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Etienne Thourneyser Basilea Genevensis

Archäologie eines Autors

von Gisela Luginbühl-Weber (Autor:in) Simon Lauer (Band-Herausgeber:in)
©2019 Andere 508 Seiten

Zusammenfassung

Der Schweizer Gelehrte Etienne Thourneyser (1715–1763) ist heute weitgehend unbekannt, obwohl sein Werk maßgeblichen Einfluss auf seine Zeitgenossen ausübte, darunter vor allem die Aufklärer Moses Mendelssohn, Johann Bernhard Basedow, Johann Kaspar Lavater und Gotthold Ephraim Lessing.
Thourneysers Publikation über die psychologische Notwendigkeit menschlichen Handelns mit dem Titel «Lettre d’un philosophe. Dans laquelle on prouve que l’athéisme et le déréglement des moeurs ne sauroient s’établir dans le système de la nécessité» (1752) wurde von Moses Mendelssohn noch 1783 als unübertroffen in der Debatte um Freiheit und Notwendigkeit bezeichnet.
Gisela Luginbühl-Weber widmet sich dem Schweizer Autoren mit dem Ziel, sein bahnbrechendes und zu Unrecht in Vergessenheit geratenes Werk zu dokumentieren.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • Zur Verfasserin: Gisela Luginbühl-Weber, 1935–2011
  • Etienne Thourneyser Basilea Genevensis. Archäologie eines Autors
  • Briefe von und an Etienne Thourneyser / Inhalt
  • Zeitgenössische Kommentare zu Thourneyser und zur Publikation Essai de psychologie / Inhalt
  • Zwei Beiträge Etienne Thourneysers zu Le Nouveau Magasin François
  • November 1750
  • Dezember 1750
  • Etienne Thourneysers gedruckte Werke
  • Theses Logicæ de Inductione. / Logische Thesen über die Induktion.
  • Lettre d’un philosophe, dans laquelle on prouve que l’atheisme et le dereglement des moeurs ne sauroient s’établir dans le systeme de la nécessité
  • Neue Untersuchung des Satzes: Ob die Gottesleugnung und die verkehrten Sitten aus dem System der Fatalität herkommen?
  • Sendschreiben von A. F. Reinhard an Johann Ernst Freyherrn von Hardenberg
  • Rezensionen der Übersetzung von Thourneysers „Lettre d’un philosophe“ (Neue Untersuchung …/Sendschreiben)
  • Zwei Nachrufe auf Thourneysers Lehrer Gabriel Cramer
  • Etienne Thourneyser, Lebensdaten und Werke
  • Abkürzungen
  • Bibliographie
  • Namensregister

Einleitung

Im Briefwechsel zwischen Johann Caspar Lavater und Charles Bonnet, den Gisela Luginbühl-Weber herausgegeben und kommentiert hat,1 geht es auch um ein Ereignis, das die Zeitgenossen weitherum über Jahre hinweg und wieder in unserer Zeit beschäftigt hat: Lavaters Widmung seiner Übersetzung eines Teils von Bonnets „Palingénésie philosophique“ an Moses Mendelssohn. Mit Lavater liess sich dieser auf eine freundliche und sachliche Korrespondenz ein; nicht so mit Bonnet. Ein Jahrzehnt später, 1783, leitete Mendelssohn seine Abhandlung über Freiheit und Notwendigkeit mit einem Hinweis auf Thourneyser ein, den er einen „Freund und, wo ich nicht irre, Lehrer Bonnets“ nannte. Nach zwanzig Jahren wusste niemand mehr, was es mit diesem Thourneyser auf sich hatte.

Bei der Vorbereitung eines Seminars über Lessing fand Professor Karl Pestalozzi, Frau Luginbühls Doktorvater, Lessings Rezension eines Werkes von Thourneyser und verwies Frau Luginbühl darauf. Nun konnte die Suche nach diesem beginnen; sie hat geradezu einen philosophisch-historischen Kriminalroman gezeitigt, dessen Held als Mathematiker und Philosoph, aber auch als Schweizer, in die grosse Auseinandersetzung um Leibniz geriet und ein Opfer wissenschaftlicher Machtpolitik wurde. Die Wiederentdeckung seines Hauptwerks, der „Lettre d’un philosophe“, einer kleinen Zahl nie gedruckter Briefe, und die Spuren eines weiteren, seiner Zeit offenbar bekannten Werkes lassen die Persönlichkeit des Autors erkennen, dem diese Monographie gewidmet ist: Etienne Thourneyser, 1715 in Genf geboren, 1763 in London gestorben.

Die eingehende Darstellung der Familien, aus denen Thourneyser väterlicher- und mütterlicherseits stammte, führt auch zur Erörterung des weiteren wissenschaftlichen Feldes, worin er aufgewachsen ist. Nicht weniger bedeutend sind auch seine Lehrer, später seine wissenschaftlichen Weggefährten. Die schwierigen Umstände, unter denen Thourneyser in London unter der Herrschaft des Hauses Hannover lebte, erfordern Einblicke in die Geschichte Englands zu jener Zeit und lenken den Blick auch auf Göttingen: Albrecht von Haller gehörte zu Thourneysers Korrespondenten. Ein enger Weggefährte war der Berner Samuel Kœnig, von den Gnädigen Herren seiner Stadt ins niederländische Exil getrieben. Mit ihm zusammen ist Thourneyser in die Wirren des Berliner Akademiestreits von 1751 bis ← 7 | 8 1573 geraten. Dieser Streit, vom Präsidenten der Akademie mit aller Macht geführt, endete mit einer Niederlage der Leibnizianer wie Kœnig und Thourneyser, freilich auch mit einer bedeutenden Schwächung des Präsidenten Maupertuis und der Akademie überhaupt. Die unmittelbaren Folgen gingen über das Persönliche hinaus: Zeitschriften verloren ihre Abonnenten und gingen ein, Autoren kamen um ihr Ansehen – so offenbar auch Thourneyser, der Maupertuis offen angegriffen hatte.

Ein Geheimnis umwittert einen „Essai de psychologie“, als dessen Verfasser Thourneyser weitherum galt; er wurde aber von Thourneysers fünf Jahre jüngerem Genfer Nachbarn Charles Bonnet anonym veröffentlicht und daraufhin von manchen diesem zugeschrieben. Bonnet, zunächst als Entomologe und Botaniker, später auch als calvinistischer Denker berühmt geworden, hat zwar seine Autorschaft stets mit brillanten Formulierungen bestritten, ohne den wahren Verfasser zu nennen, das Werk aber in die Ausgabe seiner Gesammelten Werke aufgenommen. Das Motto der vorliegenden Monographie ist Mendelssohns deutliches Echo auf diese dunkle Geschichte.

Thourneysers philosophiegeschichtliche Bedeutung beruht vor allem auf seinem Werk „Lettre d’un philosophe, dans laquelle on prouve que l’athéisme et le dérèglement des mœurs ne sauroient s’établir dans le système de la nécessité“. Darin geht Thourneyser über Leibniz hinaus, indem er zeigt, dass Gott die „beste aller Welten“ hat schaffen müssen: In der Sprache des Infinitesimalkalküls: Gott kann nur das Maximum schaffen, nichts weniger. Ein weiteres kommt hinzu: Ein Jahrhundertbuch war des lutherischen Theologen J. J. Spalding „Bestimmung des Menschen“. Thourneyser nun verlegt die Bestimmung in den Menschen selbst und prägt – wohl als erster – den Begriff der „Selbstbestimmung“ („autodétermination“). Zwanzig Jahre nach Thourneyser Hinschied diskutierten die Berliner Aufklärer über das – immer noch aktuelle – Thema „Freiheit und Notwendigkeit“; es ist Moses Mendelssohns Verdienst, an Thourneyser erinnert zu haben.

Zürich, im Juni 2016 Simon Lauer

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1       Gisela Luginbühl-Weber, Johann Kaspar Lavater – Charles Bonnet – Jacob Bennelle Briefe 1768–1790. Ein Forschungsbeitrag zur Aufklärung in der Schweiz. Peter Lang: Bern 1997, 2 Bde., 819 S.

Zur Verfasserin: Gisela Luginbühl-Weber, 1935–2011

Gisela Luginbühl-Weber wurde 1935 in Heidenau (Sachsen) geboren. Der Vater stammte aus Freiburg i. Br., die Mutter aus Thale am Harz; geheiratet hatte das Paar in Magdeburg: Die Arbeitslosigkeit während der Weltwirtschaftskrise hat manche Teile der Bevölkerung zur Mobilität gezwungen. Für das Mädchen Gisela begann bald ein Wanderleben in mehr als einer Hinsicht: Frühe Scheidung der Eltern, Einziehung des Stiefvaters zur Wehrmacht und Ermordung des Vaters, Schutzraumleben im bombardierten Berlin, das die Mutter mit den nun zwei Töchtern immer wieder verliess, Kinder-Land-Verschickung nach Ostpreussen (die später berufsbestimmend werden sollte), schliesslich die Niederlassung in Lage (Lippe). Hier fand Gisela endlich den Raum, in dem sie sich immer am wohlsten fühlte: die Schule. In der Freiligrath-Schule wurde sie denn auch gefördert, und zwar von guten Deutschlehrern und einer hervorragenden Englisch- und Französischlehrerin. Dank der amerikanischen Brethrens’ Church konnte sie ein Jahr an einer amerikanischen High School verbringen, das auch in menschlicher Hinsicht bedeutsam wurde.

Neunzehnjährig heiratete sie den Sohn eines Gutsbesitzers aus der Waadt, den sie in Amerika kennen gelernt hatte, und trug fortan in für die Fremde nicht gerade einfacher Umgebung die Verantwortung für einen Bauernhof mit.

Als dann auch ein drittes ihrer Kinder an Mucoviscidose erkrankte, entschloss sich Gisela Luginbühl dazu, zusätzlich zu ihrer grossen Arbeit die Maturität auf dem zweiten Bildungsweg zu erwerben. Daraus ergab sich gewissermassen natürlich das Studium an der Basler Universität, das sie mit dem Gymnasiallehrer-Diplom für Deutsch, Französisch und Englisch vorläufig abschloss. Es folgte noch das Doktorat, summa cum laude, aufgrund der kommentierten Edition des Briefwechsels zwischen dem reformierten Zürcher Pfarrer Johann Caspar Lavater und dem calvinistischen Genfer Naturforscher Charles Bonnet; die Dissertation ist ein Werk von achthundert Seiten.

Es versteht sich, dass eine solche Biographie einen sensiblen Menschen – nicht ohne Schmerzen – in vielerlei Weise prägt: Land und Leute Deutschlands – von Baden bis Ostpreussen, von Dresden bis Lage; von der Atlantikküste zum Genfersee; drei Sprachwelten; verschiedene Glaubensweisen – von der lutherischen Mutter über den evangelisch-freikirchlichen Vater und die amerikanisch-evangelischen Pflegeeltern zur reformierten Schweiz; ein Studium der Literatur. Mit alledem aber war ein Leben zu führen, das ein gerüttelt Mass an Forderungen der ← 9 | 10 unterschiedlichsten Art stellte; nicht zuletzt die Frage der Theodizee für eine Frau, die vier von ihren sechs Kindern hat begraben müssen.

Gisela Luginbühl-Webers Lebensdaten sollten die Nachgeborenen auch fragen lassen, wie die Umstände der Zeit auf sie eingewirkt haben. Die Mutter hat sich nach ihrer Scheidung und Wiederheirat völlig dem Regime ergeben. Aber der Onkel par alliance, Mitbegründer der Heilsarmee in Freiburg i. Br., wurde schon ab 1938 ein Opfer der psychiatrischen Kriegführung. Der Vater, zu einer Propagandakompanie eingezogen, verschwieg nicht, was er an Greueln sah, wurde inhaftiert und „auf der Flucht erschossen“. Der Stiefvater äusserte im Fronturlaub zunehmend seine tiefe Enttäuschung über das Regime; er ist knapp vor Kriegsende gefallen. Eine Szene jedoch, lange vergessen, ist im Moment einer persönlichen Krise über Frau Luginbühl mächtig hereingebrochen und hat manches in ihrem weiteren Leben mitbestimmt: Ihre Mutter hatte auf einer Strasse in Berlin ein kleines Mädchen mit gelbem Stern vom Bürgersteig gestossen, sodass es die Milch, die es trug, verschüttete. Was die Mutter dazu gebracht hat, wurde erst viel später klar; aber der Eindruck ist geblieben.

Die Wiederentdeckung Etienne Thourneysers, des totgeschwiegenen Philosophen und aufrechten Mannes in schwierigsten Verhältnissen, war Gisela Luginbühl-Weber nicht nur eine packende wissenschaftliche Aufgabe, sondern auch ein Herzensanliegen. Ihre letzten Jahre standen im Schatten von fortschreitenden gesundheitlichen Problemen. Sie hat ihnen getrotzt.

Gisela Luginbühl-Weber war eine selbstbewusste, dem Feminismus zugeneigte Frau, die auch anecken konnte.

Als Forscherin war sie von einem starken wissenschaftlichen Drang zur umfassenden Darstellung und Würdigung ihres Gegenstandes beseelt; höchste Genauigkeit in jeder Einzelheit galt ihr als selbstverständlich.

Bei alledem, und ihrer eigenen Schicksale völlig ungeachtet, begegnete sie jedem Menschen offen und mit warmem Herzen, edelsten Gemütes.

Dr. Gisela Luginbühl-Weber, ist am 16. November 2011 nach längerer, fortschreitender Krankheit verstorben. Bei ihrem Hinschied lag das Werk fast vollständig vor. Zuvor übernommene aufwendige Verpflichtungen, der Umzug von Freiburg i. Br. nach Zürich und schwindende Kräfte haben den Abschluss zu meinem grossen Leidwesen stark verzögert.

Es liegt in der Natur der Sache, dass bei einer wegen der schwierigen Quellenlage so aufwendigen „archäologischen“ Recherche gar manche Einzelheit ungeklärt bleibt. Das war der Verfasserin sehr wohl bewusst; sie hat auch auf die Lücken hingewiesen. Allein, es war ihr physisch nicht mehr möglich, diese zu füllen. Das gilt ← 10 | 11 → auch für den älteren Herausgeber. Die entsprechenden Anmerkungen im Haupttext zu belassen, hätte die Lesbarkeit beeinträchtigt.

Den vielen Archiven und Bibliotheken (sie sind im Folgenden aufgelistet) gebührt grosser Dank für ihre unerlässliche Hilfe.

Ohne Professor Pestalozzis oben erwähnten Hinweis hätte die vorliegende Monographie gar nicht entstehen können. Ihm gebührt also der erste und grösste Dank.

Besondere Dankbarkeit verdient Frau Kerstin Raule in Freiburg i. Br. Sie hat Frau Luginbühl nicht nur über die Tücken des Computers hinweggeholfen, vielmehr sie auch mit grosser Empathie in allen anderen Schwierigkeiten begleitet.

Ein persönliches Wort sei mir gestattet, der ich Gisela Luginbühl-Webers Arbeit lange Jahre habe begleiten dürfen. Nicht nur ein hohes wissenschaftliches Ethos hat die Verfasserin beseelt, sondern auch grosse menschliche Anteilnahme. Ihre Darstellung von Werk und Leben eines Mannes, dem es meistens schlecht gegangen ist, und den seit gut zweihundert Jahren niemand mehr gekannt hat, zeugt auch davon.

Simon Lauer, Zürich

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„ein Freund, und wo ich nicht irre, Lehrer Bonnets“
(Moses Mendelssohn)
1

Etienne Thourneyser Basilea Genevensis Archäologie eines Autors

Wer Lessings Rezensionen in der Berlinischen Privilegirten Zeitung2 liest, mag im 39. Stück vom 31. März 1753 auf den Titel einer Übersetzung aus dem Französischen aufmerksam werden und auf den Namen eines Autors, den es in keiner deutschsprachigen Bibliographie gibt: Neue Untersuchung des Satzes, ob die Gottesleugnung und die verkehrten Sitten aus dem System der Fatalität herkommen?3 Als ← 13 | 14 Verfasser dieses Sendschreibens „über die Fatalität“, wie Johann Caspar Lavater4 das allen Zeugnissen zufolge bahnbrechende Werk über Freiheit und Notwendigkeit nannte, wird Thourneyser angegeben.

Wer ist dieser Autor, dem Lessing bestätigte, „neue Gedanken […] vorgetragen und eine nicht geringe Stärke in der Weltweisheit und Größenlehre gezeigt“5 zu haben, den Mendelssohn einen „Freund und Lehrer Bonnets“6 nannte, in dem Lavater und andere den Verfasser des 1754 anonym erschienenen Essai de Psychologie7 vermuteten, und den zu verschweigen sich der größere Teil der europäischen Gelehrten verschworen zu haben schien?

Denn das Schweigen um Thourneyser ist auffällig. Sein Name fehlt, soweit ersichtlich, vor allem in allen mir zugänglichen Korrespondenzen der Genfer und Basler, die mit ihm studiert hatten oder mit ihm verwandt waren; er fehlt in allen epistolaren Ermutigungen zum Druck entstehender oder entstandener Werke aus der Genfer Schule des 18. Jahrhunderts, zu der auch Thourneyser gehörte, als Schüler von Professoren, die die Genfer Akademie im Zeitalter der Aufklärung berühmt gemacht hatten. Zu nennen ist hier der Naturrechtler und Rechtsphilosoph Jean-Jacques Burlamaqui (1694–1748),8 zu dessen Schülern sich auch der Genfer Jurist ← 14 | 15 und Naturphilosoph Charles Bonnet (1720–1793)9 und dessen Freund und Studienkollege, der Genfer Naturrechtler Etienne Beaumont (1718–1759)10 zählen, ← 15 | 16 von denen im Zusammenhang mit drei anonymen Publikationen zwischen 1750 und 1754 aus der Genfer Schule noch zu sprechen sein wird, nämlich über Thourneysers Lettre, den anonymen Essai de Psychologie und die anonymen, Etienne Beaumont zugeschriebenen, Principes de Philosophie Morale, die irrtümlicherweise, wie es heißt, in einer Sammlung von Diderots Werken Aufnahme fanden.11 Wichtige Lehrer Thourneysers und der beiden erwähnten, etwas jüngeren Genfer ist ein Zwillingsgestirn: die beiden Mathematik- und Philosophieprofessoren Gabriel ← 16 | 17 Cramer (1704–1752)12 und Jean-Louis Calandrini (1703–1758)13, die sich den 1724 an der Genfer Akademie für sie geschaffenen Lehrstuhl für Mathematik teilten, ebenso der durch seine Kontroversen mit Rousseau und d’Alembert, sowie als Herausgeber des Esprit des Lois14 bekannt gewordene Literatur- und Theologieprofessor Jacob Vernet (1698–1789),15 und vor allem sein Vorgänger, der Aufklärungstheologe und Kirchenhistoriker Jean-Alphonse Turrettini (1671–1737), ← 17 | 18 der dem jungen Thourneyser besonders gewogen war.16 Sie alle starben – mit einer Ausnahme – zu früh für ihren begabten Schüler, nämlich vor oder kurz nach dem Erscheinen seines bahnbrechenden Sendschreibens über Freiheit und Notwendigkeit.17 Davon wird noch zu sprechen sein. Nach ihrem Tod scheint es, als habe es Thourneyser, diesen in Genf geborenen und aufgewachsenen Sohn einer Genferin aus bester Familie und eines Baslers, Pfarrer an der deutsch-reformierten Gemeinde in Genf, nie gegeben, ebensowenig wie seine bereits als deutsche Übersetzung erwähnte erste beachtliche Publikation über Freiheit und Notwendigkeit, die zwischen 1750 und 1752 zwei französische Auflagen und eine deutsche ← 18 | 19 Übersetzung erlebte. Der Titel des französischen Originals lautet: Lettre d’un philosophe. Dans laquelle on prouve que l’athéisme et le déréglement des mœurs ne sauroient s’établir dans le système de la nécessité. Dieses Werk ist besonders von einem nie erwähnt worden, der daraus die Grundgedanken für seine späteren metaphysischen und philosophischen Schriften entnahm: Charles Bonnet (1720–1793).18 Daß er Thourneyser verschwieg, ist Tatsache. Warum er ihn verschwieg, ist nicht mit Bestimmtheit zu sagen. Es können nur Hypothesen angeboten werden, die weiterer Nachforschungen bedürfen. Zweck dieser Untersuchung ist eine erste Spurensicherung zu einem Werk, das bahnbrechend war und zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist, und zu einem Autor, der, wenn nicht in deutschsprachigen Bibliographien, so doch in deutschsprachigen Texten des 18. Jahrhunderts immer wieder auftaucht (französischerseits ist das Verhältnis umgekehrt) und über den man heute nichts mehr weiß. ← 19 | 20

Zur Biographie des Autors: archivalische Funde

ETIENNE THOURNEYSER wurde am 26. Oktober 1715 in Genf geboren;19 er starb zwei Monate nach seinem siebenundvierzigsten Geburtstag in Paddington (London), und wurde dort am 15. Januar 1763 begraben.20 Er war das erste Kind und einziger Sohn des Baslers Johann Rudolf Thurneisen (1671–1745),21 Pfarrer der deutsch-reformierten22 Gemeinde in Genf von 1704 bis 1745, und der ← 20 | 21 Jeanne-Marie Colladon (* Genf 10. Mai 1677, † Genf 12. März 1764),23 Tochter des Etienne Colladon (1643–1722) und der Elisabeth, geb. Goudet. Er wurde am 3. November 1715 in der Genfer Magdalenenkirche24 getauft,25 am Fuß der Festungsmauer, im Schatten der Kathedrale von St. Peter, und erhielt den Vornamen seines Großvaters mütterlicherseits, Etienne, französisches Äquivalent für Stephan. Von den beiden nachfolgenden Töchtern des Ehepaares Thurneysen-Colladon starb die jüngere früh: Anne-Madeleine (1718–1720). Die ältere der beiden, Jeanne-Susanne, kam am 7. Februar 1717 zur Welt. Sie heiratete am 28. September 1755 den Genfer Bürger Isaac Félix (1707–1767), Mitglied des CC, und starb am 6. Oktober 1798. Eine Tochter des Ehepaares Félix-Thourneyser, Marie-Madeleine Félix (25.5.1757 – 1831), heiratete am 20. April 1777 François-Louis Bontemps (31.7.1751 – 25.11.1820). Das Paar hatte zwei Söhne. Einer davon starb jung; der andere, Auguste-Henri-Robert, geboren am 14. Juli 1781 in Crassier, ging 1818 studienhalber nach Bayern und lebte nachweisbar 1823 in München.26

Etienne Thourneyser heiratete als Sechsundvierzigjähriger die sechzehn Jahre jüngere Engländerin Jane Robinson aus Westminster (Middlesex), die sich während seiner jahrelangen, mit völliger Arbeitsunfähigkeit verbundenen depressiven Zustände um ihn gekümmert hatte. Seit ungefähr 1757 war er mit ihr verlobt.27 Die Heiratslizenz wurde am 9. August 1761 von der bischöflichen Registratur in London ausgestellt; die Trauung fand am Wohnort der Braut statt, und zwar in St. James’s, Westminster (Middlesex). Thourneyser wohnte zur Zeit seiner Vermählung in Paddington (Middlesex),28 das noch 1896 als „einer der schönsten Stadtteile ← 21 | 22 Londons, im Norden des Hydeparks“, galt.29 Mitte September 1761 setzte er den englischen Clerk of the crown in chancery,30 Sir John Yorke (gest. 1769), von seiner Eheschließung in Kenntnis. 31 Daß dessen Glückwünsche, aus welchen Gründen auch immer, ausblieben, war vermutlich nicht dazu angetan, Thourneysers Start in die neue Verantwortung zu erleichtern, wie aus seinem Brief vom 28. November an den ihm wohlgesinnten Lordkanzler und Juristen Sir Charles Yorke (1722–1770), einen Bruder John Yorkes, klar hervorgeht: Der Frischvermählte quälte sich mit Vorwürfen, Sir John Yorke nicht zuvor von seinen Heiratsplänen in Kenntnis gesetzt zu haben. Dieses läßt vermuten, daß Thourneyser möglicherweise gewisse Arbeiten für den Clerk of the crown in chancery tätigte und wirtschaftliche Sanktionen fürchtete zu einer Zeit, wo er mehr denn je auf ein gesichertes Einkommen angewiesen war. Die Geburt seiner Tochter Sarah32 erlebte Etienne Thourneyser nicht mehr, ebensowenig deren Taufe am 11. Juli 1763 in St. James’s, Paddington, seiner Kirchgemeinde, wo er selbst am 15. Januar des gleichen Jahres begraben worden war. Im Kirchenbuch steht der Vermerk: “July 11. 1763 Baptized Sarah the Daughter of Stephen & Jane Thourneyser born June. the father Dead.”33 Die so früh verwitwete Jane Thourneyser-Robinson heiratete fast zehn Jahre später, am 26. Juli 1772, in zweiter Ehe Spencer Benham,34 zu dem bisher zusätzliche Angaben fehlen. Die weiteren Lebensumstände Sarah Thourneysers sind nicht bekannt. ← 22 | 23

Thourneysers Vorfahren und Verwandte:

1. Die Familie Thurneisen von Basel

Die Thurneysen gehören zu einer weitverzweigten, seit dem 15. Jahrhundert in Basel ansässigen Familie, aus der verschiedene Gelehrte und Buchdrucker hervorgingen. Zahlreicher vertreten in der direkten Linie waren jedoch zunftträchtige Handwerker: Bäcker, Rotgerber, Strumpfweber und -wirker, Posamentierer. Als Stammvater der Familie gilt Ulrich Thurneysen oder Tornyser (gest. 1487), verheiratet mit Anna Ströwli (gest. 1519), Hufschmied im Haus „zur Gans“, der 1461 das Basler Bürgerrecht erwarb und in die Schmiedenzunft aufgenommen wurde.

Etienne Thourneysers Vater, Pfarrer Johann Rudolf Thurneisen, hatte sieben Geschwister: vier Brüder und drei Schwestern; er war das 4. Kind des Bäckermeisters Johann Rudolf Thurneisen (1634–1683) und der Esther Koch (1641–1719). Als einziger seiner Linie scheint er studiert zu haben. Die anderen setzten die Handwerkertradition fort, waren in politischen Belangen mitspracheberechtigte Zunftleute; einige entschieden als Ratsherren über die politischen und ökonomischen Geschicke der Stadt Basel, so Etienne Thourneysers Onkel Hans Jakob Thurneisen (1678–1713) und sein Großvater, Johann Rudolf Thurneisen (1634–1683), der nach einer heftigen politischen Debatte in der Weberzunft bei einem Treppensturz tödlich verunglückte.35

Etienne Thourneysers Vater schloß am 2. August 1694 das Studium mit einer theologischen Disputation über 2Kor. 3, 15 unter Peter Werenfels ab: De velamine Judaeorum cordibus impendente, cum legitur Moses. Er galt ab dieser Zeit als sacri ministerii candidatus, mußte sich aber zehn Jahre gedulden, bis er zu Amt und Würden kam, insgesamt fast zwanzig Jahre, bis er damit eine Familie ernähren konnte.36 Nach Studienabschluß ging er zuerst als Feldprediger nach Frankreich (1696), geriet bei Lüttich in Gefangenschaft; in der Folge war er als Feldprediger in Holland tätig. 1704 wurde er zum Pfarrer der deutsch-reformierten37 Gemeinde in Genf gewählt, ein Amt, das er bis zu seinem Tod 1745 ausübte. Im Jahr 1713 ← 23 | 24 bewarb er sich um ein Pfarramt in Läufelfingen bei Basel;38 wahrscheinlich trug er sich bereits mit Heiratsabsichten, die er am 21. Mai 1713 verwirklichen konnte. 39 Er blieb in Genf, als man ihm die Besoldung auf 1000 Pfund erhöhte. Unmittelbar vor seiner Einheirat in eine angesehene, seit dem 16. Jahrhundert in Genf eingebürgerte, ursprünglich aus dem Berry (Frankreich) stammende ratsfähige Familie der Stadt Genf wurde ihm das Genfer Bürgerrecht geschenkt.40 Dieses Verfahren war eher ungewöhnlich: damals wie heute mußten dafür zum Teil beträchtliche Summen entrichtet werden. Vermutlich hatte Pfarrer Thurneisen diese Auszeichnung wie auch die Verbesserung seiner finanziellen Lage nicht nur eigenem Verdienst, sondern ebenso der angesehenen Herkunft seiner Frau zu verdanken. In einem Genfer Stadtplan aus dem Jahr 1726 wird er als « proprietaire » des Hauses Nr. 40, Parzelle Nr. 41–42 aufgeführt: « Maison à Monsieur Rodolphe Torneisin Ministre de l’Eglise Allemande ».41 Der Plan zeigt ein stattliches Doppelgebäude, ein – wie der Augenschein ergab – noch heute imposantes Eckhaus, das inzwischen mehrere bauliche Veränderungen erfahren haben dürfte; gegen Osten begrenzt durch die Rue de la Pelisserie, die in steilem Anstieg zur Genfer Altstadt führt, gegen Norden, die See- und Bisenseite, durch die Rue de la Rôtisserie, heute eine belebte Geschäftsstraße. In diesem Haus wurde Etienne Thourneyser geboren. Von da aus, die Rue de la Rôtisserie und am Fuß der hohen Festungsmauern entlang, sind es nur wenige Meter bis zur Magdalenenkirche (Eglise de la Madeleine), wo sein Vater, Johann Rudolf Thurneisen, einundvierzig Jahre lang als Pfarrer der deutschen Gemeinde Genfs amtierte. Am 3. November 1715 wurde Etienne Thourneyser dort getauft.

Wenige Schritte vom Kirchenportal entfernt zweigt eine kurze Gasse ab, die Rue de la Madeleine. In sanfter Neigung führt sie zu einem anderen imposanten Eckhaus, das im Winkel zur tiefergelegenen Rue Neuve de la Poissonnerie 78, heute Rue du Marché Nr. 40 liegt. Dieses Eckhaus ist das Geburtshaus des fünf Jahre jüngeren Charles Bonnet.42 Ein geschichtsträchtiger – familiengeschichtsträchtiger – äußerst ← 24 | 25 eng gezogener Radius, innerhalb dessen sich zwei Kindheiten und gemeinsame Studienjahre und -ziele entfalteten, wo in der etwas höher gelegenen Place du Perron43 erste vielversprechende Veröffentlichungen der beiden Protagonisten gedruckt wurden, bis zum unbegreiflichen Abbruch aller Beziehungen, selbst der namentlichen Erwähnung des fünf Jahre Älteren durch den Jüngeren.

Wie groß war der Besitzanteil Pfarrer Thurneysens am stattlichen Eckhaus Rue de la Pelisserie/ Rue de la Rôtisserie? Die Bezeichnung ‚Eigentümer‘ sagt nichts aus über die Größe des Besitzes. Stockwerkeigentum war in Genf bereits im 18. Jahrhundert legalisiert; auch Familienvorstände (Frauen galten nie als solche, selbst wenn sie es waren) aus bescheideneren Verhältnissen konnten ein bis zwei Zimmer, mit oder ohne Keller, erwerben. Einzige Einschränkung: sie mußten Genfer sein und in der Stadt wohnen. Ausgenommen von diesen Vorschriften waren Militärs in fremden Diensten, sowie Bank- und Kaufleute, deren geringe Anzahl aber nicht ins Gewicht fiel. Der Basler Johann Rudolf Thurneisen war durch den Erwerb des Genfer Bürgerrechts und als in Genf amtierender und ansässiger Pfarrer berechtigt, Eigentum zu erwerben. Ob es sich dabei um Frauengut handelte, oder ob er es kaufte, ist nicht bekannt. Immerhin durfte er sich, selbst wenn er nur Stockwerkeigentümer gewesen wäre, zu jenen 29,55 % privilegierter Einwohner der Stadt Genf zählen, denen 1726 die bewohnten Räume gehörten. Die Mehrzahl der 4 608 Haushaltungen – bei ca. 20 000 Einwohnern – lebte schon damals in Mietwohnungen.44

2. Die Genfer Familie Colladon.

Durch seine Mutter, Jeanne-Marie Colladon (1677–1764), war Etienne Thourneyser verwandt mit namhaften Genfer Persönlichkeiten. Dazu gehören der durch seine Publikationen über Süßwasserpolypen bekannte, auch mit dem Genfer Naturphilosophen Charles Bonnet (1720–1793) befreundete und verwandte Naturforscher Abraham Trembley (1710–1784)45 wie auch dessen Bruder, der Theologe Jacques ← 25 | 26 André Trembley (1714–1763), Nachfolger Gabriel Cramers auf dem Lehrstuhl der Philosophie und Mathematik an der Genfer Akademie46, sowie Abraham Trembleys Sohn, der Mathematiker, Naturforscher und Bonnetbiograph Jean Trembley (1749–1811); ebenso die Theologin und Chiliastin Marie Huber (Genf 1695 – Lyon 1753), Verfasserin vielbeachteter Schriften gegen die Ewigkeit der Höllenstrafen47, deren Einfluß auf Thourneysers und Rousseaus Gottesvorstellungen unverkennbar ← 26 | 27 ist. Marie Huber war ihrerseits verwandt mit dem in Basel geborenen und in Worcester gestorbenen Mathematiker, Naturforscher, Mystiker und Alchimisten Nicolas Fatio de Duillier (1664–1753),48 den Thourneyser nicht nur gekannt haben ← 27 | 28 wird, sondern mit dem er möglicherweise während der gemeinsam in England verbrachten Jahre mindestens zeitweise zusammen arbeitete und experimentierte. In dem Fall bestünde eventuell ein Zusammenhang zwischen Fatios chemischen Experimenten, Fatios Tod, Thourneysers jahrelanger Depression und der zwölfjährigen Bewußtlosigkeit eines anderen in London lebenden Genfers, des Theologen, Schriftstellers und Journalisten Pierre Clément (1707–1767)49. Clement war möglicherweise jener schwer zu eruierende Adressat von Thourneysers „Brief über die Fatalität“, sofern „N.E.“ als Inversion für „Etienne Nommé“ gelesen werden kann. In dem Fall gälte die Inversion auch für den Adressaten: mit „C. P.“ wäre also der aus dem Register der Genfer Vénérable Compagnie des Pasteurs wegen Insubordination gestrichene Genfer Schriftsteller und Journalist Pierre Clément gemeint. ← 28 | 29

Studienzeit in Genf und Basel. Verknüpfungen mit der europäischen Gelehrtenwelt Eine Spurensuche

Seine Studien absolvierte der zweisprachig aufgewachsene Thourneyser in Basel und Genf. Mit zwölf Jahren ist er in Basel immatrikuliert als humaniorum litterarum studiosus;50 seinem späteren Lehrer und Förderer zufolge, dem Genfer Mathematik- und Philosophieprofessor Gabriel Cramer (1704–1752), Mitbegründer der Leibnizschen Determinanten-Theorie,51 war Thourneyser Schüler des Basler Naturrechtlers und Mathematikers Niklaus I Bernoulli (1687–1759).52 Dieser gilt in der ← 29 | 30 Basler Universitätsgeschichte53 als „eine der bedeutendsten Gestalten der juristischen Fakultät Basels“. Vom 8. April 1722 bis zum 27. Mai 1731, also während der Zeit, in die erwiesenermaßen der Basler Studienaufenthalt des jungen Thourneyser fiel, hielt Niklaus I Bernoulli Vorlesungen über Logik. 54 Der damals zwölfjährige Etienne Thourneyser war vermutlich unter seinen Hörern. Jedenfalls darf hier Gabriel Cramer, der Thourneyser als Schüler Niklaus I Bernoullis bezeichnete, als Gewährsmann gelten.

Denkbar ist, daß sogar er es war, in dessen Begleitung der junge Thourneyser 1727 von seiner Geburtsstadt Genf aus in seine Vaterstadt Basel zog. Denn Gabriel Cramer hatte im gleichen Jahr seine zweijährige Bildungsreise durch Europa begonnen, zu der ihn die Doppelbesetzung des Genfer Lehrstuhls für Mathematik berechtigte, in den er sich seit der Gründung im Jahr 1724 mit seinem fast gleichaltrigen, und wie es heißt, gleichbegabten Kollegen Jean-Louis Calandrini (1703–1758)55 teilte. Bezeugt ist, daß Cramer Genf im Mai 1727 verließ;56 sein erster, fünfmonatiger Aufenthalt galt Basel und dem berühmten Mathematiker Johann I Bernoulli (1667–1748), dessen Werke er 1742 herausgeben wird, in Zusammenarbeit mit dessen Neffen, dem bereits erwähnten Lehrer Thourneysers: Niklaus I Bernoulli. Demnach blieb Cramer von Mai bis Oktober 1727 in der Stadt am Rheinknie. Er soll zum kleinen Kreis jener Privilegierten gehört haben, die Johann I Bernoulli – zu jener Zeit Dekan der philosophischen Fakultät57 – zuvorkommend bei sich zu Hause aufnahm.58 Am 27. Juni des gleichen Jahres wurde Etienne Thourneyser in Basel immatrikuliert. Für wie lange, ist aus den Rektoratsmatrikeln nicht ersichtlich. Ob auch er im Haus des illustren Basler Mathematikers lebte, konnte nicht nachgewiesen werden. Wahrscheinlicher ist, daß er Unterkunft bei einem seiner zahlreichen Basler Verwandten fand. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß ← 30 | 31 er bis zu Cramers Abreise in dessen Obhut blieb und mit ihm zusammen wohnte. Cramer würde sich wahrscheinlich nicht gescheut haben, für seinen jungen Schützling um Gastrecht bei den Bernoullis zu bitten, wie er es zehn Jahre später, am 16. April 1737, für den zweiten seiner hervorragenden Schüler tat, für Jean Jallabert (1712–1768).59 Da aber wohnte Niklaus I Bernoulli nicht mehr im gleichen Haus, in dem er – nach eigenen Worten – die Ehre gehabt hatte, Cramer zu umarmen,60 sondern im Nachbarhaus, Ecke Imbergasse.61 Sollte das nicht als Hinweis dienen dürfen, bei aller gebotenen Vorsicht, daß im Sommer 1727 sowohl Gabriel Cramer, als auch Etienne Thourneyser bei dem Mathematiker und Naturrechtler Niklaus I Bernoulli, dem Neffen des großen Bernoulli,62 Aufnahme fanden, um den jungen Genfer so ausgiebig wie möglich mit den aktuellsten Problemen der Mathematik vertraut werden zu lassen, statt mit denen des Handwerkerstandes, zu dem seine nächsten Angehörigen von der Thurneisenseite zu rechnen sind? Das hieße: Gabriel Cramer und Etienne Thourneyser wohnten 1727 zusammen mit Johann I und ← 31 | 32 Niklaus I Bernoulli in der „Alten Treu“,63 jenem hohen Basler Altstadthaus – heute Nadelberg 15/17 – mit Aussicht über die Dächer der Stadt bis hin zu Münster, Tüllinger Hügel und der den Blicken von hier aus verborgenen Alten Universität (der ältesten der Schweiz) hoch über dem Rhein – gegenüber dem „Engelhof“ (Nadelberg 6), einem weiteren ehemaligen Bernoullisitz, heute Sitz des Deutschen und Slawischen Seminars der Universität Basel. In diesem Haus wird der Zwölfjährige den Gesprächen zwischen Cramer und den Bernoullis zugehört haben, über Wahrscheinlichkeitsrechnung, Integral und Differential, über den Kalkül nach Newton und Leibniz und Probleme der Induktion, die er 1733, als knapp Achtzehnjähriger, in seiner Genfer Dissertation Theses Logicae De Inductione elegant darstellen und lösen wird.

Beinahe hätten die beiden Genfer – der zwölfjährige Etienne Thourneyser und der dreiundzwanzigjährige Gabriel Cramer, bei den Bernoullis zwei weitere, zu der Zeit noch nicht sehr bekannte Gelehrte getroffen, die in der Folge großen Einfluß auf Thourneysers Karriere haben sollten: den Berner Dichter, Arzt und Naturforscher Albrecht Haller (1708–1777),64 wie auch den aus St. Malo gebürtigen französischen Mathematiker, Forschungsreisenden und späteren Präsidenten der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Pierre Louis Moreau de Maupertuis (1698–1759). 65 Zu dieser Zeit, während sich Cramer und Thourneyser in Basel mit ← 32 | 33 Mathematik und Astronomie66 beschäftigten, befanden sich Haller und Maupertuis auf Studienreise durch England. 67 Ob sie einander dort begegneten, ist nicht ersichtlich. Immerhin war Haller erst knapp zwanzig Jahre alt, wenn auch bereits Dr. med. der Universität Leiden; seine dichterischen und naturwissenschaftlichen Schriften waren noch im Entstehen; noch nichts war gedruckt, mit Ausnahme der soeben erschienenen Dissertation Experimenta & dubia de ductu salivali Coschwiziano (Leiden 1727).68 Auch Maupertuis stand zu dieser Zeit noch am Anfang seiner Karriere. Zwar war er seit 1723 « adjoint géometre », also korrespondierendes Mitglied der Pariser Akademie der Wissenschaften, zwei Jahre später auch « associé astronome » (ordentliches Mitglied), aber der eigentliche Durchbruch sollte ihm erst in den Dreißigerjahren gelingen, dank seiner Allianz mit Voltaire, dessen Interesse an Newtons Mathematik und Lockes Sensualismus er teilte, und dank Friedrich II, der ihn 1746 als Präsident an die Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres nach Berlin holen wird.

Auch Voltaire, durch vielfältige briefliche und persönliche Beziehungen mit den Bernoullis in Basel verbunden, war zu gleicher Zeit wie Haller und Maupertuis in London. Er war dort bereits im Mai 1726 eingetroffen und hatte eine Zeitlang bei Shaftesbury gewohnt, auf dessen Anraten er Englisch lernte, um die Werke John Lockes im Original lesen zu können. 69 Voltaire sollte – wie Maupertuis und Haller – in den frühen Fünfzigerjahren des 18. Jahrhunderts eine nicht unerhebliche Rolle spielen, die Thourneysers Karriere wo nicht direkt, so doch indirekt zum Scheitern gebracht haben mag – auf jeden Fall von Haller und Voltaire unbeabsichtigt.70 ← 33 | 34

Haller und Maupertuis trafen nacheinander in Basel ein: Haller 1728 und Maupertuis 1729. Kurz zuvor, nämlich Ende 1728,71 waren sich Maupertuis und Cramer, der inzwischen auch England und Holland bereist hatte, in Paris begegnet. Es ist zu vermuten, daß Cramer zehn Jahre später Thourneyser dem französischen Polforscher, Mathematiker und Philosophen Maupertius weiterempfohlen hat, als der junge Genfer nach Studienabschluß seinerseits die Bildungstour über Paris nach London unternahm. Davon wird im Zusammenhang mit dem Berliner Akademiestreit noch zu sprechen sein.

Details

Seiten
508
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783034332651
ISBN (ePUB)
9783034332668
ISBN (MOBI)
9783034332675
ISBN (Hardcover)
9783034332644
DOI
10.3726/b15576
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (April)
Schlagworte
Aufklärung Freiheit und Notwendigkeit Charles Bonnet Schweizer Aufklärung Gotthold Ephraim Lessing Moses Mendelssohn
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2019. 508 S.

Biographische Angaben

Gisela Luginbühl-Weber (Autor:in) Simon Lauer (Band-Herausgeber:in)

Gisela Luginbühl-Weber (1935–2011) studierte an der Universität Basel. Thema ihrer Promotion war der Briefwechsel zwischen dem reformierten Zürcher Pfarrer Johann Caspar Lavater und dem calvinistischen Genfer Naturforscher Charles Bonnet. Diesem schliesst sich die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Leben und Werk Etienne Thourneysers an.

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Titel: Etienne Thourneyser Basilea Genevensis
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