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Schweizerisches Jahrbuch für Kirchenrecht. Bd. 22 (2017) – Annuaire suisse de droit ecclésial. Vol. 22 (2017)

Herausgegeben im Auftrag der Schweizerischen Vereinigung für evangelisches Kirchenrecht – Edité sur mandat de l’Association suisse pour le droit ecclésial

von Dieter Kraus (Band-Herausgeber:in)
©2018 Dissertation 318 Seiten

Zusammenfassung

Inhalt: Ueli Friederich: Rechtliche und praktische Fragen zum Zusammen-schluss von Kirchgemeinden – Thomas Plaz-Lutz: «Ouvrir et prendre en garde»: Aspekte einer Topographie von Freiräumen. Grundsätzliche Bemerkungen zu Kirchgemeindezusammenschlüssen – Ralph Kunz/Thomas Schlag: Gemeindeautonomie und Zuordnungsmodell in reformierter Perspektive. Kirchentheoretische Orientierungen und Folgerungen für die kirchenleitende Praxis – René Pahud de Mortanges: Die rechtliche Regelung der Spitalseelsorge in der Schweiz

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Editorial (Red.)
  • Aufsätze
  • Ueli Friederich: Rechtliche und praktische Fragen zum Zusammenschluss von Kirchgemeinden
  • Thomas Plaz-Lutz: „Ouvrir et prendre en garde“: Aspekte einer Topographie von Freiräumen. Grundsätzliche Bemerkungen zu Kirchgemeindezusammenschlüssen
  • Ralph Kunz/Thomas Schlag: Gemeindeautonomie und Zuordnungsmodell in reformierter Perspektive. Kirchentheoretische Orientierungen und Folgerungen für die kirchenleitende Praxis
  • René Pahud de Mortanges: Die rechtliche Regelung der Spitalseelsorge in der Schweiz
  • Rechtsprechung
  • Religionsrechtlich bedeutsame Entscheide des Bundesgerichts im Jahre 2017 (Dieter Kraus)
  • Mitteilungen
  • Jahresbericht 2017 der Schweizerischen Vereinigung für evangelisches Kirchenrecht (Der Vorstand)
  • Zum Gedenken an Philippe Gardaz (1947–2018) (René Pahud de Mortanges)
  • Berichte
  • Baselland: Kirchliche Visitation 2013–2015 im Baselbiet: Werkstattbericht zur Umsetzung (Roland Plattner-Steinmann)
  • St. Gallen: Zusammenschluss, Verschmelzung, Fusionen von Kirchgemeinden in der Evang.-ref. Kirche des Kantons St. Gallen (Paul Baumann-Aerne)
  • Zürich: Phänomen Pfarramt. Bericht zum Reformprozess in der Stadt Zürich (Martin Peier)
  • Rezensionen und Buchanzeigen
  • Christoph Link, Kirchliche Rechtsgeschichte. Kirche, Staat und Recht in der europäischen Geschichte von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert. Ein Studienbuch, 3. Aufl. München 2016, XXIII + 307 S. (Christoph Winzeler)
  • Amy Nelson Burnett/Emidio Campi (Hg.), Die schweizerische Reformation. Ein Handbuch. Deutsche Ausgabe im Auftrag des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes bearbeitet und hg. von Martin Ernst Hirzel und Frank Mathwig, Zürich 2017, 740 S. (Christoph Winzeler)
  • Hans Ulrich Anke/Heinrich de Wall/Hans Michael Heinig (Hg.), Handbuch des evangelischen Kirchenrechts, Tübingen 2016, XXII + 1165 S. (René Pahud de Mortanges)
  • Christian R. Tappenbeck, Das evangelische Kirchenrecht reformierter Prägung. Eine Einführung, Zürich 2017, 188 S. (Jakob Frey)
  • Sabine Demel, Das Recht fliesse wie Wasser. Wie funktioniert und wem nützt Kirchenrecht?, Regensburg 2017, 176 S. (Daniel Kosch)
  • Lorenz Engi, Die religiöse und ethische Neutralität des Staates. Theoretischer Hintergrund, dogmatischer Gehalt und praktische Bedeutung eines Grundsatzes des schweizerischen Staatsrechts, Zürich/Basel/Genf 2017, LXXXVIII + 515 S. (Rolf Weibel, Christoph Winzeler)
  • Adrian Loretan, Wahrheitsansprüche im Kontext der Freiheitsrechte. Religionsrechtliche Studien, Bd. 3, Zürich 2017, 308 S. (Christoph Winzeler)
  • Weitere Hinweise
  • Bibliografie
  • Bibliografie 2017 zum schweizerischen Kirchen- und Religionsrecht (Red.)
  • Dokumentation
  • Graubünden: Totalrevision der Verfassung der Evangelisch-reformierten Landeskirche Graubünden. Botschaft des Kirchenrates vom 4. Juli 2017
  • Zürich: Interpellation von Jürg-Christian Hürlimann und Mitunterzeichnende betreffend Begriffe „Gemeindeautonomie“ und „Grundsatz der Zuordnung“, Antwort des Kirchenrates vom 1. Februar 2017
  • Mitarbeiter dieses Bandes
  • Anschriften der Herausgeber des Jahrbuchs

Editorial

Band 22/2017 des Schweizerischen Jahrbuchs für Kirchenrecht

Um sogleich die Besonderheit dieses 22. Bandes unseres Jahrbuchs zu erwähnen: Der vorliegende Band enthält einen besonders umfangreichen und weit ausgreifenden Rezensionsteil. In diesem Jahr umfasst dieser Teil des Jahrbuchs annähernd 50 Seiten. Vermerkt sei auch, dass sich unter den diesjährigen Rezensionen eine Art Doppelrezension befindet, in der sich zwei Autoren mit dem zu besprechenden Werk eingehend aus ihrer jeweiligen fachlichen Perspektive befassen1. Darüber hinaus macht der wie gewohnt mit grosser Sorgfalt von Christoph Winzeler2 zusammengestellte Rezensionsteil wieder einmal die Breite des wissenschaftlichen Blickes deutlich, den auch ein kleines Fach wie das evangelische Kirchenrecht dem Betrachtenden eröffnet.

Im Übrigen folgt dieser Band dem bekannten Schema des Jahrbuchs und bietet seinen Leserinnen und Lesern insbesondere die schriftlichen Fassungen der Vorträge der Jahrestagung 2017 der Schweizerischen Vereinigung für evangelisches Kirchenrecht, ergänzt durch einen Beitrag zur Spitalseelsorge, der auf der Jahrestagung aus Termingründen nicht vorgetragen werden konnte3.

Red.
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1       Siehe S. 242 ff.

2       Siehe S. 221 ff.

3       Siehe S. 119 ff.

SJKR /ASDE 22 (2017), S. 11–59

Aufsätze

Rechtliche und praktische Fragen zum Zusammenschluss von Kirchgemeinden*

von Ueli Friederich (Bern)

I.    Einstimmung

Es ist kaum Zufall oder Verlegenheit, dass die diesjährige Jahrestagung der Schweizerischen Vereinigung für evangelisches Kirchenrecht dem Zusammenschluss von Kirchgemeinden gewidmet ist. Gemeindefusionen liegen im Trend. In den vergangenen Jahrzehnten haben verschiedene europäische Länder (Schweden, Norwegen, Dänemark, Grossbritannien, Deutschland, Österreich) die Anzahl ihrer Gemeinden im Rahmen weit reichender Gebietsreformen teilweise drastisch gesenkt1. Im Vergleich dazu erscheint die Entwicklung in der Schweiz wenig spektakulär. Immerhin: Seit der Gründung der Schweizerischen Eidgenossenschaft hat ← 11 | 12 → die Zahl der politischen Gemeinden, trotz gelegentlicher Neubildungen2, kontinuierlich abgenommen, besonders stark in den vergangenen Jahren. Die erste eidgenössische Volkszählung im Jahr 1850 zählte in der Schweiz 3’205 Gemeinden3, im Jahr 2001 waren es noch 2’8804. Nach einer Studie aus dem Jahr 2005 setzten sich im untersuchten Zeitraum von fünf Jahren 40 Prozent der politischen Gemeinden in der Schweiz ernsthaft mit einer Fusion auseinander5, offenkundig mit greifbaren Resultaten: Bis Ende 2016 hat sich die Zahl der politischen Gemeinden weiter auf 2’291 verringert. Im Kanton Graubünden vereinigten sich in den letzten Jahren ganze Talschaften zu einer neuen Gemeinde6. Landesweit Beachtung gefunden hat die Gemeindereform im Kanton Glarus, mit der die bisherigen 25 Ortsgemeinden, 18 Schulgemeinden und neun Burgergemeinden (Tagwen) per 1. Januar 2011 zu den drei Grossgemeinden Glarus-Nord, Glarus und Glarus-Süd zusammengeschlossen worden sind7. Von einer eigentlichen „Fusionswelle der letzten 15 Jahre“ ist vor dem Hintergrund dieser Entwicklung in einer Fachzeitschrift für Gemeinden die Rede8.

Die „Fusionswelle“ hat auch Kirchgemeinden erfasst. Reformen in der Kirchgemeindeorganisation haben in jüngerer Zeit zwar teilweise auch eine andere oder gar die gegenteilige Richtung eingeschlagen. Vereinzelt ← 12 | 13 → sind Kirchgemeinden ersatzlos aufgehoben worden, so die vier deutschsprachigen evangelisch-reformierten Kirchgemeinden Corgémont Unteres St. Immertal, Moutier, Saint-Imier und Tavannes im Berner Jura9. Gelegentlich sind aus einer Kirchgemeinde mehrere neue Gemeinden entstanden, im Kanton Bern Ende der Neunziger Jahre aus der ehemaligen Kirchgemeinde Bolligen die drei Kirchgemeinden Bolligen, Ittigen und Ostermundigen10, im Kanton Luzern aus zwei Teilkirchgemeinden der Kirchgemeinde Luzern per Anfang 2017 die beiden selbständigen Kirchgemeinden Horw und Meggen-Adligenswil-Udligenswil.

Diese Beispiele sind aber Ausnahmeerscheinungen in besonderen Situationen11. Im Trend liegen Zusammenschlüsse zu neuen und grösseren Kirchgemeinden, teilweise mit originellen Namen wie „Kirchgemeinde Pilgerweg“12. Im Kanton St. Gallen und anderswo haben sich vor allem kleinere Kirchgemeinden in ländlichen Gebieten zusammengeschlossen. Fusionen sind aber auch im urbanen Raum aktuelles Thema. In der Stadt Basel haben sich die drei Kirchgemeinden St. Johannes, Oekolampad und St. Leonhard und deren drei Quartiergemeinden St. Peter, Paulus und Stephanus per 1. Januar 2012 zur Kirchgemeinde Basel West zusammengeschlossen. In Zürich sprachen sich die Reformierten am 28. September ← 13 | 14 → 2014 in einer Grundsatzabstimmung im Rahmen des Projekts „Neue Struktur Reformierte Kirche Zürich“ überraschend deutlich für eine Vereinigung aller Kirchgemeinden der Stadt Zürich und der Kirchgemeinde Oberengstringen zu einer Kirchgemeinde Zürich aus. Ein stadtweiter Zusammenschluss der Kirchgemeinden wird derzeit auch im „Strukturdialog“ der evangelisch-reformierten Gesamtkirchgemeinde Bern diskutiert, die mit Einschluss der Paroisse de l'Eglise française réformée de Berne 12 rechtlich selbständige, aber finanziell vollständig von der Gesamtkirchgemeinde abhängige evangelisch-reformierte Kirchgemeinden vereinigt.

Gemeindefusionen sind ein „Thema mit vielen Facetten“13. Sie stellen im Rahmen möglicher Gemeindereformen eine Alternative zur (verstärkten) übergemeindlichen Kooperation (interkommunale Zusammenarbeit) dar14. In der Lehre und in der Politik werden organisatorische, ökonomische und politologische Aspekte15 bis hin zur Frage erörtert, ob objektivierbare Aussagen zur „richtigen“ Gemeindegrösse möglich sind16. Die mit einer Fusion verbundenen Rechtsfragen sind indes bis anhin nur vereinzelt Gegenstand wissenschaftlicher Erörterung geworden17. Das Bun ← 14 | 15 → desgericht hatte sich zwar in den vergangenen Jahren bei verschiedenen Gelegenheiten mit einzelnen Fragen zu befassen, vorab mit stimmrechtlichen Anforderungen an eine Fusionsvorlage18, aber auch etwa mit der Zulässigkeit von Zwangsfusionen19. Restlos geklärt sind die rechtlichen Aspekte eines Zusammenschlusses aber bei Weitem nicht.

Für unser Thema ist ein Weiteres zu bedenken: „Gemeinde“ ist nicht nur ein organisatorischer und rechtlicher Begriff der Gemeindegesetzgebung, sondern, zumindest nach evangelischem Verständnis, zugleich die ἐκκλησία, die herausgerufene, eschatologische Heilsgemeinde zur Sammlung des erneuerten Gottesvolkes, die in dieser Welt Zeugnis abzulegen hat. Diese „Doppelfunktion“ haben wir mit Blick auf evangelischreformierte Kirchgemeinden stets vor Augen zu halten (demgegenüber sind die Kirchgemeinden römisch-katholischer Konfession nach kirchlichem Verständnis und der dualistischen rechtlichen Struktur der katholischen Kirche in der Schweiz nicht „Kirche“20). ← 15 | 16 →

II.  Begriff und Erscheinungsformen des Zusammenschlusses

1.    Begriff „Zusammenschluss“

Gemeinden können sich zur Erfüllung ihrer Aufgaben in unterschiedlicher rechtlicher Form zusammenschliessen, beispielsweise auf vertraglicher Basis nach dem Modell „Sitzgemeinde“ oder nach dem Vorbild der privatrechtlichen einfachen Gesellschaft (Art. 530 ff. OR) zur Verfolgung eines gemeinsamen Zwecks mit gemeinsamen Mitteln, in einem Verein nach Art. 60 ff. ZGB oder in einem Gemeinde- oder Zweckverband des öffentlichen Rechts. „Zusammenschluss“ meint in diesen Fällen ein rechtlich geregeltes vertragliches oder körperschaftliches Verhältnis. Die rechtlichen Bindungen können mehr oder weniger weit reichen, berühren aber stets nur das „Aussenverhältnis“ der Gemeinden.

Ich verstehe den Begriff „Zusammenschluss“ hier anders oder enger als Synonym zu „Fusion“. Eine Fusion im Rechtssinn, abgeleitet vom lateinischen fusio (Verschmelzung), bezeichnet ganz allgemein die rechtliche Vereinigung von zwei oder mehr juristischen Personen des öffentlichen oder privaten Rechts. Ein Zusammenschluss von Kirchgemeinden in diesem Sinn geht über externe vertragliche oder körperschaftliche Bindungen der betroffenen Gemeinden hinaus. Er berührt die Identität der Gemeinden selbst, beendet die rechtliche Existenz einer oder mehrerer Gemeinden und bewirkt damit eine Veränderung im Bestand der Kirchgemeinden21. Es handelt sich mit andern Worten um einen personenrechtlichen Vorgang.

2.    Grundformen: Absorptions- und Kombinationsfusion

Das Bundesgesetz vom 3. Oktober 2003 über Fusion, Spaltung, Umwandlung und Vermögensübertragung (Fusionsgesetz, FusG)22 unterscheidet für das Bundeszivilrecht zwei Arten der Fusion, nämlich Zusammenschlüsse durch Absorption und Zusammenschlüsse durch Kombination (Art. 3 Abs. 1 FusG). Auch wenn das Fusionsgesetz auf Kirchgemeinden nicht (direkt) Anwendung findet23, lassen sich in Anlehnung an diese Un ← 16 | 17 → terscheidung Absorptions- und Kombinationsfusionen von Kirchgemeinden auseinanderhalten:

Im Rahmen einer Absorptionsfusion, im Gemeinderecht auch etwa als „Eingemeindung“24 oder „Volleingemeindung im engeren Sinne“25 bezeichnet, nimmt eine Kirchgemeinde eine andere oder mehrere andere Kirchgemeinden auf. Die aufnehmende („absorbierende“) Kirchgemeinde verändert sich in Bezug auf ihre Grösse (Gemeindeangehörige, Gebiet), bleibt aber als Rechtssubjekt unverändert bestehen und behält ihre rechtliche Identität und in der Regel auch ihren Namen. Aufgehoben werden demgegenüber die aufgenommenen Kirchgemeinden.

Durch eine Kombinationsfusion, im Gemeinderecht auch etwa „Verschmelzung“, „Gemeindefusion i.e.S.“26 oder „Volleingemeindung im weiteren Sinne“27 genannt, schliessen sich zwei oder mehr Kirchgemeinden zu einer neuen, bisher nicht existenten Gemeinde zusammen. Im Unterschied zur Absorptionsfusion beendet die Kombinationsfusion die rechtliche Existenz aller bisherigen Kirchgemeinden.

Der Unterschied zwischen Absorptions- und Kombinationsfusion hat weit reichende, aber in der Praxis oft nicht erkannte Bedeutung für die Konstituierung der aus der Fusion hervorgegangenen Gemeinde. Die Absorptionsfusion kann, muss aber nicht zwingend zu einer Veränderung der Organisation der aufnehmenden Kirchgemeinde (Bestand, Grösse und Zusammensetzung der Organe) führen. Anders die Kombinationsfusion: Die neue Gemeinde muss, jedenfalls theoretisch, von Grund auf vollständig neu organisiert und konstituiert werden (z.B. Wahl der Behörden). ← 17 | 18 →

3.    Freiwillige und zwangsweise angeordnete Zusammenschlüsse

Aus dem Blickwinkel der betroffenen Kirchgemeinden und ihrer Absichten lassen sich freiwillige Zusammenschlüsse und Zwangsfusionen unterscheiden. Eine freiwillige Fusion erfolgt in der Regel auf Antrag, jedenfalls aber mit Zustimmung der zuständigen Organe der beteiligten Gemeinden. Die Zwangsfusion ist demgegenüber die autoritative Anordnung einer Fusion gegen den Willen mindestens einer Gemeinde. Ob und unter welchen Voraussetzungen gegebenenfalls eine Zwangsfusion möglich ist, richtet sich nach dem anwendbaren kantonalen oder kantonalkirchlichen Recht und im Besonderen nach der Frage, ob die Kirchgemeinden nach den betreffenden Bestimmungen eine Bestandesgarantie geniessen (dazu hinten IV.2.1).

4.    Anzahl, Grösse und Eigenart der beteiligten Kirchgemeinden

Schliesslich lassen sich Zusammenschlüsse nach der Anzahl, Grösse und Eigenart der beteiligten Kirchgemeinden unterscheiden. Als „klassischer“ Fall gilt wohl nach wie vor die Fusion zweier benachbarter, eher kleinerer Gemeinden. Aktuelles Beispiel ist die eben beschlossene Fusion der Kirchgemeinden Saanen und Gsteig im Berner Oberland. Nicht allzu selten sind heute indes umfassendere Gebietsreformen wie Zusammenschlüsse ganzer Talschaften im Kanton Graubünden oder die Gemeindereform im Kanton Glarus. Im kirchlichen Bereich ist wie erwähnt in den Städten Zürich und Bern die Fusion einer beachtlichen Anzahl von Kirchgemeinden zu einer stadtweiten Kirchgemeinde geplant. In Bern besteht die Absicht, die Gesamtkirchgemeinde als „organisationsrechtliches Dach“ der einzelnen Kirchgemeinden in den Zusammenschluss mit einzubeziehen.

Ein rechtlich zwingender Zusammenhang zwischen Anzahl und Grösse der beteiligten Gemeinden und der Art der Fusion besteht nicht. Eine Kombinationsfusion liegt naturgemäss näher, wenn mehr oder weniger vergleichbare Gemeinden oder eine grössere Anzahl von solchen fusionieren und die aus der Fusion hervorgehende Gemeinde ein vollständig neues „Gesicht“ erhält, wie dies etwa im Fall der geplanten neuen Kirchgemeinde Zürich der Fall wäre. Schliessen sich demgegenüber eine einzelne grosse Gemeinde mit Zentrumsfunktion und eine kleine Nachbargemeinde zusammen, entspricht eine „Eingemeindung“ in der Form der ← 18 | 19 → Absorptionsfusion eher der tatsächlichen Situation28. Die Praxis hat zuweilen nur Kombinationsfusionen zugelassen, so beispielsweise im Kanton Bern, bevor eine Regelung im Sinn von Art. 3 FusG in die Gemeindegesetzgebung aufgenommen wurde29. Aufgrund dieser Praxis musste anlässlich der Fusion der Stadt Langenthal mit rund 15'000 Einwohnerinnen und Einwohnern mit der kleinen Nachbargemeinde Untersteckholz mit knapp 160 Gemeindeangehörigen per 1. Januar 2010 eine neue Gemeinde Langenthal gebildet und (mit einer neuen Stadtverfassung) organisiert werden, was doch einigermassen künstlich anmutet30.

Von Bedeutung kann unter Umständen die rechtliche Eigenart der beteiligten Gemeinden sein. Das Gemeinderecht des Kantons Bern sieht, abgesehen vom besonderen Fall der Fusion einer Einwohnergemeinde mit einer so genannten gemischten Gemeinde, nur Zusammenschlüsse „gleichartiger“ Gemeinden vor31. Die Gesamtkirchgemeinde ist nach bernischem Recht32 eine eigenständige, gesetzlich besonders geregelte Gemeindeart33, die allerdings wie die „eigentlichen“ Kirchgemeinden ausschliesslich (landes-)kirchlichen Zwecken dient und dementsprechend in ← 19 | 20 → Anbetracht der sehr unterschiedlichen dem Gemeindegesetz unterstellten gemeinderechtlichen Körperschaften34 wohl mit guten Gründen als „gleichartige“ Gemeinde qualifiziert werden kann35. Das kantonale Amt für Gemeinden und Raumordnung hat sich dieser Ansicht nicht anschliessen können und geht davon aus, dass ein Einbezug der Gesamtkirchgemeinde in den Zusammenschluss als fusionierende Gemeinde nach geltendem Recht mangels „Gleichartigkeit“ nicht möglich ist. De lege ferenda soll die Möglichkeit einer Kombinationsfusion von Gesamtkirchgemeinden und Kirchgemeinden ausdrücklich gesetzlich vorgesehen werden36.

Details

Seiten
318
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783034335676
ISBN (ePUB)
9783034335683
ISBN (MOBI)
9783034335690
ISBN (Paperback)
9783034335669
DOI
10.3726/b14501
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (April)
Schlagworte
Schweizerisches Jahrbuch für Kirchenrecht 2015
Erschienen
Bern, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018. 318 S.

Biographische Angaben

Dieter Kraus (Band-Herausgeber:in)

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Titel: Schweizerisches Jahrbuch für Kirchenrecht. Bd. 22 (2017) – Annuaire suisse de droit ecclésial. Vol. 22 (2017)
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