den 14. August 2017. Ein warmer Sommerabend lässt den Tag enden.

Zum Palais Sommer, einer in Dresden seit 2009 laufenden freien Veranstaltungsreihe, ist erstmals eine Podiumsdiskussion auf die beste Abendzeit gelegt worden.

Ein Experiment. Diskussionspartner sind der Philosoph Richard David Precht und der Kulturwissenschaftler Christian Felber, die sich dem Thema „Wie werden wir morgen leben“ widmen.

Es ist ein Montagabend und nur wenige Kilometer entfernt grölen im Stadtzentrum von Dresden, auch diese Woche wieder Hunderte Pegida1-Anhänger ihre kruden Auffassungen über unsere Zukunft in den Abendhimmel.

Als die Veranstaltung gegen 20:45 Uhr beginnt, sitzen, stehen, liegen auf der Wiese vor dem Japanischen Palais, eingerahmt von zwei mächtigen Platanen, fünftausend meist junge Menschen im Canaletto-Sonnenuntergang.

Dem Veranstalter verschlägt es die Sprache. Das ist das andere Dresden.

In gespannter Leichtigkeit verfolgen die Tausenden die Diskussion, in der eine Gesellschaftsutopie entworfen wird. Gemeinwohl, Revolution der Arbeit, Fluch und Segen der Digitalisierung, Zähmung des Finanzkapitals, bedingungsloses Grundeinkommen, souveräne Demokratie. Die Themen reihen sich aneinander und ohne Zeitdruck werden Gedanken frei entfaltet.

Wir können also noch träumen, von einer anderen, solidarischen, gerechten, am gemeinsamen Wohl und der Würde des Einzelnen orientierten Gesellschaft. Von Ernst Bloch wissen wir, Utopie ist die konstruktive Kritik der Träumer am Bestehenden und ohne die Antizipation schöpfen wir den Möglichkeitsrahmen unserer Zukunft kaum aus.

Aber – wie ein Schatten liegt für mich die Geschichte der kommunistisch-sozialistischen Utopie auf der Veranstaltung.

Ich beruhige mich. Vielleicht ist es gut so, dass niemand an die alte Wunde rührt. Vielleicht gehört das auch jetzt nicht hierher. Der Traum braucht Ruhe. Warum an das Scheitern und die Pervertierung der Utopie erinnern?

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Doch ähnelt das nicht der Haltung von Jean-Paul Sartre, der Anfang der 1940er Jahre meinte, die französischen Arbeiter nicht mit dem Wissen über die realen Verhältnisse in der Sowjetunion vertraut machen zu sollen, weil er um ihren revolutionären Elan fürchtete?2

Ich meine, Neues kann nur gelingen, wenn man den Schatten der Vergangenheit nicht fürchtet, denn abstreifen kann man ihn nicht. Die neue soziale Utopie mit Anspruch auf Verwirklichung wird ihr Comeback ohne Spiegelung in ihrer eigenen Geschichte nicht erfolgreich vollziehen können.

Mit der Gewissheit, dem Neuen einen Dienst erweisen zu sollen, mache ich mich um Mitternacht auf den Heimweg.

Es scheint lohnenswert, angesichts der vielen tausend Suchenden, der geschichtlichen Aufarbeitung des realen Sozialismus, eine weitere Facette hinzuzufügen.

1 PEGIDA ist die Abkürzung für Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes und bezeichnet eine im Oktober 2014 in Dresden entstandene ausländerfeindliche, nationalistische Strömung.

2 A. Ciliga, Im Land der verwirrenden Lüge. Erscheinungsjahr 1937, Wiederauflage 2010, S. 10.

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1 Das Paradoxon

1.1 Ausgangspositionen in der Theorie – Das formulierte Sozialismus-Paradoxon in der Geschichtswissenschaft

Die Historiker greifen auf den Begriff des Paradoxons zurück, sobald sie den Entwicklungsgang des realen Sozialismus zu beschreiben beginnen. Es ist mir bei Isaac Deutscher aufgefallen, ebenso bei Eric Hobsbawm, Ante Ciliga, Jörg Baberowski, Manfred Hildermeier, David Priestland, Wladislaw Hedeler und auch bei Angehörigen angrenzender Disziplinen wie dem Philosophiehistoriker Leszek Kolakowski. Die bisher zutreffendste Einschätzung hat meiner Meinung nach der Historiker Gerd Koenen getroffen, der Folgendes schrieb: „Hier (am Widerspruch zwischen großer Utopie und ihrer blutigen Ausführung, Einfügung durch d. A.) ist man an einem der schwierigsten Punkte angelangt – einem ungeheuren Paradox (Hervorhebung durch d. A.), das die historische Erfahrung des Kommunismus unserem späten, rekonstruierenden Begreifen beinahe entzieht. Denn alle die so feierlich evozierten Humanismen, Utopismen, Universalismen dienten ja in Wahrheit einer monströsen Umkehr der Wirklichkeit, einer ‚Umwertung aller Werte‘, wie es sie noch nicht gab. Man (Hervorhebung durch d. A.) versklavte die Arbeiter im Namen der Arbeiterklasse; man erhob Verrat und Denunziation zur revolutionären Tugend; man machte im Namen der ‚objektiven Wahrheit‘ aus der Lüge eine Wissenschaft und ersetzte die Realität durch die Fiktion; man löschte das Gedächtnis der Menschen aus und erfand ihre Geschichte neu, während man ihnen versicherte, sie seien gerade dabei, ‚Geschichte zu machen‘; man isolierte das Land im Zeichen des Internationalismus vom Rest der Welt; man beraubte Millionen ihrer Freiheit und ihrer persönlichen Würde im Namen der Freiheit und der moralischen Besserung; und schließlich brachte man mit unerschütterlich gutem Gewissen Menschen zu Hunderten, zu Tausenden und zu Hunderttausenden um, warf sie in Massengräber, verbrannte sie allmorgendlich in den Krematorien der Hauptstädte oder verscharrte sie einzeln in der Landschaft – im Namen der Menschheit und ihres Fortschritts.“3 Ich finde, dieses Heranziehen des „ungeheuren Paradox“ durch die Historiker sollte aufgenommen und ausgefüllt werden. Die Notwendigkeit für das Tiefergehen liegt in der Auflösung des unbestimmten ‚man‘. Wirft es doch das Problem auf, ob hinter den geschichtlichen Ereignissen vordergründig ←13 | 14→die Fehler Einzelner stecken oder ob Objektives, als Ursache von subjektivem Handeln und umgekehrt, nicht zu trennen ist.

G. Koenen und vielen seiner Kollegen ist völlig klar, dass mit einer Überbetonung des subjektiven Versagens Einzelner zu kurz gesprungen wird.

Aber es ist nicht die Aufgabe der Geschichtswissenschaft, nach den Verallgemeinerungen und dem tiefer liegenden Grund für das erscheinende Paradoxon zu suchen. An dieser Aufgabe sollten sich Philosophen die Zähne ausbeißen, und zwar möglichst jene, deren Stammvater Karl Marx den ganzen Schlamassel ausgelöst zu haben scheint. Mit dem Ende der Gesellschaft, die sich auf Karl Marx berief (China lasse ich jetzt aus dem Blick), ist aber auch diese Philosophengemeinde (der kirchliche Zungenschlag ist gewollt) geschmolzen, wie der Hintertuxer Gletscherschnee in der Julisonne. Zu groß ist die Gefahr, mit den alten Gedanken am Neuen vorbeizuschrammen. Zu groß ist das geistige Vakuum, das die überkommenen und nicht aufgearbeiteten Begriffe des „Ismus“ hinterlassen haben.

Wenn ich mich jetzt trotzdem dieser Aufgabe stelle, dann im Wissen um die Schwierigkeiten, angetrieben vom Motiv notwendiger Aufarbeitung.

1.2 Das Paradoxon im Allgemeinen

In der Literatur wird das Paradoxon als Widersinn oder Trugschluss definiert, der dann zum Vorschein kommt, wenn Tatsachen oder Zusammenhänge der allgemeinen Erfahrung oder dem als gültig angenommenen Wissensstand widersprechen. Paradox ist etwas, im Wortsinne, wenn es der allgemein vertretenen Auffassung unerwartet (und überraschend) zuwiderläuft.

Angrenzende Begriffe sind die Antinomie, die Aporie, das Dilemma, der Zirkelschluss und der Widerspruch.

Es führt aus dem Rahmen der von mir angestrebten Untersuchung heraus, wenn ich an den Unterscheidungen und Vermittlungen dieser Begriffswelt weiterarbeiten würde. Trotzdem scheint es wichtig zu sein, das gedankliche Instrumentarium für das Paradoxon anhand von Abgrenzung und Übereinstimmung kurz zu präzisieren.4

Dem Paradoxon am nächsten kommt der Begriff der Antinomie, der einen logischen Widerspruch in seiner wissenschaftlichen Formulierung beschreibt. In erster Linie werden Antinomien in der formalen Logik (und) der Mathematik als syntaktische oder semantische formuliert. Sie kommen in ihrer semantischen ←14 | 15→Form auch in der Philosophie vor. Immanuel Kant hat in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ vier Antinomien als These und Antithese beschrieben. Während das Paradoxon die ausufernde, unbestimmte und manchmal irrationale Erscheinung ist, kommt die Antinomie eher der rational wissenschaftlichen, logischen Eingrenzung nahe.

Die Aporie beschreibt eine gedanklich ausweglose Situation, die Hilflosigkeit des geistig Suchenden, der sich anhand der eingeübten Schemata in einer Problemstellung hoffnungslos festgefahren hat. Für Sokrates war die Aporetik eine Methode, seinen Gesprächspartnern die Begrenztheit ihres Wissens und ihrer Moral zu verdeutlichen. Die Aporie und das Paradoxon sind nicht identisch. Es ist jederzeit möglich, sich gedanklich auch in dem scheinbar völlig Logischen, dem allgemein Anerkannten zu verrennen. Das Paradoxon steigert die Aporie, ruft sie aber nicht hervor.

Das Dilemma führt einem die Ausweglosigkeit in der Auswahl von Möglichkeiten vor Augen. Gleichgültig, wofür man sich entscheidet, es ist immer falsch bzw. nachteilig oder immer richtig bzw. von Vorteil. In diesem Sinne ist das Lutherwort „Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen“ auch Ausdruck eines Dilemmas. Das Dilemma ist, wie die Aporie auch, außerhalb eines Paradoxons vorzufinden. Während die Aporie den Schwerpunkt auf die Hilflosigkeit und die Unsicherheit eines geistig Suchenden lenkt, zeigt das Dilemma die Ausweglosigkeit für den Handelnden an.

Der Zirkelschluss wird als Circulus vitiosus, als Teufelskreis, im engeren Sinne definiert. Er ist so gesehen eine Eingrenzung des Dilemmas, weil nur noch die Wahl zwischen Nachteilen übrig bleibt. Eine darüber hinausgehende weitere Definition beschreibt den Zirkelschluss als eine Problemlösung, die nicht gelingen kann. Der Zirkelschluss berührt das Paradoxon dann insofern, dass er begründen könnte, dass es das Paradoxon gar nicht gibt, und damit den Zweifel und den Zweifler ruhigstellt.

Der Widerspruch, als tragende Säule dialektischer und pantheistischer Weltanschauung, führt uns die Einheit und die Unterscheidung von Gegensätzen vor Augen. Das Ying und das Yang, beide, ob schwarz oder weiß, in sich das Gegenteil des anderen tragend, sind, geschwungen im Kreis, eingeschlossen und bilden ein Ganzes. Das eine kommt ohne das andere weder aus noch vor. Der Widerspruch ist das weit umfassende, das Ganze charakterisierende. Das Paradoxon ist im Verhältnis zum bunten, reichen Widerspruch die matte, dürre Erscheinung. Um das Paradoxon inhaltlich aufzulösen, muss es auf seine fundamentalen Widersprüche zurückgeführt werden. Dieser Erkenntnisweg kann in der begrifflichen Bestimmung des Paradoxons und seiner Erklärung münden.

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Häufig wird das Paradoxon einem logischen Gedankenexperiment, manchmal sogar einer Knobelaufgabe gleichgesetzt5 und damit zum einen regelrecht degradiert und zum anderen der Wirklichkeit entfernt. Die erste und wichtigste Bestimmung des Paradoxons, so wie ich es näher analysieren möchte, liegt in (s)einer philosophischen Tiefe des Wirklichkeitsbezuges.

Ein Beispiel: Kieselalgen produzieren Sauerstoff und nutzen als Quelle der Energiebereitstellung die Photosynthese. In diesem Sinne tragen sie Pflanzeneigenschaften. Die Entschlüsselung des Genoms der Kieselalge hat aber gezeigt, dass in ihren Zellen ein Harnstoffzyklus abläuft, wie er nur für Tiere typisch ist. So gesehen sind sie biochemisch eine Schimäre6. Die Biologen scheint dieses Paradoxon der Tierpflanze oder des Pflanzentieres wenig zu beunruhigen oder zu Disputen anzuregen. „Miss Evolution“ (in Anlehnung an Frank Schätzing) vollzieht ihre Entwicklung sowohl an der Ausnahme als auch an der Regel. Und was das eine vom anderen unterscheidet, ist für die biologischen Wissenschaften nicht immer eindeutig voneinander zu trennen. Die Biologie und im weiteren Sinne die Naturwissenschaften gehen scheinbar entspannter mit dem Paradoxon um, als das die marxistisch-leninistischen Sozialwissenschaften vermuten lassen. Das ist aber vorerst eine Unterstellung, denn für das gespannte Verhältnis dieser Sozialwissenschaften zum Gesellschaftsparadoxon gibt es Gründe und die sind im weiteren Exkurs erst noch zu erarbeiten.

Aber, was ich noch einmal betonen möchte: Ohne das wirkliche Paradoxon ist kaum Stoff vorhanden, um den sich der von Menschen hervorgebrachte Widersinn entfalten kann. Es bedarf aber schon einer hohen Abstraktion und es bedarf des Mutes (das ist die gesellschaftliche Seite), den Widersinn nicht nur zu erdulden, sondern ihn zu formulieren. Formulierte Paradoxa sind Steine des Anstoßes und wichtige Stimuli wissenschaftlicher Forschung, manchmal sogar der gesellschaftlichen Entwicklung. Sie offenbaren auch den Irrtum, der jedem wissenschaftlichen Erkennen eigen ist.

Die Wirklichkeit oder die Totalität, das Ganze, ist immer reichhaltiger als die wissenschaftliche Abstraktion. Für den Marxismus, als Anspruch auf wissenschaftliche Gesellschaftsgestaltung, folgt dem Irrtum die Tragik auf dem Fuß.

Meiner Auffassung nach gibt es zwei Pole, um die sich die Formulierung von Paradoxa bewegt. Zum einen kann die Wirklichkeit in einer solchen Geschwindigkeit enteilen, kann Neues explosionsartig entstehen, dass wir mit unseren ←16 | 17→bisher gültigen Erklärungsmustern und moralischen Ansprüchen nicht mehr nachkommen. Die neolithische Revolution umreißt einen solchen Prozess gesellschaftlicher Entwicklung genauso wie die Globalisierung (Umbruch der Arbeit durch die Digitalisierung und weitere technologische Revolutionen) heute.

Zum anderen können unsere Gedankenwerkzeuge durch bahnbrechende Erkenntnisse in einem solchen Ausmaß revolutioniert werden, dass alles bisher Gedachte unter die neuen Prämissen zu stellen ist und ohne ihr Bedenken paradox erscheint.

Denken wir nur an Sigmund Freud und die Wirkungen seines psychoanalytischen Ansatzes auf die Sozialwissenschaften und die Erweiterung ihres Wissenschaftsgegenstandes. Oder denken wir an die Relativitätstheorie von Albert Einstein, die eine Revolutionierung der Physik einleitet und uns mit der Nutzung der Kernenergie in friedlicher und gewaltsamer Form in ein neues Zeitalter katapultiert.

1.3 Das Gesellschaftsparadoxon

Um ein Gesellschaftsparadoxon auszumachen, ist nicht nur der Widersinn zu diagnostizieren, sondern auch das weiterreichende, viele Menschen berührende Wirken. In diesem Sinne unterscheidet sich meiner Auffassung nach ein Gesellschafts- von einem Naturparadoxon, ohne damit zu sagen, dass ein Naturparadoxon nicht Teil oder Auslöser eines Gesellschaftsparadoxons sein kann.

Das Christentum führt uns Beispielhaftes vor Augen. Die christliche Lehre stabilisierte im Mittelalter sowohl in West- als auch in Osteuropa (Rom/Konstantinopel) die weltliche Macht der größeren zulasten der kleineren Grundbesitzer. Im Zuge dessen wurde der Klerus selbst neben der geistlichen zu einer weltlichen besitzenden Macht.

Hegel beschreibt in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte, wie sich die römisch-katholische Kirche, als Verwalter des Glaubens an das Jenseits, ein einträgliches Geschäftsmodell erschuf.7

Details

Seiten
286
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631764299
ISBN (ePUB)
9783631764305
ISBN (MOBI)
9783631764312
ISBN (Hardcover)
9783631764282
DOI
10.3726/b14514
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (April)
Schlagworte
Gefesselte Wertform der Ware in der Sowjetunion Besonderheiten der sozialistischen Entwicklung Chinas Frieden in einer bipolaren Welt Wesen des realen Sozialismus Russische Dorfgemeinde und Lohnarbeit Fiktion gesellschaftlichen Eigentums
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 286 S., 1 Tab.

Biographische Angaben

Ulrich Knappe (Autor:in)

Ulrich Knappe ist Diplomgesellschaftswissenschaftler und Philosophiehistoriker. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen der Sozialismus, die Philosophiegeschichte und die Entwicklung von Auffassungen zu Frieden und Krieg.

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Titel: Über paradoxen Sozialismus
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