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Staatenlexikon Amerika

Geographie, Geschichte, Kultur, Politik und Wirtschaft

von Wolfgang Gieler (Band-Herausgeber:in) Markus Porsche-Ludwig (Band-Herausgeber:in)
©2018 Andere 554 Seiten

Zusammenfassung

Das Staatenlexikon vermittelt grundlegende Kenntnisse zur Geographie, Geschichte, Kultur, Politik und Wirtschaft der Staatenwelt Nord-, Mittel- und Südamerikas. In alphabetischer Reihenfolge – von Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile und Costa Rica, über Kanada, Kuba und Venezuela bis zu den Vereinigten Staaten von Amerika – werden insgesamt 35 Staaten behandelt. Die Besonderheit des Lexikons besteht in der Analyse gegenwärtiger gesellschaftspolitischer und ökonomischer Entwicklungen als historisch bedingte Prozesse.
In kompakter Form werden Informationen auf aktuellem Stand über die Bedingungen und Strukturen, Interessen und Ziele der Politik der Staaten Nord-, Mittel- und Südamerikas untereinander und in der internationalen Arena geboten. Zielgruppe sind vor allem Wissenschaftler, Studierende, Dozenten, Journalisten und sonstige Mittler politischer Bildung sowie alle politisch Interessierten.
Ein Grundlagenwerk, das zur differenzierten Beurteilung dieser im deutschsprachigen Raum eher vernachlässigten Region beiträgt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Antigua und Barbuda (Christian Cwik / Verena Muth)
  • Argentinien (Anne Tittor / Mirko Petersen)
  • Bahamas (Wolfgang Gieler)
  • Barbados (Christian Cwik / Verena Muth)
  • Belize (Saskia Thorbecke)
  • Bolivien (Johannes Winter)
  • Brasilien (Nelia M. Müller)
  • Chile (Veit Straßner / Stephan Ruderer)
  • Costa Rica (Wolfgang Gieler)
  • Dominica (Christian Cwik / Verena Muth)
  • Dominikanische Republik (Svenja Flechtner)
  • Ecuador (Wolfgang Gieler)
  • El Salvador (Wolfgang Gieler)
  • Grenada (Saskia Thorbecke)
  • Guatemala (Wolfgang Gielere)
  • Guyana (Sinah Theres Kloß)
  • Haiti (Malte Falkenstein)
  • Honduras (Christian Cwik / Verena Muth)
  • Jamaika (Patrick Helber)
  • Kanada (Markus Porsche-Ludwig)
  • Kolumbien (Johannes Bottländer)
  • Kuba (Jens Becker)
  • Mexiko (Jana Burkhard)
  • Nicaragua (Laurin Blecha)
  • Panama (Eduard Ridiger)
  • Paraguay (Johannes Bottländer)
  • Peru (Malte Falkenstein)
  • St. Kitts und Nevis (Wolfgang Gieler)
  • St. Lucia (Wolfgang Gieler)
  • St. Vincent und die Grenadinen (Saskia Thorbecke)
  • Suriname (Sinah Theres Kloß)
  • Trinidad und Tobago (Christian Cwik / Verena Muth)
  • Uruguay (Johannes Bottländer)
  • Venezuela (Dario Azzellini)
  • Vereinigte Staaten von Amerika (Dietmar Herz / Dominique Daniela Herz)
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Karten
  • Staatenübersicht
  • Die Nationalflaggen der Staaten Amerikas
  • Verzeichnis wichtiger Personen
  • Autorenverzeichnis

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Vorwort

Hervorgerufen durch zahlreiche Entwicklungen und Wandlungsprozesse im politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bereich, richtet sich der Blick der internationalen Politik in den letzten Jahren wieder auf die amerikanische Staatenwelt. Insbesondere die erfolgreiche Durchführung von international relevanten Großereignissen, wie beispielsweise des ersten Weltsozialforums 2001, der Fußballweltmeisterschaft 2014, der Sommerolympiade 2016, aber auch die Wahl eines amerikanischen Papstes 2013 führten zu einer verstärkten Wahrnehmung des amerikanischen Kontinents in der internationalen Öffentlichkeit.

Die Namensbezeichnung „Amerika“ für den Kontinent basiert auf dem Vornamen des Italieners Amerigo Vespucci (1451–1512). Dieser entdeckte die Amazonasmündung und berichtete als Erster davon, dass der im Zuge der europäischen Kolonisation entdeckte Kontinent nicht Asien ist, sondern vielmehr ein eigenständiger Kontinent sein könnte. „Indianer“ als Bezeichnung für die amerikanischen Ureinwohner gründet auf dem Irrtum, es handle sich bei der erreichten Küste um einen Teil Asiens. In der iberischen Welt und im kolonialen Amerika wurde der Kontinent bis weit ins 18. Jahrhundert weiterhin als „Indias“, „Die Indien“ bezeichnet. Die englische Bezeichnung „Indian“ kann sowohl „Inder“ als auch „Indianer“ bedeuten. Zur Unterscheidung werden die amerikanischen Ureinwohner als „American Indians“ oder „Native Americans“ bezeichnet, in Kanada auch als „Aborigines“ oder „First Nations“.

Die Besiedlung des Kontinents ist durch eine wechselreiche Geschichte von über 15.000 Jahren charakterisiert, welche einige der ersten Hochkulturen einschließt. Diese altamerikanische Kultur wird bis etwa 1492 (der europäischen Entdeckung) als „präkolumbische“ Zeit betrachtet. Hier setzt eine Periode der Kolonisierung und intensiven Besiedlung des Kontinents durch europäische Kolonisatoren ein. Seit dem 18. Jahrhundert entstanden aus den ehemaligen kolonialen Gebieten politisch eigenständige Staaten. 1948 wurde die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) als Kontinentalbündnis gegründet, das fast alle amerikanischen Staaten vereint. ← 11 | 12 →

Bestehend aus Nordamerika (mit Zentralamerika) und Südamerika, ist Amerika ein Doppelkontinent. Häufig wird der Kontinent auch in Nord-, Mittel- und Südamerika unterteilt. In seiner Nord-Süd-Achse reicht dieser vom 83. Breitengrad Nord (Kap Columbia) bis zum 56. Breitengrad Süd (Kap Hoorn). Dies entspricht etwa 15.000 Kilometer Nord-Süd-Ausdehnung. Der östlichste Punkt liegt auf Grönland und der westlichste ebenfalls in Nordamerika, auf dem 172. Längengrad Ost auf der Aleuteninsel Attu. Der amerikanische Doppelkontinent verfügt über eine Landfläche von etwa 42 Millionen km².

Bis heute sind die geographischen Zuordnungen in unterschiedlichen Sprachräumen zu beachten. Im englischen Sprachraum werden Nord- und Südamerika als zwei getrennte Kontinente aufgefasst. „America“ wird (wie auch „Amerika“ im Deutschen) als Kurzform für die Vereinigten Staaten von Amerika (USA) verwendet. Im Gegensatz dazu wird der Doppelkontinent mit „The Americas“ bezeichnet. Im spanischen und portugiesischen Sprachraum wird „América“ als ein Kontinent betrachtet.

Die Einwohnerzahl der amerikanischen Staaten beläuft sich auf über 980 Millionen Menschen. Zusammengesetzt sind die Bevölkerungen Amerikas zum Großteil aus Migranten. Kanada, die Vereinigten Staaten, Brasilien, Argentinien und Mexiko sind die größten Einzelstaaten des Kontinents. In diesen befinden sich auch die größten städtischen Ballungsgebiete: New York City, São Paulo und Mexiko-Stadt.

In alphabetisch geordnetem Aufbau – von Argentinien, Bolivien, Brasilien und Chile über Ecuador, Kolumbien und Mexiko bis Kanada und die USA – werden im vorliegenden Staatenlexikon insgesamt fünfunddreißig Staaten thematisiert. Wesentliche Aufgabenstellung war dabei, die Entwicklung der jeweiligen Staaten aus deren Innenperspektive zu analysieren, vor allem, um eine grundlegende Kenntnis der Geographie, Geschichte, Kultur, Politik und Wirtschaft dieser Staaten zu vermitteln. Um eine Vergleichbarkeit zu ermöglichen, folgen die jeweiligen Länderbeiträge einer vorgegebenen, identischen Konzeption: Naturraum und geographische Rahmenbedingungen, geschichtliche Entwicklung bis zur Unabhängigkeit, Bevölkerungsstruktur – speziell ethnische Zusammensetzung –, Wirtschaftsstruktur, aktuelle politische Entwicklung und Literatur. In besonderem Maße wurde auf eine interdisziplinäre Betrachtungs- und Vorgehensweise Wert gelegt, was sich sowohl in der internationalen als auch fachwissenschaftlichen ← 12 | 13 → Zusammensetzung der Autorinnen und Autoren widerspiegelt. Unser Dank gilt ihnen allen für die Erstellung der Beiträge: Ohne ihre effektive und konstruktive Zusammenarbeit wäre dieses Lexikon nicht zustande gekommen.

Zielgruppe des Bandes sind insbesondere Wissenschaftler, Studierende, Dozenten, Journalisten und sonstige Mittler politischer Bildung sowie alle Interessierten, denen das Lexikon wesentliche Hintergrundinformationen zur differenzierten und abgewogenen Darstellung einer der bedeutendsten Regionen der internationalen Politik an die Hand geben möchte. Insofern eignet es sich sowohl als einführende Überblickslektüre als auch als Vertiefung für alle diejenigen, die sich mit der Region Amerika auseinandersetzen. Das Staatenlexikon bemüht sich einerseits um eine einführende Überblicksdarstellung dieser Region, andererseits will es doch präzise genug sein, um auch Fachkreise anzusprechen. Daher wurde von einer Überfrachtung mit Fachterminologie und einem wissenschaftlichen Apparat mit Fußnoten usw. abgesehen.

Die Herausgeber

Prof. Dr. Wolfgang Gieler
Prof. Dr. Markus Porsche-Ludwig

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Christian Cwik und Verena Muth

Antigua und Barbuda

Offizieller Name: Antigua und Barbuda (Antigua and Barbuda)
Staatsform: Parlamentarische Monarchie im Commonwealth
Unabhängigkeit: 1. November 1981 (von Großbritannien)
Nationalfeiertag: 1. November (Unabhängigkeitstag)
Hauptstadt: St. John’s
Lage: zentrale Insel im Nordbereich der Kleinen Antillen (Leeward Islands) mit Barbuda und Redonda
Fläche: 442 km² (Weltrang: 184)
Bevölkerung: 93.500 Einwohner (Weltrang: 182)
Landesstruktur: 6 Bezirke (Parishes), 2 Dependencies (Barbuda und Redonda)
Sprache: Englisch (Amtssprache)
Religionen: vorwiegend christliche Glaubensgemeinschaften, dominierend die anglikanische Kirche
Währung: Ostkaribischer Dollar (XCD)
Wirtschaftszweige: Tourismus, Telekommunikation, IT-Bereich und Offshore-Finanzsektor ← 15 | 16 →
Mitgliedschaften: ACP, ALBA, AOSIS, CARICOM, CDB, CELAC, FAO, G-77, IBRD, ICAO, ICCT, ICRM, IDA, IFAD, IFC, IFRCS, ILO, IMF, IMO, IMSO, INTERPOL, IOC, IOM, ITU, MIGA, OAS, OECS, OPANAL, OPCW, PETROCARIBE, UN, UNCTAD, UNESCO, UPU, WHO, WIPO, WMO, WTO
Wichtigste Medien: Presse: Daily Observer, The Worker’s Voice
  Rundfunk: Antigua and Barbuda Broadcasting Service (ABS), Caribbean Radio Lighthouse

Naturraum und geographische Rahmenbedingungen

Das Staatsgebiet von Antigua und Barbuda (A&B) dehnt sich auf 442, 6 km2 aus und umfasst neben den beiden Hauptinseln auch noch die 1,6 km2 kleine, unbewohnte Felseninsel Redonda sowie 44 andere kleine Inseln (etwa Long Island, Guinea Island und Green Island) sowie mehrere Sandbänke. Im Süden grenzt A&B an Guadeloupe (Frankreich) und Montserrat (UK), im Westen an St. Kitts und Nevis sowie im Norden an Saint-Barthélemy (Frankreich) und Anguilla (UK). Barbuda, die kleinere und weniger dicht besiedelte (161 km2, ca. 1.500 EW, 2016) der beiden Hauptinseln, liegt 48 km nördlich von Antigua (280 km², ca. 92.000 EW). Die größten Städte sind die Hauptstadt St. John’s (24.000 EW, 2008), All Saints (ca. 2.500 EW) sowie Liberta (ca. 1.700 EW). Die Hauptstadt – und gleichzeitig einzige Stadt – Barbudas ist Codrington (ca. 1.400 EW, 2011).

Das Klima ist tropisch und relativ trocken (mittlere Jahresniederschlagsmenge in Barbuda 900–1.100 mm). Die Temperaturen sinken im Mittel auf 22 °C (Winter) und steigen auf 30 °C (Sommer). Von Juli-November besteht die Gefahr von Hurrikanen. Erschwerend für die Besiedelung der Inseln war und ist, dass gesammeltes Regenwasser die einzige Trinkwasserquelle darstellt. Antigua entstand vor 34 Mio. Jahren als Folge des Ausbruchs eines submarinen Vulkans. Dieser ist mit 402 m die höchste Erhebung des Staates und heißt seit 2008 Mount Obama (davor Boggy Peak). Gegen Nordosten breiteten sich Steinkorallen aus, die plateauförmige Kalkformationen hinterließen. Barbuda ist die Oberfläche eines Korallenriffs, das sich an seinem höchsten Punkt 44,5 m aus dem Meer erhebt. Beide Inseln verfügen über zahlreiche Buchten, Strände, Lagunen, Korallenriffe und Sandbänke, was ← 16 | 17 → eine wichtige Voraussetzung für den Tourismus darstellt. Redonda ist der Rest eines 296 m hohen erloschenen Vulkans.

Geschichtliche Entwicklung von vorkolonialer Zeit bis zur Unabhängigkeit

Die ältesten Spuren menschlicher Präsenz in Antigua gehen auf die Zeit um 10.000 v. u. Z. zurück. Eine erste kulturelle Zuordnung gelang für Keramiken aus der Saladoid-Kultur (um ca. 3000–2900 v. u. Z.). Um das Jahr 0 dürften erstmals Arawaks von Südamerika aus nach A&B eingewandert sein, die ab 500 u. Z. beide Inseln flächendeckend besiedelten. Um ca. 1100 begann die Einwanderung von Kariben aus Südamerika. Sie nannten Antigua Wadadli (Land des Fischöls), Barbuda Wa’omoni (Land der Reiher) und kultivierten Tabak, Baumwolle, Süßkartoffel, Mais, Guaven sowie Pfeffer.

1493 entdeckte Kolumbus die beiden Inseln auf seiner zweiten Reise zu den Antillen. Er nannte Wadadli Santa Maria La Antigua. Wa’omoni erhielt ihren spanischen Namen Barbuda (dt.: Insel der Bärtigen) aufgrund der frei herabhängenden Wurzeln der Feigenbäume, die ihre Entdecker an Bärte (von Spanisch barba für Bart) erinnerten. Bis in die 1670er Jahre gelang es keiner europäischen Kolonialmacht, sich auf den Inseln niederzulassen. Sämtliche Versuche scheiterten am Widerstand der nativen Inselbevölkerung und an der Wasserknappheit.

Erst den aus Barbados stammenden englischen Kolonisten Christopher und John Codrington gelang es in den 1670er Jahren, permanente und nachhaltige Siedlungen auf Antigua anzulegen. 1674 wurde die erste Zuckerrohrplantage in Betrieb genommen. Unter der Verwaltung der Codringtons erwirtschaftete die Kolonie gute Profite. Die Briten bezeichneten Antigua als „Gateway to the Caribbean“, da die Insel von Europa aus einfach anzusteuern war. Als Arbeitskräfte für die Zuckerrohr- und Tabakplantagen wurden zunächst meist irische oder englische Vertragsknechte (Verarmte, Kriminelle, Waisenkinder) herangezogen. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts verlagerte man den Schwerpunkt zunehmend auf afrikanische Sklaven. 1685 leasten die Codringtons Barbuda und gründeten die nach ihnen benannte Stadt im Westen der Insel. Sie nutzen Barbuda, um dort Landwirtschaft, Viehzucht und Fischfang hauptsächlich zwecks Versorgung der Sklaven in Antigua zu betreiben und erkannten schon sehr früh ← 17 | 18 → den Wert von Guano als Dünger. 1750 sicherten 150 Sklaven in Barbuda die Ernährung von über 31.000 Sklaven in Antigua. Über die Codringtons begann das Naheverhältnis zwischen Antigua und Barbuda, aus dem letztlich die staatliche Bindung hervorgehen sollte.

1713 betrug die Zahl der afrikanischstämmigen Sklaven auf Antigua bereits 12.500. Ihre Zahl stieg bis Mitte der 1770er Jahre auf 37.500 an, während die der weißen Siedler von 5.000 auf 3.000 abfiel. Proteste gegen die schwierigen Bedingungen führten insbesondere im 18. Jahrhundert auf beiden Inseln zu zahlreichen Aufständen. Im Zuge des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs diente Antigua als temporärer Zufluchtsort für Soldaten beider Kriegsparteien. Einige weiße Pflanzer schmiedeten eigene Unabhängigkeitspläne, was dazu führte, dass London sich gezwungen sah, Kapitän Horatio Nelson 1784 in die Karibik zu entsenden, um dort die Einhaltung der Navigation Acts zu überwachen.

Nach zähen Verhandlungen mit den Sklavenbesitzern wurde die Sklaverei am 1. August 1834 offiziell abgeschafft. Die Eigentümer erhielten rund 50 Prozent des Wertes in Bargeld ersetzt und für die andere Hälfte wurde eine zehnjährige apprenticeship vereinbart.

Während Antigua seit 1670 direkt von London aus verwaltet wurde, befand Barbuda sich bis 1860 im Privatbesitz der Codringtons. Für die afrokaribische Bevölkerung blieb die Situation weiterhin sehr schwierig, was zu Arbeiterprotesten führte, die sich unter dem Einfluss von Arbeitervereinen 1918 in blutigen Unruhen entluden. Dies führte zur Stärkung der Arbeitervereine und förderte sozialistisches Gedankengut. Erst 1938 begann die von London eingesetzte Moyne Commission die Missstände zu untersuchen und empfahl London eine grundlegende Reform des Kolonialsystems. Die Gründung der Antigua Trade and Labour Union (ATLU) 1939 war eine direkte Folge dieser Empfehlungen. Dem ersten Vorstand der ATLU gehörte bereits der spätere Premierminister Vere Cornwall Bird an. Bird wurde 1943 zum Präsidenten der ATLU gewählt. Nach den Wahlen 1946 nahmen die 5 Kandidaten der ATLU alle Sitze im House of Representatives ein. Da im Executive Council noch immer koloniale Mehrheitsverhältnisse herrschten, konnte Bird – er war als Präsident der ATLU Regierungsmitglied – keine Mehrheiten für seine Ideen finden. Dies änderte sich erst mit der Einführung des allgemeinen geheimen Wahlrechts 1951. Aus der ATLU ging 1951 die Antigua Labour Party (ALP) hervor, die bei den Wahlen im selben Jahr ← 18 | 19 → gewinnen konnte. Ab 1956 entwickelte sich in A&B ein Mehrparteiensystem. Bis 1971 gewann die ALP alle Wahlen, ehe sie 1971 an das Progressive Labour Movement (PLM) ihre Mehrheit verlor.

Bird gilt als einer der Gründerväter der West Indies Federation (1958–1962). Bis 1967 regierte er ohne Unterbrechung und zementierte seine Macht ein. Er berief Familienmitglieder in wichtige Regierungsämter, was ihm den Vorwurf des Nepotismus einbrachte. Nach dem Ende der Westindischen Föderation propagierte Bird vehement den Zusammenschluss der Kleinen Antillen. Dies führte 1965 zur Gründung der CARIFTA. 1967 verwandelte London die Kolonie in eine Associated Statehood mit erweiterten autonomen Rechten, die das Land auf die eigene Unabhängigkeit vorbereiten sollte. Nachdem George Walters (PLM) die Kolonie von 1971–1976 regierte, setzte sich bei den Wahlen 1976 wieder Bird durch. Walters wohl wichtigster Verdienst war der Beitritt zur CARICOM 1974. Bird arbeitete nun auf eine rasche „Unabhängigkeit“ vom UK hin. Im Inneren gewährte er Barbuda mit der Etablierung des Barbuda Councils mehr Autonomie. Trotzdem wurde A&B erst 1981 in die Unabhängigkeit entlassen und Elizabeth II. blieb Staatsoberhaupt der konstitutionellen Monarchie im Commonwealth.

Bevölkerungsstruktur

2016 wurde die Zahl der Antiguans (Antiguaner) und Barbudans (Barbudaner) auf 93.581 geschätzt (Bevölkerungsdichte: 211 EW/km²). 2016 wird die Bevölkerungswachstumsrate bei 1,23 Prozent liegen. Die höchste Bevölkerungskonzentration befindet sich in Nord-Antigua. Die 1.634 EW des spärlich besiedelten Barbuda leben praktisch alle in der Inselhauptstadt Codrington. 2014 waren 29,8 Prozent der Bevölkerung urbanisiert. (Zensus 2011, CIA World Factbook, HDR 2015)

Die Müttersterblichkeitsrate lag 2010 bei 81,0 pro 100.000 Lebendgeburten. Rund 46 von 1.000 Frauen bekamen 2014 im Alter von 15–19 Jahren ihr erstes Kind. Die Sterblichkeitsrate von Säuglingen und Kleinkindern unter 5 Jahren betrug 2013 9,3, jene von Kindern 7,7 pro 1.000 Lebendgeburten. 24 Prozent aller EW waren 2015 jünger als 15 Jahre, 7 Prozent älter als 65. Die mittlere Lebenserwartung bei der Geburt lag bei 76,1 Jahren (2014). A&B belegt im HDI Position 58 (Rang 3 innerhalb der karibischen Inselwelt, ← 19 | 20 → Rang 8 im gesamtamerikanischen Vergleich). (National Statistical Office, Caricomstats, UN-Data, Weltbank, HDR 2015)

Die Amtssprache ist Englisch. Als Umgangssprache dienen Antiguan Creole English und Barbudan Creole English, die beide zum Leeward Caribbean Creole English gezählt werden. Spanisch wird von mehr als 10 Prozent der Bevölkerung gesprochen (B. Farquhar). Die Verbreitung fand durch Einwanderer aus der Dominikanischen Republik ab den 1980er Jahren statt.

Gemäß Zensus 2011 waren als solche näher definierte protestantische Glaubensrichtungen mit insgesamt 73 Prozent am stärksten verbreitet (u. a. 17,6 Prozent Anglikaner, 16,3 Prozent Pfingstler und 12,4 Prozent Adventisten), gefolgt von Mitgliedern der römisch-katholischen Kirche (8,2 Prozent) sowie Agnostikern und Atheisten (5,9 Prozent). 5,5 Prozent konnten oder wollten keine Angabe machen. Die verbleibenden 7,3 Prozent entfielen auf Zeugen Jehovas, Rastafaris, Hindus, Muslime, Juden, Mormonen, Bahais sowie auf nicht näher spezifizierte andere Religionen und Kulte. Außerdem existieren illegal praktizierte Kulte, wie das 1904 im sog. Leeward Islands Obeah Act für gesetzeswidrig erklärte Obeah.

In ethnischer Hinsicht sind afrodeszendente („African descendent“) Menschen die mit Abstand größte Bevölkerungsgruppe (87,3 Prozent). An zweiter Stelle rangiert die ethnisch gemischte Bevölkerung (4,7 Prozent). Dabei gaben 0,9 Prozent an, euroafrikanischer Herkunft („Mixed Black/White“) zu sein und 3,8 Prozent nicht näher spezifizierter sonstiger gemischter Herkunft. 2,7 Prozent ordneten sich der Kategorie „Hispanic“ zu, 1,6 Prozent der Kategorie „Caucasian/White“ und 1,1 Prozent bezeichneten sich als Inder. 0,9 Prozent konnten oder wollten keine Angaben zu ihrer ethnischen Herkunft machen. Die übrigen 1,6 Prozent gliederten sich in Syrer und Libanesen, Indigene, Chinesen, sonstige Asiaten, Portugiesen sowie nicht näher spezifizierte sonstige Gruppen. Gemäß UNICEF (2013) betrug der Prozentsatz an registrierten Migranten (v. a. aus Guyana, Dominica und Jamaika) 31,9 Prozent an der Gesamtbevölkerung und ist gegenüber 1990 (rund 20 Prozent der Bevölkerung) deutlich gestiegen. Die Vorfahren der afrodeszendenten Bevölkerung gelangten vorwiegend versklavt im Rahmen des atlantischen Sklavenhandels ab dem letzten Viertel des 17. Jahrhunderts nach Antigua. Ihre Zahl betrug mindestens 120.000 Kinder, Frauen und Männer (Trans-Atlantic Slave Trade Database). Der Großteil stammte aus der Bucht von Bonny (überwiegend Igbo und Moco). Von 1835–1884 ← 20 | 21 → wurden Kontraktarbeiter importiert, unter ihnen ca. 2.600 Portugiesen aus Madeira und etwa 100 Chinesen.

Wirtschaftsstruktur

Schätzungen für 2016 zufolge betrug das BIP 2,17 Mrd. US-Dollar (realer Zuwachs: 2,0 Prozent). Gemessen am BIP pro Kopf von 24.100 US-Dollar steht A&B im weltweiten Vergleich an 79. Stelle. Im Ranking der souveränen amerikanischen Staaten belegt der Inselstaat Stelle 8. A&B zählt zu den Ländern mit der höchsten Staatsverschuldung der westlichen Hemisphäre (512,9 Mio. US-Dollar Auslandsverschuldung 2014). (Caricom Regional Statistics, ECLAC)

2005/06 lebten 18,3 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze und 3,7 Prozent in ernsthafter multidimensionaler Armut. Weitere 10 Prozent wurden als potentiell armutsgefährdet eingestuft. Die Armut ist in Barbuda am geringsten, am stärksten von Armut sind Kinder und Jugendliche betroffen sowie Indo-Antiguaner. 45,4 Prozent der arbeitenden Bevölkerung befanden sich 2005/06 in Beschäftigungsverhältnissen, davon waren 12,6 Prozent in unbezahlten Arbeitsverhältnissen beschäftigt oder selbstständig. 2011 lag die Beschäftigungslosenquote bei 10,2 Prozent. Dabei waren 50,8 Prozent aller Jugendlichen im Alter von 15–19 Jahren sowie 20,3 Prozent im Alter von 20–24 Jahren erwerbslos gemeldet, womit A&B die höchste Jugenderwerbslosigkeit der gesamten Karibik aufweist. (Caricom Regional Statistics, Zensus 2011, Caribbean Development Bank, UNDP)

Die Gesamtwirtschaftleistung in A&B wird durch rund 2,2 Prozent im primären Sektor, 17,8 Prozent im sekundären Sektor sowie 80 Prozent im tertiären Sektor erbracht (Schätzung für 2016, CIA World Factbook). Waren 1983 noch 7 Prozent aller Arbeitskräfte im Agrarsektor beschäftigt, so ist dieser Prozentsatz auf 2,8 Prozent (2012) gesunken. Die Zahl der Arbeitskräfte im Dienstleistungssektor lag 2012 weitgehend unverändert bei 81,6 Prozent (HDR 2015, CIA World Factbook).

Spielte der Agrarsektor im kolonialen Antigua die wichtigste Rolle, so ist er gegenwärtig nur noch von marginaler Bedeutung. Die Agrarwirtschaft war ab dem 17. Jahrhundert hauptsächlich auf die Produktion von Zuckerrohr mittels Sklavenarbeit ausgerichtet (Plantagenökonomie). Die Monokultur hat die Böden ausgelaugt und zur Bodenerosion beigetragen, ← 21 | 22 → womit A&B bis heute zu kämpfen hat. Hinzu gesellen sich Wasserknappheit, regelmäßig auftretende Dürren, Hurrikane und ein Mangel an agrarischen Arbeitskräften. Importabhängigkeit und das damit verbundene hohe Preisniveau sind die Folgen. Bis 2008 konnte die Versorgung der Bevölkerung mit Obst und Gemüse aus Eigenanbau nicht sichergestellt werden. Nach dem rasanten Preisanstieg von Lebensmitteln 2008 sowie dem verheerenden Hurrikan Omar rief die Regierung gemeinsam mit der FAO das National Backyard Gardening Programme ins Leben, an dem nun ca. 2.500 Haushalte teilnehmen. Barbuda war keine Zuckerkolonie, sondern diente der Versorgung der Sklaven in Antigua. Von den 1980er Jahren bis 2012 wurde in Barbuda Sand abgebaut und exportiert. Die Ausbeutung von Redondas Guanovorkommen durch London dauerte von den 1860er bis in die 1910er Jahre. Fischerei kommt nach wie vor eine große Bedeutung für die Selbstversorgung ärmerer Bevölkerungsschichten zu, aber auch als Einnahmequelle. Der Fang wird vorzugsweise nach Guadeloupe und Martinique verkauft, was wiederum zur Knappheit im Binnenmarkt führt. 2011 waren 21 Prozent der arbeitenden Bevölkerung im Fischfang beschäftigt (Official Independence Magazine, Caribbean Regional Fisheries Mechanism Statistics and Information Report for 2012).

Den industriellen Sektor dominieren die mit dem Tourismus einhergehende Bauwirtschaft sowie die Herstellung von Kunsthandwerk, Kleidung, Rum, Möbel, Anstrichmittel und Papier. Für den Export werden zudem elektronische Bauelemente und Haushaltsgeräte produziert. Die 1961 in Betrieb genommene Erdölraffinerie der West Indies Oil Company hat 1982 ihre Produktion eingestellt und dient seither ausschließlich als Tanklager. Seit dem Eintritt in die PETROCARIBE 2005 nutzt der venezolanische Erdölkonzern PDV das Tanklager zur Belieferung der PETROCARIBE-Mitglieder in der Ostkaribik.

Im Dienstleistungssektor nimmt Tourismus einen zentralen Stellenwert ein (knapp 1 Mio. Besucher v. a. auf Kreuzfahrtschiffen jährlich) und wird seit den 1960er Jahren forciert. 2013 trug er 84,1 Prozent direkt zum BIP bei. Diese starke Abhängigkeit macht das Land für Weltmarktkonjunkturen anfällig und geht mit Umweltzerstörung einher. Ferner spielen Finanzdienstleistungen eine wichtige Rolle. Das Land fungiert seit vielen Jahren als Offshore-Finanzplatz. Weitere Wirtschaftsfaktoren sind zwei Universitäten, der internationale Flughafen V. C. Bird sowie die Fluglinie LIAT (Leeward ← 22 | 23 → Islands Air Transport). Eine wichtige Devisenquelle stellen zudem Rücküberweisungen dar (2012 ca. 22 Mio. US-Dollar, 1,8 Prozent des BIPs). (Ministry of Tourism, UNDP, UNICEF)

2015 beliefen sich die Importe auf 465,1 Mio. US-Dollar (-15,7 Prozent). Der Großteil der Waren (v. a. Nahrungsmittel, elektrische und elektronische Geräte sowie Transportmittel) stammte 2016 primär aus den USA (53 Prozent). Dem standen Exporte in Höhe von 26,0 Mio. US-Dollar (+12,8 Prozent) gegenüber, womit die Handelsbilanz stark defizitär war. 2014 waren die wichtigsten Exportpartner UK (53 Prozent aller Exporte), mit großem Abstand gefolgt von den USA (16 Prozent) und Spanien (13 Prozent). Im Ranking nach einzelnen Exportwaren kamen 2016 Sportbooten sowie Planen, Sonnenblenden und Segeln die größte Bedeutung zu. (UN Comtrade Database, Caricom Regional Statistics, MIT Harvard Observatory of Economic Complexity)

Aktuelle politische Entwicklung

Bereits während der Unabhängigkeitsverhandlungen war A&B am 18. Juni 1981 der OECS beigetreten und nur zehn Tage nach der Unabhängigkeit der UNO. A&B unterstützte als OECS-Mitglied im Oktober 1983 die militärische Intervention in Grenada. Der rechtspopulistische Kurs Birds wurde bei den Wahlen 1984 von der Bevölkerung goutiert und die ALP gewann erstmals in ihrer Geschichte alle 17 Parlamentssitze. Bird führte den Staat wie ein Familienunternehmen und bekleidete auch das Amt des Außen- und Verteidigungsministers (1981–1982) sowie des Finanzministers (1982–1984 und 1991). Trotz aller berechtigter Kritik veränderte er die beiden Inseln insbesondere im sekundären Bildungssektor nachhaltig, wo er freien Zugang gewährte und für die Errichtung zusätzlicher Schulen sorgte. Weiters wurden Elektrifizierung, Hotelbauprojekte, der Ausbau eines Tiefwasserhafens und der Bau eines internationalen Flughafens vorangetrieben, wodurch sich Antigua zu einem beliebten Reiseziel in der Karibik entwickeln konnte.

Details

Seiten
554
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631770191
ISBN (ePUB)
9783631770207
ISBN (MOBI)
9783631770214
ISBN (Hardcover)
9783631770177
DOI
10.3726/b14759
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Januar)
Schlagworte
Staatenwelt Nordamerika Mittelamerika Südamerika
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018. 553 S., 35 farb. Abb., 35 s/w Abb., 1 Tab., 2 farb. Karten

Biographische Angaben

Wolfgang Gieler (Band-Herausgeber:in) Markus Porsche-Ludwig (Band-Herausgeber:in)

Wolfgang Gieler, Politikwissenschaftler und Ethnologe, Professor am Fachbereich für Angewandte Sozialwissenschaften der Fachhochschule Dortmund. Mehrjährige Erfahrung im Bereich deutscher und internationaler Entwicklungszusammenarbeit, außen- und entwicklungspolitische Beratertätigkeit. Markus Porsche-Ludwig, Politikwissenschaftler und Jurist, Professor im Department of Public Administration und im International Master Program for Asia-Pacific Area Studies der National Dong Hwa Universität in Hualien, Republik China (Taiwan).

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