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Unheimliche Heimaträume

Repräsentationen von Heimat in der deutschsprachigen Literatur seit 1918

von Carme Bescansa (Band-Herausgeber:in) Mario Saalbach (Band-Herausgeber:in) Iraide Talavera (Band-Herausgeber:in) Garbine Iztueta (Band-Herausgeber:in)
©2020 Sammelband 256 Seiten

Zusammenfassung

Das Unheimliche (oder auch das Verdrängte, nach Freud) fördert eine tiefere Einsicht in die uns umgebende Realität und somit eine Reflexion, die der herrschenden Akzeleration des Alltags, der Oberflächlichkeit, dem Narzissmus und Hedonismus unserer Gesellschaft entgegenwirkt. Das Unheimliche bietet eine Chance, um Denk- und Handlungsmuster, die unser Selbst und unsere Realität gestalten (Heimat) zu überdenken und darauf zu reagieren.
Ziel dieses Bandes ist die Erweiterung des Heimatkonzeptes um das Unheimliche mit dem Anspruch, Heimat zu einem nützlichen Rahmen für die Gestaltung offener Lebens- und Kommunikationsformen zu instrumentalisieren und dem Missbrauch des Begriffs als Grundpfeiler identitärer Denkströmungen gegenzusteuern.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Unheimliche Heimaträume. Über die Aktualität und die Notwendigkeit beider Konzepte in Interaktion (Carme Bescansa, Mario Saalbach, Iraide Talavera, Garbiñe Iztueta)
  • Heimat und Unheimliches im Werk Franz Kafkas (Thomas Anz)
  • Heimat und das Unheimliche im 21. Jahrhundert (Peter Blickle)
  • Die Aktualität des Unheimlichen im gegenwärtigen Heimatdiskurs (K. Rögglas Nachtsendung) (Carme Bescansa)
  • Deutschland, unheimliche Heimat. Heimatkonstruktion und Heimatgefühl in Günter Grass’ Novelle Im Krebsgang (Mario Saalbach)
  • Clemens Meyer und das Unheimliche als Nachwendebild: „Literatur muss weh tun, sonst ist es nichts wert“ (Garbiñe Iztueta)
  • Erinnerung als Entfremdung. Das Unheimliche des Raumes am Beispiel des Erinnerungsortes Gdańsk/Danzig bei Stefan Chwin (Karolina Sidowska)
  • Heimatsuche in einer unheimlichen Sprache in den Werken von Freddy Derwahl und Leo Wintgens (Lesley Penné)
  • Unheimlichkeit und Mimesis in Die Ursache von Thomas Bernhard (Natalia Villamizar)
  • Unheimliche Heimat – Überlegungen zur Tauglichkeit einer Denkfigur am Beispiel literaturwissenschaftlicher Arbeiten über W. G. Sebalds Schwindel. Gefühle. (Claudia Albes)
  • „Es ist natürlich nirgendwo so schön wie in der Heimat“. Die Heimatkonstruktionen in Der Revisor oder das Sündenbuch von Lukas Linder (Monika Wąsik)
  • Was bleibt, sind Bilder. Unheimliche Heimatlosigkeit und -sehnsucht in Christa Wolfs Sommerstück (Withold Bonner)
  • Gespräche mit einem verwesenden Fuchs und anderes Befremdliches in Lutz Seilers Lyrik und Prosa (Sabine Egger)
  • Unheimliche Heimatliebe und Heimatverlust bei Siegfried Lenz. Zum Versuch einer ethischen Standortbestimmung in der Erzählung Schwierige Trauer und im Roman Heimatmuseum (Grazia Berger)
  • Heimatlich unheimlich. Das Un-heimatliche in Siegfried Lenz’ Roman Heimatmuseum (Yuko Nishio)
  • Wenn die Vergangenheit die Gegenwart bedroht und die Heimat unheimlich wird: Mirjam Pressler in Die Zeit der schlafenden Hunde (2003) (Iraide Talavera)
  • Migrationsprozesse und unheimliche Heimat bei Olga Grjasnowa und Julya Rabinowich (Montserrat Bascoy Lamelas)
  • Estrangement and Basque homeland: emotional instigators vs. ancestral voices in Jon Juaristi’s writings (Ana Gandara Sorarrain)
  • Wrestling with the motherland in Ramon Saizarbitoria’s Martutene (Izaro Arroita Azkarate)
  • Reihenübersicht

Unheimliche Heimaträume. Über die Aktualität und die Notwendigkeit beider Konzepte in Interaktion

Carme Bescansa, Mario Saalbach, Iraide Talavera, Garbiñe Iztueta1

Kaum schlagen wir eine Zeitung auf oder öffnen eine Nachrichtenseite im Internet – prompt springt uns die Aktualität des Unheimlichen sprichwörtlich ins Gesicht, nämlich durch die Präsenz von Destabilisierungs- bzw. Bedrohungselementen in der von uns so empfundenen Umgebung des Vertrauten – Heimat. Unruhe stiften etwa weltweite Migrationen von Menschen, Daten und Kapital, Terroranschläge, zunehmende Asymmetrien der Besitzverteilung sowie die damit einhergehende Verunsicherung bzw. Dynamisierung der materiellen und psychologischen Definitionslinien zwischen dem Eigenen und dem Fremden (nach herkömmlicher, wenn auch unpassender Bezeichnung). Interessanterweise stellt aber dieses Empfinden der Brüchigkeit des vertrauten Alltags und der bevorstehenden Katastrophe eigentlich kein neues Phänomen dar, wenn man an historische Erfahrungen zurückdenkt. Und doch erscheint das Ausmaß des Unheimlichen in unserem Heimatverständnis heute gewichtiger als je zuvor.

In diesem Zusammenhang fällt ebenfalls die Wucht auf, mit der Emotionen unser (heutiges) Weltbild und unsere Wahrnehmung bestimmen. Ganz konkret Angst und Wut erscheinen hier als Grundlage öffentlicher Stellungnahmen nicht nur von Politikern, sondern auch von Intellektuellen, die die Meinung der Gesellschaft grundlegend mitprägen.2 Diese Emotionen bilden den Wahrnehmungs- und entsprechend auch den Handlungsrahmen auf politischer und sozialer Ebene und erweisen sich als fruchtbarer Nährboden für die Verbreitung extremistischer und rassistischer Ideologien. Gerade aus der ←7 | 8→Literaturszene aber kommt auch eine aktive Reaktion gegen diese zerstörerische Dynamik.3

Offensichtlich besteht die Gefahr, Heimat im Rahmen „totalisierende[r]; Denkmuster“ zu verstehen (Strzelczyk 1999: 22), die im deutschsprachigen Kulturraum bestimmend waren oder auch wieder sind, indem man eben Heimat „als universale Form von Zugehörigkeit, die Herkunft, Sesshaftigkeit und Homogenität“ (Strzelczyk 1999: 21), naturalisiert. Eine solche Dynamik der Homogenisierung wird mittels der Verdrängung alternativer Existenz- oder Handlungsmodelle durchgeführt: „Diese Ideologisierung der Normalität und der Natürlichkeit von Heimat beruht auf einem Denkkonstrukt des westlich abendländischen Denkens, das die binäre Logik einer Wurzel-Baum-Struktur als Erklärungsmodell bevorzugt, wobei Territorialität und homogene Ganzheitlichkeit gegenüber Mobilität und Vielfalt hierarchisiert werden“ (Strzelczyk 1999: 21). Das Stichwort der Verdrängung also, um nochmals das für Freuds Studie des Unheimlichen so wichtige Konzept zu verwenden (Freud 1982: 267), und genauer die Verdrängung der Andersartigkeit, Heterogenität und Beweglichkeit im traditionellen Heimatkonstrukt, ist für das Verständnis der Unheimlichkeit der Heimat ausschlaggebend. Es tut Not, diese unheimliche Seite der Heimatbilder, wie sie in literarischen Texten entworfen werden, kritisch zu überprüfen, denn Literatur bietet die für die Reflexion erforderliche Distanz und zugleich die Möglichkeit des Mitempfindens, die beide zur differenzierten Untersuchung und zum empathischen Nachvollzug dieses Komplexes unheimlicher Heimaträume unentbehrlich sind.

Die Definition des Konzepts von Heimat beschäftigt unsere Forschungsgruppe seit Jahren und bestimmte thematisch zwei Tagungsbände (Bescansa/Nagelschmidt 2014, Iztueta/Saalbach/Talavera/Bescansa/Standke 2017), denen nun dieser dritte folgt, neben weiteren einzelnen Publikationen. Die genaue Eingrenzung des Konzeptes stellt seit langem eine Herausforderung für die Wissenschaft dar (vgl. Bausinger 1984: 11; Gebhard/ Geisler/ Schröter 2007: 9, u. v. a.). Das liegt unseres Erachtens daran, dass Heimat, sofern als Variante der Identifikationsprozesse verstanden, d. h. als der (imaginäre, ←8 | 9→sich wandelnde und immer öfter in der Mehrzahl zu verstehende) Raum, in dem eine Person oder ein Kollektiv sich selbst erkennt und reflektiert, sich wie Menschen und Gesellschaften in ständiger und in sich beschleunigender Veränderung befindet. Die Faktoren, die in seiner (Um-)Gestaltung mitwirken, ändern sich ebenfalls historisch und geografisch und ändern auch ihre jeweilige Gewichtung.

Mit dem Aufkommen idealistischer und bürgerlich-subjektivierender Konzeptionen tritt ab dem 18. Jahrhundert die bisherige materielle Komponente des Heimatbegriffes als Hof und Besitz immer mehr in den Hintergrund (Gebhard/Geisler/Schröter 2007: 14). Somit entwickelt er sich zum (verinnerlichten) Raum des Vertrauten, des Geborgenen, der nicht unbedingt geografisch zu verorten ist. Der Heimat wird im Rahmen zunehmender nationalistischer und antiglobalistischer Impulse im Verlauf des 19. und des 20. Jahrhunderts als Gegenpol das Fremde bzw. das Entfremdende (seien es Modernisierungs- und Technifizierungspraktiken, seien es Ausländer bzw. Flüchtlinge) gegenübergestellt. Seitdem ist das traditionelle Heimatkonzept in dieser Binarität gefangen.

Eine neue Phase der Heimatdebatte begann zu Zeiten der Wiedervereinigung um 1990 im Zuge der neu entstandenen individuellen und kollektiven Identifikationsbedürfnisse (Eichmanns/Francke 2013: 2). Zunächst einmal bahnte sich im Einklang mit der Auflösung der politischen Blöcke eine Vervielfältigung und Öffnung der Heimat- und der Selbstdefinitionsmodelle an, wo die Vorsilben Post- und Trans- an die Stelle binärer Denkkonstrukte traten. Doch die darauffolgenden Jahre der finanziellen Schwierigkeiten und der sich intensivierenden Migrationsbewegungen bewirkten in breiten Teilen der abendländischen Bevölkerungen eine große Verunsicherung. Die (empfundene) Bedrohung des eigenen Wohlbefindens führte zu einer zunehmenden Polarisierung und Pauschalisierung in diesen Identifikationsdiskursen zurück, die bis heute mit dem Aufschwung nationalistischer und rechtsradikaler Impulse europa- und weltweit auf sozialpolitischer und auf ökonomischer Ebene anhalten bzw. sich noch intensivieren.

Im akademischen Bereich bleibt das Heimatkonzept in den letzten Jahrzehnten einem komplexen und multiperspektivischen Verständnis verhaftet, im Kontrast zur erwähnten Entwicklung in der Gesellschaft und in den Medien. Heimat wird nicht als physisch-territorial, sondern vielmehr als imaginär, vielschichtig, nomadisch (Blickle 2012: 44) und, sowohl historisch kollektiv (Boa/Palfreyman 2000) als auch individuell (Morley 1990 u.v.a.), als dynamisch, also im Werden oder als Suchbewegung (Bauer/Gremler/Penke 2014: 14) verstanden. Der Konstruktcharakter von Heimat steht im Einklang mit dem Verständnis von Raum im Spatial Turn, der als diskursives Ergebnis sozialer und kultureller Praktiken betrachtet wird (vgl. Eigler 2012). Die Interaktion von Raum und Gedächtnis (Eigler/Kugele 2012) sowie Gender (Ecker 1997, Blickle 2004, Kanne 2011) und Emotion (Lehnert 2014, Iztueta/Saalbach/←9 | 10→Talavera/Bescansa/Standke 2017) unter anderen Parametern bestimmen Heimatkonstruktionen grundlegend.

Wie in jeder neuen Studie über Heimat ist die Frage zu stellen, ob diese Kategorie überhaupt noch taugt für die Reflexion über Identifikationsmodelle von Personen und Gesellschaften bzw. ob sie in ihrer Variation als die immer neu aufkommende, unheimliche und dunkle Seite dieser Modelle, die von Angst und Bedrohungsgefühlen gesteuert wird, endgültig abgeschafft werden sollte. Als Antwort darauf soll zunächst einmal das emanzipatorische Potential des Heimatkonzeptes hervorgehoben werden. Etwa bei Blickle findet sich ein nützlicher Ansatz dafür, wenn er in Anlehnung an die Definition der Freiheit von Hegel (bey sich selbst sein) diese Idee der ontologischen Sicherheit, die Blickle bei Giddens bzw. bei dessen Kommentator Cassell wiedererkennt, auf das Heimatkonzept überträgt (Blickle 2004: 77). In Cassells Worten wird diese Grundbefindlichkeit der menschlichen Natur als “a psychological state that is equivalent to feeling ‘at home’ with oneself in the world” beschrieben (zit. ebda.). Heimat steht demzufolge mit Freiheit und Sicherheit in Korrelation. So dürfen die zwei letztgenannten nicht mehr wie herkömmlich als Gegensatzpaar (man sollte für die eine den Verlust der anderen in Kauf nehmen), sondern in einem auszugleichenden Verhältnis im Individuum selbst verortet, also ontologisch und nicht raumgebunden betrachtet werden. Die Aufhebung der Polarität Freiheit versus Sicherheit steht in Verbindung mit einer weiteren, schon bekannten: Das Eigene und das Fremde sind untrennbare Bestandteile der menschlichen Identität und somit der Heimat.4 Die Betrachtung der Konzepte Sicherheit und Freiheit sowie Eigenes und Fremdes innerhalb der Heimat ist im Fließen und im Hybriden vielmehr als in Polaritäten produktiv, und ist Ergebnis der menschlichen Kompetenz, sich immer wieder neu zu verbinden und zu orientieren – sich immer wieder neu zu konstruieren. In diesem Sinne bleibt Heimat eine wichtige Kategorie für die Hinterfragung von Identifikationsprozessen sowohl individueller als auch kollektiver Art.

Die Herausforderung liegt also in einer Erweiterung – um das Unheimliche – des Heimatkonzeptes mit dem Anspruch, Heimat zu einem nützlichen Rahmen für die Reflexion und Gestaltung sozialer Lebens- und Kommunikationsformen zu instrumentalisieren, sodass der Begriff nicht (bzw. nicht mehr und nicht wieder) als Grundpfeiler identitärer Denkströmungen missbraucht wird. Identität wie auch Heimat sind Konzepte, die sich seit der Aufklärung ←10 | 11→als wichtige Motoren der menschlichen Selbstwahrnehmung und dementsprechend der gesellschaftlichen Veränderung erwiesen haben.

Zentraler Gedanke dieses Bandes ist die Feststellung, dass das Unheimliche integraler Bestandteil des Heim(at)lichen ist. Das Unheimliche entsteht nach Freud aus dem Unterdrückten und Verdrängten, das auch zum Heim(at)lichen gehört und unerwartet wieder ans Tageslicht kommt (Freud 1982). Das Unheimliche ist also, nochmals, eine fundamentale Komponente jeden Heimatkonstrukts, die es hier zu analysieren gilt, mit dem Ziel, seine unterschiedlichen Facetten und Funktionen zu erhellen. Festzuhalten ist, dass das Unheimliche ein dynamisierendes Element darstellt, das gegen die Erstarrung eines hegemonialen homogenen Heimatverständnisses wirkt, d. h. gegen die Naturalisierung eines binomischen Raumkonstrukts des Eigenen gegenüber dem Fremden. Denn was als eigen und als fremd wahrgenommen wird, bleibt dank dem Unheimlichen in Bewegung und somit in ständiger Revision.

Die Mehrdimensionalität des Heimatkonstrukts und der ihm inhärente Dynamismus werden in dem Hin- und Hergleiten zwischen Zeiten (und Generationen) und auch im (sich ständig verändernden, vervielfachenden, vielschichtigen, oft imaginären oder erinnerten, emotionsgesteuerten) Raum literarisch sichtbar. In den unterschiedlichen Artikeln dieses Bandes werden sie darüber hinaus um weitere Aspekte ergänzt oder nuanciert, womit der komplexe und fluide Konstruktcharakter der Heimat noch entschiedener vor Augen geführt wird. Gerade diese Vielschichtigkeit und Fluidität der Heimaträume begünstigt das Einbrechen des Unheimlichen.

Das Unheimliche bildet den Garanten für eine tiefere Einsicht in die uns umgebende Realität und in unser Selbst und somit für eine Reflexion, die der herrschenden Akzeleration des Alltags, der Oberflächlichkeit, dem Narzissmus und Hedonismus unserer Gesellschaft entgegenwirkt. Das Unheimliche kann also eine Chance darstellen, um Denk- und Handlungsmuster, die unser Selbst und unsere Realität gestalten (Heimat) zu überdenken und darauf zu reagieren. Denn, wie der Meister des Unheimlichen sagte (und in diesem Band auch von Thomas Anz zitiert wird), darin besteht nun mal der Sinn der Literatur: „Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“.5

Vorstellung der Artikel

Der Band eröffnet mit dem Artikel von Thomas Anz über den großen Referenten in Sachen Unheimliche Heimaträume, Franz Kafka, der geradezu die ←11 | 12→literarische Folie für die psychologischen Ausführungen seines Zeitgenossen Sigmund Freud zu liefern scheint. Anz unterstreicht, dass die Heimat-Metaphorik in Kafkas Werk „einen gewichtigen, bislang weithin verkannten Stellenwert“ hat. Sie weist eine klare Verwandtschaft mit den Modernisierungsprozessen und den damit verbundenen kulturellen und geistigen Erscheinungen auf, die von Orientierungslosigkeit, Isolation, Angst usw. geprägt sind. Wie andere Dichter der Avantgarde steht der Prager Autor zu seiner Außenseiterposition, zum Antibürgerlichen, das mit Heimatlosigkeit gleichgesetzt wird. Thematisiert werden die „psychischen Modernisierungsschäden, die im 20. Jahrhundert immer wieder als Erfahrungen einer fremd werdenden, versachlichten, kalten, undurchschaubaren und unheimlichen Lebenswelt beschrieben wurden“. Anz erkennt, dass – ähnlich wie bei Freud – bei Kafka und anderen Autoren der literarischen Moderne der Umgang mit Heimat und Heimatlosigkeit dadurch geprägt ist, dass „bipolare Orientierungsmuster unterlaufen werden“. Die Präsenz des Unheimlichen gerade auch im familiären, häuslichen Bereich und in vertrauter Umgebung, aber auch des Heimatlichen in der Fremde sei, so Anz, für Kafkas Werk kennzeichnend. Und wie in Freuds weiteren Überlegungen und Beispielen sei gerade auch die Auflösung von vertrauten Entgegensetzungen selbst unheimlich.

Obwohl das Werk des Prager Autors der Avantgarde des 20. Jahrhunderts zuzuordnen ist, weist es ganz konkret in Bezug auf das zentrale Thema dieses Bandes eine derart verblüffende Aktualität auf, dass wir Lesende unvermeidbar ins 21. Jahrhundert katapultiert werden. Um diese verbindende Linie bis in die Gegenwart sichtbar zu machen, folgt an zweiter Stelle Peter Blickles Artikel, der sich zum Ziel setzt, die Relevanz des Binoms von Heimat und Unheimlichem im 21. Jahrhundert zu untersuchen und konkret an der baskischen Autorin Dolores Redondo zu veranschaulichen. Blickle schreibt über „Metaphern von Identitäten und Emotionen“, die je nach Nutzung und Kontext beim Empfänger Gefühlsreaktionen auslösen. Emotionale Metaphern, wie etwa „Heimat“, haben demnach ihre Bezugsebenen in einer subjektiven, emotionalen Reaktion. Im Unheimlichen drücken sich nun Momente aus, in denen die Sicherheit einer oder mehrerer dieser metaphorischen Verankerungsmöglichkeiten in Gefahr gesehen – also in Gefahr empfunden – wird. Das Unheimliche stehe also in Verbindung mit Angst vor einem Verlust. Festzuhalten gilt, so Blickle, dass „Heimat und unheimliche Heimat […] Teil einer räumlich metaphorisierten Bespiegelungsmöglichkeit [sind], in der wir aus dem Subjekt heraus – in Repräsentationen von Heimat, auch von unheimlichen Heimaten – Ängste und Vorurteile besser erkennen – und vielleicht auch verstehen – können“.

Auch im dritten Artikel sind die theoretische Bestimmung sowie die heutige Relevanz der zwei zentralen Konzepte dieses Bandes Gegenstand der Untersuchung. Carme Bescansa vertritt darin die These, dass eine Aktualisierung des Unheimlichen mit der des Heimatkonzeptes einhergeht. Unheimlich bedeutet ←12 | 13→in diesem Sinne das Anschaulich- und das Bewusst-Machen der Komplexität und Fluidität, die unser Welt- und Selbstbild kennzeichnen. Es gilt, angesichts der heutigen Homogenisierungstendenzen die Präsenz des Unheimlichen zu garantieren. Parallel dazu plädiert die Autorin für einen Heimatbegriff, der das unbequeme Angsterregende, Schaurige und Negative wieder einschließt, natürlich auf Kosten der (u. a. moralischen) Geborgenheit und Stabilität, die das traditionelle Heimatkonzept geboten hat. Zur Veranschaulichung dieser theoretischen Position wird Kathrin Rögglas Erzählband Nachtsendung (2016) besprochen. Röggla gestaltet in ihren Texten performative Heimaträume, in denen das Unheimliche als Protagonist fungiert. So erscheinen der Heimatbegriff in ständiger Revision und das Unheimliche als Garant dafür, dass diese Reflexion nie als abgeschlossen gilt.

An vierter Stelle wird eine Annäherung an den Themenkomplex Heimat und Unheimliches aus der diachronischen Perspektive mehrerer Generationen unternommen. Mario Saalbach nimmt sich das Ringen um neue Heimatkonstruktionen in der Novelle Im Krebsgang (2002) von Günter Grass vor, welche die literarische Aufarbeitung der Vertriebenenproblematik als Folge von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg eingeläutet hat. Die drei Hauptfiguren des Textes stehen deutlich für die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die gesellschaftliche Entwicklung relevanten drei Generationen. Alle drei versuchen sich neue, identitätsstiftende Heimaträume anzueignen, die ihnen Orientierung und Halt bieten, wobei für die jeweilige Heimatkonstruktion die Rolle der Generation mit den entsprechenden historischen und individuellen Erfahrungen und Belastungen entscheidend wird. Die erstrebten und ersehnten Heimatkonstruktionen scheitern jedoch in dem Sinne, dass die neuen Räume keine Geborgenheit und kein Wohlgefühl gewähren. Saalbach überträgt sehr treffend dieses Panorama auf das heutige Deutschland, das von vielen als „unheimliche Heimat“ empfunden wird. Unheimlich in doppeltem Sinne, denn einerseits werden im Zeichen des konkurrenzlosen Kapitalismus die Ansprüche ethischer und humaner Bedürfnisse nicht gebührend berücksichtigt und andererseits werden heutzutage infolge rechtsextremer Bewegungen bedrohliche Bilder und Parolen der Vergangenheit wieder wach, die an die schlimmsten Zeiten der deutschen Geschichte erinnern.

Auf die diachronische Behandlung des großen Schriftstellers folgt nun der synchronische Blick auf die unmittelbare Gegenwart aus der Feder der jüngsten Generation. Garbiñe Iztueta setzt sich mit Clemens Meyers Romanwerk – Als wir träumten (2006) und Im Stein (2013) – auseinander, welches die Leipziger Unterwelt der späten DDR und der Wende thematisiert. Meyers Heimatentwurf des Dystopischen entspricht vollkommen der freudianischen Konstellation des Unheimlichen, so Iztueta. Meyers Augenmerk gilt nämlich der dunklen und unsichtbaren Seite Leipzigs und der deutschen Nachwendegesellschaft, in der das schreckhafte Aufkommen bzw. die Wiederkehr des ←13 | 14→Verdrängten in den Mittelpunkt rückt. Sein Literaturverständnis geht von der Überzeugung aus, dass eine ethische Aufgabe der Kunst und Literatur nur in Korrelation mit Schmerz zu verstehen sei. Das Sichtbarmachen der Unterwelt ist bei Meyer als Auseinandersetzung mit dem unheimlichen deutschen Heimatraum der Nachwende zu interpretieren.

Die Vielschichtigkeit der Heimatkonstrukte wird in dem nächsten Beitrag unter einer räumlichen Perspektive in der Figur des Palimpsests veranschaulicht und lässt an Karl Schlögels Im Raume lesen wir die Zeit (2003) denken. Karolina Sidowska analysiert in ihrem Artikel das literarische Bild der Stadt Gdansk (Danzig), die sowohl in der polnischen als auch in der deutschen Kultur und Literatur den Status eines Gedächtnisortes hat. Anhand der ausgewählten Werke von Stefan Chwin wird die emotionale Auswirkung der Räumlichkeiten und Gegenstände, die häufig als Zeugen der unruhigen Vergangenheit dienen, auf die gegenwärtige Bevölkerung näher betrachtet. Es interessiert u. a, wie die Leute sich in der zurückgewonnenen und doch veränderten Heimat wieder zurechtfinden oder sich den Raum heimisch machen, in dem noch Überbleibsel anderer Bewohner auf Schritt und Tritt präsent sind (die Stadt als Palimpsest). Sidowska belegt mit ihrer Analyse, dass die symbolische und fortwährende Anwesenheit der Vergangenheit eine Quelle des Unheimlichen bildet.

Dass Heimat mit Sprache identifiziert wird, ist eine Einsicht, die für Exil- und Migrationserfahrungen typisch ist. Im nächsten Beitrag erzeugt aber gerade die Muttersprache in ihrem geografischen Herkunftsraum Entfremdung und lässt Unheimliches aufkommen. Lesley Penné analysiert in den Romanen der deutschsprachigen belgischen Schriftsteller Freddy Derwahl und Leo Wintgens das Thema der Heimatsuche. Der Heimat kommt in diesem Fall keine rein topographische Bedeutung zu, sie wird vielmehr wie erwähnt in der Sprache verortet. Das Verhältnis zur Muttersprache ist dabei problematisch, und aufgrund der Erfahrungen während der zwei Weltkriege gab die deutschsprachige belgische Bevölkerung die Muttersprache teilweise auf. Freuds Definition des Unheimlichen klingt hier nach, denn für Penné steht diese Verdrängung der sprachlich bestimmten Identität und Vergangenheit mit dem von der Sprache erzeugten unheimlichen Gefühl in Zusammenhang. Wichtig in dieser Hinsicht ist die literarisch geschilderte Entwicklung der Sprache von einem Konfliktbereich zu einer Kontaktzone, die die mentalen Grenzen zwischen den Menschen aufheben kann, indem sich die Protagonisten mit der Vergangenheit ihrer Heimatregion auseinandersetzen. Diese Befunde werden anhand der Lotman’schen Theorie der Semiosphäre besprochen.

Die darauffolgenden Beiträge bieten ebenfalls einen Blick auf literarische Verarbeitungen des Themenkomplexes Heimaträume und Unheimliches, nun aus der Perspektive der deutschsprachigen Nachbarländer Österreich und Schweiz, was zusammen mit der belgischen Perspektive eine Erweiterung der Aussagekraft der Befunde erlaubt.

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Natalia Villamizar nimmt sich die Konzepte Unheimlichkeit und Mimesis bei Thomas Bernhard vor. Die Werke des Österreichers zeigen sehr deutlich, so Villamizar, wie ambivalent das Verhältnis zur Heimat sein kann: Sie stellt sowohl etwas sehr Vertrautes als auch etwas Unheimliches dar. In dem Beitrag wird diese Spannung in Bernhards autobiographischem Roman Die Ursache (1975) erkundet; es wird untersucht, wie Heimat im Roman konzeptualisiert und dargestellt wird und worin ihre Unheimlichkeit besteht. An zweiter Stelle wird gezeigt, dass das für Bernhard kennzeichnende Stilmittel der Übertreibung nicht nur die schon bekannte Funktion der Veranschaulichung erfüllt, sondern auch eine mimetische Eigenschaft besitzt. Im Rückgriff auf Adornos und Horkheimers Auffassung des Begriffs Mimesis werden wesentliche und komplementäre Funktionen des mimetischen Verfahrens in Die Ursache dargestellt, dessen Ziel es ist, sich dem Gefühl der Unheimlichkeit zu stellen und es zu überwinden.

Claudia Albes untersucht W. G. Sebalds Formulierung „unheimliche Heimat“, mit der er seine Essaysammlung (1991) überschrieben hat, und überprüft ob diese Denkfigur zu einem tieferen Verständnis des literarischen Prosatextes Schwindel. Gefühle. (1990) beitragen kann. Albes erkennt, dass bei Sebald der Heimatbegriff etwas Imaginäres, Flüchtiges, sich historisch und individuell Veränderndes bezeichnet, und warnt vor einem diffusen und inflationären Gebrauch dieses Konzeptes. Dennoch enthalte es ein nicht unübersehbares heuristisches Potential, und zwar mittels des Rückgriffs auf Freuds Konzeption des Unheimlichen, was anhand von zwei von Albes besprochenen literaturwissenschaftlichen Deutungen der Denkfigur ‚unheimliche Heimat‘ in Schwindel. Gefühle. veranschaulicht wird.

Monika Wąsik setzt sich im Drama Der Revisor oder das Sündenbuch (2017) von Lukas Linder mit dem darin thematisierten Heimatkonstrukt auseinander. Der Autor spielt mit nationalen Mythen der Schweiz und entwickelt auf dieser Basis eine Anti-Idylle. Der Tellmythos als Symbol der Heimat und Wahrheit fungiert hier als Synonym für Lüge. Die Gefühle, die von den Protagonisten mit dem Begriff Heimat in Verbindung gebracht werden, sind keine echten, sondern rhetorische Gefühlskonstrukte, die auf direktem Weg in die verstörenden Abgründe eines unheimlichen Heimatkonzepts führen.

Details

Seiten
256
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783034331425
ISBN (ePUB)
9783034331432
ISBN (MOBI)
9783034331449
ISBN (Paperback)
9783034331418
DOI
10.3726/b11734
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juli)
Schlagworte
Raum Identität Spatial turn Emotional turn 20. Jahrhundert 21. Jahrhundert
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 256 S.

Biographische Angaben

Carme Bescansa (Band-Herausgeber:in) Mario Saalbach (Band-Herausgeber:in) Iraide Talavera (Band-Herausgeber:in) Garbine Iztueta (Band-Herausgeber:in)

Carme Bescansa ist promovierte Germanistin und Dozentin für Deutsche Sprache und Literatur an der Universität des Baskenlandes. Mario Saalbach ist Professor für Deutsche Sprache und Literatur am Germanistischen Institut der Universität des Baskenlandes. Iraide Talavera promoviert über Kinder- und Jugendliteratur. Sie ist Dozentin für Englische Sprache an der Universität des Baskenlandes. Garbiñe Iztueta promovierte in Germanistik und Anglistik und ist Dozentin an der Universität des Baskenlandes und Abteilungsdirektorin am Baskischen Etxepare Kulturinstitut. Die vier HerausgeberInnen beschäftigen sich seit Jahren in mehreren gemeinsamen Projekten sowie in zahlreichen Publikationen mit dem Thema Heimat in der deutschsprachigen Literatur.

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Titel: Unheimliche Heimaträume
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