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Liebe und Sein

Die ontologische Grundrelation

von Bernt Knauber (Autor:in)
©2020 Monographie 486 Seiten

Zusammenfassung

Heideggers Ontologie endet beim «Aufgang des Heiligen», in dessen «Huld» das Seiende «die Gewähr findet, zu sein». Ist dies nicht eine schöpferische Liebe? Und ist nicht sie schon immer der Referenzpunkt alles Bleibenden? Die Untersuchung verbindet die Seinsfrage mit dem christlichen Kern. Sie harmonieren ausgezeichnet, ist doch dem einen Weite, dem anderen Substanz gegeben. Profiteur ist ein Sein, das zum Mysterium geraten war. Das Sein in Relation ist wieder ein begreifbares, - das real Existierende, das nach seiner Bejahung fragt. Der Autor wendet die bekannte Frage, ob Heideggers Philosophie christlich sei, dahin, ob die getrennten Konfessionen es denn sind. Denn was sie predigen – das neue Sein der Liebe und Versöhnung - will auch gelebt sein. Wann wird die Theorie ihren ökumenischen Praxistest bestehen? Ein Christentum, das mit sich selbst ins Reine kommt, wird auch seiner Seins-Verantwortung gerecht.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Anmerkung zur zweiten Auflage
  • Vorwort
  • Einleitung A. Die fundamentalontologische Relevanz der Liebe
  • 1. Die Ausgangsfrage
  • 1.1 Das Sein als fragliches
  • 1.2 Die Funktion des Eros
  • 1.3 Die Grenze des Eros
  • 1.4 Die Bedeutung der Liebe und ihre theo-ontologische Dimension / Das Problem der Liebesvergessenheit
  • Einleitung B. Die fundamentalontologische Relevanz der christlichen Botschaft
  • 1. Die Frage nach der Liebe
  • 1.1 Die Liebe als christlicher Schwerpunkt / Das Problem mit der Liebe / Die Notwendigkeit einer biblisch-systematischen Untersuchung
  • 2. Die christliche Rede vom Sein
  • 2.1 Die christliche Scheu vor der Rede vom Sein
  • 2.2 Das ontologische Denken und Handeln Gottes
  • 2.3 Der biblisch-heilsgeschichtliche Seinszugang
  • 3. Was ist „Sein“?
  • 3.1 Sein als Allgemeines
  • 3.2 Klassische Bestimmungen
  • 3.3 Die Seins-Situation des Menschen
  • 3.4 Sein – biblisch-ontologisch / Das „Ganz-Sein“ im Grund des Seins
  • 3.5 Die „ontologische Differenz“: Sein zum Leben – Sein zum Tode / Das Problem des heillosen Seins
  • 3.6 Die säkularen Seins-Verheißungen und die Hoffnung auf die christliche Alternative
  • 4. Die Aufgabe
  • 4.1 Die Seinslösung der Heiligen Schrift / Geheiltes Sein als Sein in der Liebe Gottes
  • 4.2 Die Frage nach dem Sein der Kirche
  • 4.3 Thema, Methode, Begriffe
  • I. Die Agape als Grund des originalen Seins
  • 1. Die fundamentalontologische Ursituation / Das Schöpfungswerk im Wort Gottes
  • 1.1 Die Liebe Gottes als kreatorisches Prinzip
  • 1.2 Das Sein gegründet im Wort Gottes / Das Selbst-Verständnis des Seins in Gottes Ja-Wort
  • 1.3 Konstruktions- und Instruktionswort / Das „eigentliche“ Wort Gottes als die Liebe Gottes / Der intakte Gebrauch der Vernunft / Die Bewahrung des Seins im Gehorsam des Wortes Gottes
  • 2. Liebe und Logos
  • 3. Die Bedeutung der Präexistenzchristologie / Das Problem des Logos asarkos
  • 4. Das kosmologische Thema der Heiligen Schrift
  • 5. Das Konzept christlicher Ganzhaftigkeit
  • 6. Das Autonomieproblem
  • 7. Das Sein Gottes / Die Agape als die Wirklichkeit Gottes
  • II. Der Verlust der originalen Seinsgrundlage und seine Folgen
  • 1. Der fundamentalontologische Schock und seine fundamentalpsychologischen Konsequenzen
  • 1.1 Das Seins-Desaster / Der Fall aus dem Seinsgrundwort Gottes / Der Seins-Zerfall / Das „neue Sein“ des Menschen / Das fundamentalontologische Problem
  • 2. Das verkrümmte Sein zum Tode / Die Herrschaft des Nichts
  • 2.1 Rettungsversuche / Das Problem der Vernunft / Der Mensch in Angst
  • 2.2 Der verkehrte Mensch als Knecht seines Unglaubens / Das Problem der Vernunft (Fortsetzung)
  • 2.3 Des Menschen neue Welt / Sein Werk / Die neuen Ideale
  • 2.4 Der Kampf ums Sein
  • 2.5 Das Sein als nichtiges
  • 2.6 Exkurs: Heidegger
  • 3. Das „Andere“
  • III. Kompensationsversuche des fundamentalontologischen Defizits / Die Erosleistung
  • 1. Die Entstehung der Seins- und Wahrheitsfrage / Die Suche des Eros / Die Frage nach dem Seinsgrund als die Frage nach der Liebe / Christ-Sein
  • 2. Disziplinen des Eros
  • 3. Die Ägypter
  • 4. Die Inder
  • 5. Die Chinesen
  • 6. Die Perser
  • 7. Die Griechen / Der Beginn der Eroslinie
  • 8. Mittelalter / Der Höhepunkt der Eroslinie
  • 9. Neuzeit / Der „Fort-Schritt“ der Eroslinie
  • 10. Gegenwart
  • 11. Die physikalische Perspektive der christlichen Metaphysik (Naturwissenschaft und Theologie)
  • 12. Der postmoderne Versuch
  • 13. Die christliche Perspektive
  • IV. Das Provisorium
  • 1. Die Seinsaporie / Gottes Notinstruktion / Liebe als Gesetz (Der Mensch unter dem Gesetzes- und Verheißungswort des Alten Testamentes)
  • V. Die Agape als Grund des neuen Seins
  • 1. Die christliche Offenbarung als Antwort auf das fundamentalontologische Problem / Das „Dass“ der Agape als fundamentalontologische Kategorie
  • 1.1 Das Kommen des Sohnes Gottes
  • 1.1.1 Die Gottesliebe als Gottesrede
  • 1.1.2 Die Erfüllung der Zeit / Die Erfüllung der Schrift / Die Sendung des Sohnes
  • 1.1.3 Die Offenbarung – als allgemeine und spezielle
  • 1.1.4 Die Refundamentierung des Seins in Christus / Das Werk Gottes / Das neue Instruktionswort
  • 1.2 Die Erscheinungsweise des Sohnes Gottes
  • 1.2.1 Logos – Christus – Agape / Das Wort Gottes als die Liebe Gottes / Das „logische“ Missverständnis
  • 1.3 Die Leistung des Sohnes Gottes
  • 1.3.1 Die neue Kreatur
  • 1.3.2 Die Vergebung der Sünden
  • 1.4 Die Wirklichkeit des Sohnes Gottes
  • 1.4.1 Die Vergebung als Gottes „Ja“-Wort / Die Reparatur des Seins
  • 1.4.2 Das horizontale Problem – und seine Lösung
  • 2. Der Inhalt der Gottesantwort / Das „Was“ der Agape als fundamentalontologische Kategorie / Die Liebe Gottes als Zentralbegriff des Reiches Gottes
  • 2.1 Die Heilsgeschichte als der biblische Darstellungsrahmen des Reiches Gottes / Theologische Ontologie als Heilsgeschichte
  • 2.2 Das Reich Gottes als äußerer biblischer Zentralbegriff / – als Darstellungsrahmen der Agape
  • 2.3 Das Neue Testament als sukzessive christologische Extension / Der biblische Heilsuniversalismus / Das „Schon und Noch-nicht“
  • 2.4 Einheit als Ausgangspunkt und Ziel der Liebe
  • 2.5 Die Agape – der biblische Befund
  • 2.6 Der theologische Zenit der Liebe bei Paulus, Johannes – aufgrund ihrer fundamentalontologischen Bedeutung
  • 2.7 Erwählung / Liebe / Recht
  • 2.8 Die Agape als innerer biblischer Zentralbegriff
  • 3. Das Wesen der Gottesantwort / Das „Wie“ der Agape als fundamentalontologische Kategorie
  • 3.1 Die Bedeutung des Kreuzes als Ausgangspunkt – / Vergebung als der spezifisch christliche Inhalt der Liebe
  • 3.2 Die Agape als die Kraft Gottes / – als Grund- und Totalakt des menschlichen Seins / Die Überwindung der Egozentrik
  • 3.3 Die Agape als vollständige, integrative Liebe / Die Reparaturfunktion des Eros / Konstruktives, sich ergänzendes Sein
  • 3.4 Die ontologische Macht der Agape / Die soziale Wirklichkeit des neuen Seins
  • 4. Die Agape als Heilsgut
  • 4.1 Das soteriologische Element des Evangeliums
  • 4.1.1 Die Rettung des Seins durch Glauben / Glaube als Eingang in die Liebe Gottes / – ins Pneuma des Reiches Gottes
  • 4.1.2 Die soteriologisch-ontologische Einheit des Evangeliums / Das ganze Evangelium / Heilswort und Heilswirklichkeit
  • 4.1.3 Glaube und Liebe
  • 4.1.4 Exkurs: Das Instruktionswort und die Heilige Schrift681 / Die Notwendigkeit materialer Bibeltreue
  • 4.2 Das ontologische Element des Evangeliums als unmittelbare Konsequenz des soteriologischen
  • 4.2.1 Das Christliche als Vergebungsempfang und Vergebungsweitergabe / Christ-Sein als intaktes Gottes- und Geschwisterverhältnis / Das christliche Sein als Sein in Einheit
  • 4.2.2 Die christliche Horizontale als Vervollständigung vertikaler Seinsintegrität / Das Wohl des Menschen / Die Agape als Heilssubstanz
  • 4.2.3 Vergebung als nota ecclesiae / Einheit als praktizierte Vergebung / Der Weg zur Einheit
  • 4.2.4 Der Geist
  • 4.2.5 Christliche Totalität
  • 4.2.6 Die christliche Wirklichkeit als die Wirklichkeit des totus Christus / Die Einheit von christlicher Soteriologie und christlicher Ontologie im Reich Gottes
  • 4.2.7 Die Überwindung des christlichen Verbalismus mithilfe der ekklesialen Dimension des Evangeliums / Christliche Ontologie als christliche Ekklesiologie / Das wiederhergestellte Ganz-Sein als Seins-Ergänzung des Partikularen
  • 4.3 Das neue Sein als eindeutiger Lebensvollzug
  • 4.3.1 Die ekklesia als opus proprium des Heiligen Geistes / – als ontologisches Paradigma / Die Liebeswirklichkeit
  • 4.3.2 Die Neuordnung der Wirklichkeit / Ekklesiale Heilsausprägung / Das Sein der Gemeinde als korporatives Sein / Die Lösung der Seinsfrage als die Realherrschaft des Kreuzes
  • 4.3.3 Seinsvollkommenheit als Einheit / Die „Fülle Gottes“ / Der Sinn des Seins als Lobpreis
  • 4.3.4 Exkurs: Das Problem des Agonalen
  • 5. Die Agape als pneumatologisch/ekklesiologischer Schlüsselbegriff
  • 5.1 Christologie und Pneumatologie
  • 5.2 Pneumatologie und Ekklesiologie752 / Die Notwendigkeit biblisch-ekklesiologischer Besinnung
  • VI. Das neuerliche Problem mit der Agape / Die Deformierung des christlichen Seins
  • 1. Der Agapeverlust der frühen Kirche in Theorie und Praxis / Die frühkatholische Wandlung des Christentums
  • 1.1 Die nachapostolischen Gefährdungen / Der Verlust des Pneumas beim Versuch seiner Bändigung / Ersatzstrukturen für den Christusleib / Zurück zu weltlicher Ordnung (Die Apostolischen Väter und die Folgen)
  • 2. Chance und Scheitern der altkirchlichen Logoslehre
  • 2.1 Die Missbildung der biblischen Logostheologie / Vernunft statt Liebe / Die erneute Preisgabe des Seinsgrundwortes (Die Apologeten)
  • 3. Das altkirchliche Dogma als Ausdruck des fundamentalontologischen/agapeologischen Defizits
  • 3.1 Die Verfremdung der biblischen Gotteslehre / Die Scheidung von Gott und Welt als Dogma
  • 4. Der fortschreitende christliche Identitätsverlust und die Versuche seiner Kompensation
  • 4.1 Die Geschichte der Alten Kirche als sukzessive christologische Reduktion / Das „neue“ Sein als das alte
  • 4.2 Die Liebe in Patristik und Mittelalter
  • 4.3 Die philosophischen Parallelen
  • 5. Die soteriologische Reformation
  • 5.1 Der reformatorische Neubeginn / Die teilweise Wiederherstellung des Werkes Gottes
  • 5.2 Die reformatorische Grenze / Die vergessene Dimension
  • 5.3 Die Notwendigkeit des totus Christus / – ekklesialer Ganzheit
  • 5.4 Das ganze Evangelium als bleibende Aufgabe
  • 5.5 Exkurs: Der Streit um die Bibel
  • 6. Die bleibende ontologische Lücke
  • 6.1 Das kontinuierliche Missverständnis der Liebe / Die Diskussion um Agape und Eros / Die Liebe im Konfessionalismus
  • 6.2 Anders Nygren
  • 6.3 Die Liebe als trinitarisches Thema und das Problem der Nächstenliebe
  • 6.4 Die Eros-Agape-Kombination
  • 6.5 Victor Warnach
  • 6.6 Helmut Kuhn
  • 6.7 Josef Pieper
  • 7. Die christliche Aporie
  • 7.1 Das Problem des Konfessionalismus als bleibendes Problem des christlichen Seins / – als bleibende Aufgabe der Agape
  • VII. Ansätze zu einer Lösung des Problems
  • 1. Ecclesia semper reformanda
  • 1.1 Das christliche Spezifikum als Schlüssel zur Wiedergewinnung der christlichen Glaubwürdigkeit / Die Überwindung des Konfessionalismus in der Agape / Vergebung als Problem der christlichen Wahrheit
  • 1.2 Der Konfessionalismus als Ausdruck des Scheiterns der Reformation1258 / Die Notwendigkeit ekklesialer Komplettierung des Evangeliums / Die bleibende Aufgabe reformatorischer Vollendung
  • 1.3 Exkurs: Zu Pannenbergs Konzeption des Antizipatorischen
  • 1.4 Das christologisch-ekklesiologische Vakuum
  • 1.5 Die christliche Wahrheit als Ergebnis der Liebe / Wahrheit als Einheit
  • 1.6 Einheit als Signum des Gottesreichs / Der biblisch-ökumenische Seinsweg
  • 2. Die Notwendigkeit theologisch/dogmatischer Erneuerung
  • 2.1 Die Rehabilitation der Agape im Zentrum einer theologischen Ontologie / Einheit durch Demut / Die Wiedergewinnung des Ganzen
  • 3. Die Notwendigkeit kirchlich-praktischer Umkehr
  • 3.1 Der christliche Normalzustand als norma ecclesiae / Die Rehabilitierung des Christlichen infolge kirchlicher Buße
  • 3.2 Kirche als Gestaltwerdung der Agape / Spannung statt Spaltung / Die ekklesia als Antizipation des Gottesreichs und des eschatologischen Gotteslobs
  • 3.3 Das kirchliche Mysterium
  • 4. Die Wiedergewinnung der eigentlichen eschatologischen Spannung / Das „Noch nicht“
  • 4.1 Das bleibend Eschatologische und das „Angeld“ des Geistes
  • 4.1.1 Die individuelle und universelle Hoffnung / Die soziale Wirklichkeit des Christentums als Überbrückung des „Noch nicht“
  • 4.2 Reich Gottes und Weltwirklichkeit
  • 4.2.1 Die christliche Provokation (Der christliche Dualismus) / Das „Nein“ der Welt zum „Ja“ Gottes / Christliche Erneuerung
  • 4.3 Möglichkeiten christlicher Apologetik
  • 4.3.1 Das Neue / Seins- und Verbalverkündigung der ekklesia / Die Universalität des Christlichen / Theologie als Basiswissenschaft
  • Bibliographie

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Anmerkung zur zweiten Auflage

Eine Arbeit, die das Seinsgeschehen der Liebe nachordnet, um es von ihr aus neu zu plausibilisieren, ist bislang noch nicht geschrieben worden. „Sein“ wurde – nicht nur bei Heidegger – bislang als das Erste gedacht, Liebe, wenn überhaupt, als kontingente Zugabe. Da wir alle aber intuitiv wissen und verspüren, wie sehr wir selbst von Liebe abhängen, wie sehr unser aller Sein auf Annahme, auf Bejaht- und Getragensein gerichtet ist, um nicht Schaden zu nehmen oder zu verkümmern, war eine Untersuchung der ontologischen Tragweite der Liebe überfällig.

Überfällig war auch, das Christ-Sein einer Kirche, die solches Sein in der Liebe zu verkörpern beansprucht, faktisch aber in Uneinheit und Zertrennung existiert, zu hinterfragen. Im Blick auf die Selbstwidersprüche speziell des christlichen Seins ist der Kirche die Rückbesinnung auf die eigenen Fundamente anzuraten.

Methodisch fordert die Weite des Themas den komplementären Blickwinkel beider für Seinsorientierung zuständigen Disziplinen. Unsere Arbeit möchte eine philosophische sein, die die Erkenntnisoptionen der Theologie einbezieht. Und sie möchte eine theologische sein, die sich als Liebe zur Weisheit versteht.1

Manches Detail und manche spannende Randfrage konnten beim Blick aufs „große Ganze“ nur unvollkommene Beachtung erfahren, was ich freilich bedaure, auch um der vielen interessanten Denker hinter den Details willen. Eine Dissertation üblicher Art hätte sich darauf beschränkt, Liebe und Sein bei diesem oder jenem Autor zu recherchieren. Mir aber ging es darum, den Zusammenhang einmal grundsätzlich aufzurollen, so dass er uns auch zu einer Seins-Perspektive wird.

Ein zu hoher Anspruch? Ein überfälliger, – steht doch das Vollkommene ohnehin nicht in Büchern. Es bestünde in der vollkommenen Verbindung von Liebe und Sein, in der Übereinstimmung unserer Wirklichkeit mit den guten Gedanken des Seinsschöpfers. Und eine solche „Seinswahrheit“ kann ein Buch nur durchdenken und dafür plädieren, sie aber nicht verkörpern. Der christliche Inhalt, das Evangelium, sucht noch immer seine zu ihm passende Form, eine die Welt überzeugende und bewegende Form. Auch ihrer Findung gilt dieses Werk, von dem ich mich freue, es mit Korrekturen und Ergänzungen erneut vorlegen zu dürfen.


1 Im Sinne konstruktiver Grenzüberschreitung soll auch den Einsichten der jüngeren Wissenschaftslehre entsprochen sein, wonach Kreativität orthodoxe Methodenstrenge schlägt. Das Verheißungsvolle intuitiv erfassen, es mutig postulieren, wissend, dass wir irren können, und das bleibend Interessante spielerisch ergründen – so gelingt nach Karl Popper und Paul Feyerabend wissenschaftlicher Erkenntnisfortschritt in menschheitsrelevanten Fragen. Die Philosophie setzt diese periodisch auf ihre Agenda, die Theologie bleibt ihnen dauerhaft verpflichtet.

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Vorwort

Wenngleich über die Liebe soviel Schönes geredet wie über das Sein2 Kluges gedacht wurde, ist, im größeren Maßstab gesehen, es bislang zu keiner dauerhaften Vermählung gekommen. Dort erscheint die Liebe eher wie ein hübscher Schmetterling, der auf dem schroffen Seinsacker einmal hier, einmal da landet, ohne nachhaltig Spuren zu hinterlassen. „Gnade und Wahrheit“ (Joh.1,14) aber soll die Flur samt ihren Bewohnern auszeichnen, seit Christus zu ihrer Erlösung erschienen ist. Darüber haben Theologen aller Konfessionen vielfältig referiert, um beim Versuch das Sein hinter das eigene Wahrheitsverständnis zu spannen aber festzustellen, dass so nur neue Parzellen samt ihren geistigen Umzäunungen entstehen. Auch und gerade die besten Absichten bescheren uns regelmäßig neue Zerrissenheiten und Konflikte. Welches also ist der gute Same, der auf dem Acker wirklich Liebe wachsen lässt und ihn verwandelt zu einer einladenden Wohnstätte für alle?

Dass zur Liebe selbst bislang noch gänzlich Unbekanntes gesagt werden kann ist unwahrscheinlich, auch im christlich-theologischen Bereich, wo sie im vergangenen Jahrhundert Gegenstand profunder Abhandlungen war, die wir zu würdigen haben werden als Annäherungen an das aus christlicher Sicht großartigste aller Liebeszeugnisse – das des Neuen Testamentes. Auch ihre Betrachtung als Grundkraft allen Seins wurde in der Vergangenheit in Ansätzen bereits angestellt, wobei Spekulation und Wunschdenken stringente Erläuterung zumeist übertrafen. Neu ist an dieser Stelle neben der historisch-systematischen Aufbereitung der Thematik ihre kommunitäre Zuspitzung vom Kern der christlichen Liebe aus. Die Idee, den ganzen „Acker“ zu kultivieren – um im Bild zu bleiben –, wird dann allerdings fraglich. Wir haben es dann wieder mit der Perle im Acker zu tun. Insbesondere ein Novum wäre schließlich auch die konsequente Umsetzung des schon immer Gewussten, die Realisierung des göttlichen Anspruchs, wofür in Erinnerung jenes Kerns Vorschläge gemacht werden sollen.

Für die Durchführung dieser Untersuchung bedeutet dies, dass in Tuchfühlung mit den traditionellen Interpretationen der spezifisch christliche Inhalt der Liebe neu eruiert und so zur Anwendung gebracht werden soll, dass von ihr aus es möglich werden soll, was als Sein bezeichnet wird, unter dem Signum dessen ←17 | 18→zu begreifen, was die Kirche die „gute Nachricht“ Gottes nennt – nämlich eben die Botschaft seiner Liebe. Wir schauen auf die biblische Seinsordnung in der Agape, die über die Rettung des Einzelnen hinaus auch die Gemeinschaft der Glaubenden unverwechselbar kennzeichnen möchte. Wir erinnern daran, dass sie jene Einheit beabsichtigt, die exklusiv der Macht Gottes entspringt und die auch ein neues Erkennen – eben des bislang uns Fremden – ermöglicht. In der Neugestaltung unseres persönlichen wie auch unseres kirchlichen Seins kann und möchte die Liebe Gottes auch die Wahrheit Gottes vollständig verifizieren.3

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Dies gilt es – auch im Blick auf die Konfessionsgeschichte – zuzulassen. Wo sie ihres Liebes-Charakters verlustig gegangen ist, plädieren wir daher für die Umkehr zu einem das Sein im Sinne des Schöpfers zurechtbringenden Evangelium, ohne dabei die Grenzen zu übersehen, die auch der Kirche als einer in dieser Welt befindlichen gesteckt bleiben. Beim Verweis auf seine Ursprünge in jener Liebe als dem zeitlosen christlichen Qualitätsmerkmal aber hoffen wir mit der Plausibilität auch der Zukunftsfähigkeit des christlichen Projekts, so Gott will, dienlich zu sein.


2 Was wir „Sein“ nennen, hieß bei Heidegger „Seiendes“, die Vorstellung Gottes mit eingeschlossen. Da die Unterscheidung Sein – Seiendes aber eine fiktionale, empirisch unbewährte geblieben ist, wird sie von uns aufgegeben bzw. auf das begrifflich Nötigste reduziert. Und da wir von christlicher Warte aus alles Sein oder „Seiende“ als geschöpfliches, mit den uns gegebenen Möglichkeiten auch erforschbares und aussagbares betrachten, sprechen wir von Gott nicht als Seiendem, sondern als demjenigen, der uns als Schöpfer allen Seins darüber auch – ontologisch verbindliche – Auskunft zu geben vermag.

3 Für das Verständnis von „Wahrheit“ ist die von Aristoteles hergeleitete Aussage „veritas est adaequatio rei et intellectus“ bis heute zu Recht die Standardformel, auf die alternative Wahrheitstheorien noch immer rekurrieren. Sie ist die beste, weil die umfassendste und dabei doch die Anforderung präzise zum Ausdruck bringende Definition. Sie hat noch keine der vielen Reduktionen vollzogen, die Wahrheit als Konsens, als Zusammenhang oder auch nur als die formale Richtigkeit einer Aussage bestimmen will, als semantische Konstruktion, als subjektive Erfahrung, als Nützlichkeitserwägung oder als schlicht unnötige Liebesmüh.
Die Ur-Anforderung an die Definition von Wahrheit ist: Sein und darüber Denken einander passend zu machen. Mit Blick auf dieses hohe Ziel enthält die adaequatio-Formel zunächst nur die eine, implizite Bestimmung, dass ihre bipolare Struktur nicht aufgelöst, sondern ihr Rechnung getragen werden soll. In theologischer Anwendung aber haben wir zumindest zu klären, wessen Sein und Denken denn gemeint ist: Dasjenige Gottes oder das des Menschen? Wir haben somit zu entscheiden, welche der folgenden Bedeutungsvarianten gelten soll:
Erstens: Das göttliche Sein muss der menschlichen Vernunft entsprechen. Diese Variante ist, solange wir von einem lebendigen, superioren Gott reden, evidenter Unsinn.
Zweitens: Das göttliche Sein muss der göttlichen Vernunft entsprechen. Dieser Sachverhalt erscheint logisch, kann aber von uns Menschen nicht überprüft werden. Letzten Endes ist er für uns auch irrelevant.
Drittens: Das menschliche Sein muss der menschlichen Vernunft entsprechen. Diese immanente Übertragung des vorhergehenden Satzes ist ebenso einsichtig, wenngleich wir hier genau wissen, dass sie dennoch regelmäßig von uns verletzt wird.
Viertens: Das menschliche Sein muss der göttlichen Vernunft entsprechen. Das ist der biblisch-christliche Standpunkt. Christlich verstanden, wird das Sein dem Denken Gottes, seiner originalen Idee also angepasst, und zwar durch Gott selbst. In der Wahrheit als Angemessenheit des Seins an sein Denken besteht das Spezifikum der schöpferischen Wahrheit Gottes, wohingegen die rezeptive Wahrheit des Menschen nie über das Umgekehrte hinauskommt: die Anpassung seines eigenen Denkens an das bestehende Sein. Ob man an seine transzendenten Implikationen glauben mag oder nicht, der Gedankenkreis von Sein und Intellekt wird so erst vollständig. Denn auf die Weise ist nicht nur an unserem vorhandenen Sein angeknüpft, es ist auch die Möglichkeit eines „anderen“, eines von Gott veränderten Seins berücksichtigt, wie dies wiederum den Möglichkeiten seines Denkens, den Möglichkeiten seines Logos entspräche.
Damit aber ist auch Kompetenzfrage bezüglich Sein und seiner wahren Beurteilung gestellt, die, wo wir solche Kompetenz dem Menschen zuweisen wollen, zu der oben genannten Reduzierung unserer Wahrheitsansprüche führen muss. Denn eben aufgrund der Einsicht in unsere beschränkten Möglichkeiten hat unser Verständnis von Wahrheit sich im Laufe der Philosophiegeschichte immer weiter verzwergt. Ihr Wandel vollzieht sich von der Unverborgenheit eines höchsten Ansprüchen genügenden Seins, das schon die Vorsokratiker erwogen und von dem zuletzt auch Heidegger wieder gesprochen hat, hin zur schlichten Erkenntnis-Gewissheit, zur vernünftigen Urteilswahrheit Kants und seiner Nachfolger. Die genuin christliche Wahrheit aber will eindeutig mehr. Sie will eine Wahrheit als die Verlässlichkeit der Liebe Gottes, eine Wahrheit, in der auch wir wahrhaftig sind.

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Einleitung A. Die fundamentalontologische Relevanz der Liebe

1. Die Ausgangsfrage

1.1 Das Sein als fragliches

Der Umstand, dass das Leben neben allem Schönen, Willkommenen und Sieghaften sich niederschlägt in Verhängnissen, Verletzungen, Unwägbarkeiten, Scheitern und Neubeginn, am Ende in Verfall, Gebrechen und Tod, ist einer der Hauptgründe für das, was von alters her „Philosophie“ heißt – die denkerische Bemühung, mit eben dem Leben zurechtzukommen. Ein so zerbrechliches wie reizvolles Projekt ist es, eine Gratwanderung zwischen Freud und Leid, ein Wechselbad der Gefühle des Alles- und Nichtshabens, um dabei immer auch schon die gegenteilige Wahrheit ticken zu hören. Eine wilde Formation innerer und äußerer Klippen, in der Abgründe und Ungewissheiten jene Glücksmomente auf sonnigen Höhen säumen, für die wir marschieren und auch zähestes Gelände bewältigen – einmal einsam, einmal gemeinsam, einmal grenzenlos zuversichtlich, einmal verzweifelt ausweglos auf der Suche nach dem Ort, an dem wir sagen: Hier darf und will ich bleiben, hier ist gut sein. Doch die Dinge bleiben im Fluss, ständiger Veränderung unterworfen, das Seiende erweist sich als das Im-Augenblick-Seiende, keinerlei Garantie bietende, das „Sein des Seienden“ als Fragilität. Darum: die „Liebe zur Weisheit“, zu jener Weisheit, die in aller Unbeständigkeit uns Orientierung und Stabilität verschaffen soll, die uns hinaufführt zu den Gärten des Guten, Wahren und Schönen. Dafür träumen denken und forschen wir. Oder, wie Heidegger es in aller Knappheit sagt: „Menschsein heißt schon philosophieren.“4

Schon in dem Begriff Philosophie ist somit eine Variante von Liebe vor diejenige Weisheit gesetzt, die der Problematik des Seins zu Leibe rücken will. Die Neigung zu hilfreicher, sinnstiftender Erkenntnis ist deren originaler Beginn.5 Was aber ist zu halten von eben dieser Neigung, die vor der Erkenntnis steht, die den Menschen treibt erkennen zu wollen, erkennen zu müssen? Was von seiner Befindlichkeit, seinen Problemen, die ihn als fragendes Wesen erst auf den Weg schicken? Haben wir unsere eigene mentale Disposition schon hinreichend verstanden? An dieser ←21 | 22→Stelle forschen die Humanwissenschaften, die Psychoanalyse etwa, die ihrerseits aber nicht zurück können hinter die Probleme, die ihnen erst die Aufgabe gewiesen haben. Auch ihnen zeigt sich: Dem menschlichen Verstand sind Phänomene vorausgesetzt, an deren Beschaffenheit, an deren Seinsweise die Vernunfttätigkeit sich erst entzündet im Maße, wie diese Seinsweise sich als eine problematische erweist. „Zweifel“ hat man solches Ur-Erleben genannt, „Staunen“ über Einheit und Vielheit, Stoff und Form, Ewigkeit, Vergänglichkeit, über die vielfache Unerklärbarkeit der Dinge,6 die wie Geworfene erscheinen und nach ihrer tieferen Ergründung rufen. Der Mensch ist von Natur aus Philosoph, weil ihn die Frage nach dem Sein begleitet,7 gerade wie die Verlegenheiten seiner Existenz. Und sie ist weichenstellend für die Art und Richtung seines Denkens. Denn, ob die menschliche Vernunft eine solche Ergründung zu leisten vermag oder nicht: Erst ist das Ding als so-seiendes, dann tritt die menschliche Vernunft in Bearbeitung des Soseienden in Erscheinung; ein Vorgang, der nur im Seinsbereich Gottes ein umgekehrter ist, wo nach christlicher Lehre der Logos vor aller Individuation steht. Im Bereich der Immanenz aber wissen wir nicht erst seit heute: Wie das Ding ist, sein „Sein“, ist gerade nicht zuerst eine Frage der Vernunft, sondern seiner Formung und Prägung einschließlich dessen, was uns „vernünftig“ erscheint.8

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Auch die Sozialwissenschaften sind schwerlich imstande, diejenigen Fragen zu erhellen, zu lösen gar, die sie als Sozialwissenschaften erst auf den Plan gerufen haben. Sie arbeiten ebenfalls am Vorfindbaren und sind dessen reflexives Produkt. Auch die sozialpsychologische Vernunft wird determiniert durch eine Grundgestimmtheit des Subjekts der Vernunft, die klassischerweise eine „metaphysische“ genannt wird. Die Frage nach des Menschen Frage greift über den Menschen hinaus. Es ist die Frage, ob da etwas ist, was ihm wirklich Halt gibt – so sehr, dass mehr noch als seine pragmatischen Verstandeskräfte eine sie konstruktiv ausrichtende, eine positive ganz-personale Grundverfassung angeregt wird, eine Position existenzieller Souveränität, ein Getröstet-Sein, in welchen Seins-Widrigkeiten homo sapiens sich auch befinden mag. Es ist diejenige Frage, die vorentscheidet, ob der Mensch wirklich Freund des Menschen sein kann oder Streiter sein muss für sein eigenes Glück. Es ist die Frage nach der Urintegrität des Seins. Denn so sehr das Sein ein großartiges und faszinierendes ist, so sehr verharrt es in Verwicklungen, Komplikationen und Spannungen. Das Sein, das wir kennen, ist das schwierige, und darum gilt unser geistiger Ur-Antrieb der Frage, wie solches zu meistern sei.

Diesbezüglich ist in der Geschichte der Philosophie eine optimistische Sichtweise die zumeist dominierende gewesen. In den phantastischen Konstruktionen des deutschen Idealismus hat sie ihren Höhepunkt, keinesfalls aber ihren Endpunkt erreicht, sondern sich aufgemacht, nach Überwindung einiger vehementer Gegenreaktionen wie ehedem das eigene Geschick als Sache der eigenen Möglichkeiten anzusehen – ausgehend von der Überzeugung, dass nicht nur die Vernunft, sondern erst recht die mit der Vernunft verquickten fundamentalpsychologischen Belange des Menschen bei ihm selbst recht aufgehoben seien. Bei Scheler etwa wird der Zusammenhang menschlicher Geistestätigkeit und deren emotiver Gründung nicht nur gesehen, sondern klar positiv gedeutet. Vom Menschen wird gefordert, dass er ein demütiges Dankwesen sei, ein in der Liebe weltaufgeschlossenes, erwartungsfrohes aufgrund eines natürlich-emotionalen Grundvertrauens,9 sodass in ihrer Umfänglichkeit wohlklingende, in ihrer komplikationsfreien Simplizität aber fragliche Aussagen getroffen werden wie: „Der Mensch ist, ehe er ein ens cogitans ist oder ein ens volens, ein ens amans.“ Oder: Die Liebe ist „immer die Weckerin zur Erkenntnis und zum Wollen – ja die Mutter des Geistes und der Vernunft selbst“.10

Diesen, schon bei Aristoteles vorgebildeten Zusammenhang11 sieht die Heilige Schrift differenzierter und, wie wir meinen, auch die menschliche Praxis, welche die Liebe als Grundakt des Vertrauens dort erlaubt, wo das Vertrauen selbst auf festen Grund zugreifen kann. Das Sein ist aber gerade nicht geprägt durch die Erfahrung eines von Grund auf Angenommenseins, eines Gehalten- und Gesichertseins, ←23 | 24→sondern durch die seines Hinausgeworfenseins in einen Existenzkampf, den der Mensch am Ende in jedem Fall verliert. Der Mensch ist determiniert durch die Heraufkunft seines Todes,12 dem Wissen darum, einmal selbst das Letzte zu verlieren, ohne dass irgendeine Wissenschaft dies verhindern kann, wenngleich ihr mittlerweile selbst die Lösung dieses Sachverhaltes angetragen wird. Die Liebe zur Erkenntnis ist darum nicht deren Beginn, sondern ihrerseits schon Erzeugnis einer Misere, tieferliegend als die Erkenntnisfrage. Sie ist Ausdruck eines – wir sagen: fundamentalontologischen – Liebesdefizits,13 dem der Mensch weder mit seinem eigenen Lieben abzuhelfen vermag, noch mit seiner Vernunft. Solange auch sie von dem vernichtendsten aller Seins-Szenarien gehalten ist, gilt das Wort von Jaspers, dass „des Menschen Endlichkeit Ursprung aller Unwahrheit“ ist.14 Wir haben darum die Aussage Schelers zu ergänzen und zu präzisieren durch die biblische, wonach die „Furcht Gottes Anfang der Erkenntnis“ ist (Spr.1,7), jene Haltung also, die, wissend um den Ernst der menschlichen Lage, vom Urgrund des Seins selbst Hilfe erhofft.

1.2 Die Funktion des Eros

Auch darum ist der Mensch das umtriebige, das einfallsreiche und kämpferische Wesen. Imponierend sind die Leistungen, die unsere Spezies ihrer existenziellen Ungeborgenheit abgerungen hat, der keine technische Hürde zu hoch scheint und die selbst die eigene Intelligenz noch künstlich zu übertreffen vermag. Der Mensch widerspricht gerade mit aller Leidenschaft seiner Vergänglichkeitsperspektive, stemmt sich ihr mit seiner ganzen Geisteskraft entgegen. Solche Bemühung – klassisch „Eros“ genannt15 – zielt auf die Beseitigung oder, wo solche unmöglich erscheint, wenigstens auf die Kompensation der fundamentalontologischen Instabilität. Dafür strengen wir uns an, wissenschaftlich-technisch, ökonomisch und sozial, um schließlich zu erfahren, dass all unsre Bemühung das Urübel doch nicht zu beseitigen vermag. Alles Behelfs-Sein liefert uns doch nicht das eigentlich gewünschte Resultat.

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Eros ist in diesem Sinne, wie schon in Adaption des Aristoteles bei Thomas von Aquin, menschliche Grundleidenschaft,16 menschlicher Urtrieb auf der Basis seiner Ur-Sehnsucht nach der Vollständigkeit und Integrität seines Seins. Er ist das Streben danach, das Unverfügbare eben doch in irgendeiner Form, und sei sie nur ein fader Abklatsch, verfügbar zu machen. Auf diese Weise eignet dem Eros eine Art bipolare Störung. Als die Fülle unserer vitalen, kreativen Potentiale ist er Ausdruck intensivsten Seinserlebens, er ist aber auch Ausdruck besagten fundamentalontologischen Dilemmas, – der Verlorenheit des Menschen im Kosmos, der Abwesenheit eines verlässlichen Fundamentes, das die Unantastbarkeit seiner Person garantieren und ihm den ersehnten Frieden bringen könnte. Eros bezeichnet die instinktive Reaktion auf das in unseren psychischen Tiefen stets hellwache Bewusstsein, dass uns eben doch keine unbegrenzte Fülle von Entfaltungsmöglichkeiten mit auf den Weg gegeben ist, sondern im Hintergrund all dieser Möglichkeiten eine abgründige Gefahr, die alles Sein verschlingen möchte, ein gewissermaßen ontologisches „schwarzes Loch“. Der Sinnlosigkeit unseres Seins und unserer Mühen wollen wir unbedingt entkommen. Das ist unser Begehr. Es macht den Eros zur sein-wollenden Antriebskraft des Menschen schlechthin oder – in theistischer Perspektive – zum Bewegtwerden durch den liebenden Ursprung des Guten, Schönen und Wahren.17

Als Eros bezeichnenderweise, nicht als Philia, hat die Urausprägung des menschlichen Erkenntnistriebs denn auch erzeugt, was Kultur- und Geistesgeschichte heißt, in welcher die Qualitäten der Philia – Solidarität und Freundschaft – nicht eben zu herrschenden Konstanten geworden sind. Gar zu oft fallen sie dem zum Opfer, was wir meinen hartnäckig verteidigen zu müssen, und seien es nur unsere kleinen Erkenntnisse und Überzeugungen. Insofern die Bemächtigung des Seins durch Wissen nicht immer auch schon ein gemeindienliches, ein „soziales“ Unterfangen ist, wäre an dieser Stelle schon die Unterscheidung zwischen „Wissen“ und „Weisheit“ angezeigt, die Frage nach beider Relation und Wertigkeit, mithin danach, was denn im Sinne des Humanums das Bedeutendere sei.18 Dieser Unterschied soll aber im Verlauf der Untersuchung noch deutlich werden. Nicht Philia jedenfalls verursacht das Bedürfnis nach Erkenntnis, sondern viel eher jener ←25 | 26→spontane Drang nach Sicherung, auch nach Steigerung des eigenen Daseins, dem der menschliche Geist sich in aller Regel unreflektiert dienstbar macht.19

←26 | 27→

In der Weise ist das Weisheitsstreben zu Beginn der Neuzeit in das Streben nach Wissenschaftlichkeit umgeschlagen, in welcher die Vernunft die Rolle der die ursprünglichen Seinsprobleme vermeintlich lösenden Instanz fest für sich vereinnahmen konnte. „Gut ist, was vernünftig ist“ – das meinen wir noch heute. Wir haben die Qualität des Seins in Abhängigkeit von der Vernunft (ratio) als der regulativen Kraft des Verstandes (intellectus) gebracht, die als gleichermaßen welterkennend wie wertestiftend anerkannt, mit dem „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) faktisch die Rolle derjenigen Heilsinstanz einnehmen musste, die ehedem Kirche und Glaube anvertraut war. Bei allen Kränkungen, die die Vernunft durch Pessimismus, Nihilismus, Psychoanalyse, Neomythologie und erkenntnistheoretischen Pluralismus erfahren hat, kann ihr prinzipieller Primat in Seinsangelegenheiten zumindest in theoretischer Hinsicht so sehr als unumkehrbar angesehen werden, wie ihre Regentschaft paradoxerweise in der praktischen Ausgestaltung unseres banalen, unseres täglich greifbaren und gerade unseres sozialen Seins so häufig vermisst wird.20 Regelmäßig unvernünftig behandeln wir uns selbst, unsere Mitmenschen, unsere Umwelt und erwarteten doch selten mehr als in unserer komplizierten Gegenwartssituation von des Menschen Klugheit die entscheidenden Impulse für des Menschen Wohl. Zwar haben wir gelernt, unserer Vernunft zu misstrauen, gleichzeitig scheinen wir ihr aber auf ←27 | 28→Gedeih und Verderb ausgeliefert, denn über etwas Besseres scheinen wir nicht zu verfügen.21 Ist das wirklich so? Und ist das bei uns Christen wirklich so?

Nach christlicher Anschauung erreicht der Eros seine Vereinigung mit dem Göttlichen gerade nicht durch eigene Anstrengung – der unüberwindlichen Barriere der Sünde wegen. Als „Verlangen nach Selbstvollendung“22 fehlt ihm nicht nur die realistische Erfolgsperspektive, er steht auch unter dem Hybrisverdikt Gottes (Rö.1,22). Darum ist der christliche Heilsweg ein anderer, der Eros-Bemühung gegenüber reservierter, ohne sie dabei zu verachten. Auch wir Christen können die Schaffenskraft des Eros nur respektvoll anerkennen und bewegen uns insofern weit ab von einer kulturverneinenden Position. Auch wir meinen, dass die Energie und Zuversicht bestaunenswert sind, die aus der Frag-Würdigkeit unseres real-leiblichen Daseins die causa materialis unserer geistigen Erfolge schufen. Und doch werden Letztere das Erste nicht wirklich beseitigen, bis einstmals sich die Schleier über unseren Fragen endgültig lüften. Bis dahin versuchen wir die Probleme nach Möglichkeit zu mildern und wissen instinktiv, dass dabei, was wir „Liebe“ nennen, eine wesentliche Rolle spielt. Am Ende aller Anstrengung bleibt uns die Ahnung, dass nur sie eine wirksame Gegenkraft sein könnte, eine Qualität, um deretwillen es sich gelohnt haben könnte, der vielen Flüchtigkeit und Mühe lebenslang ins Auge geschaut zu haben. Gerade nachdem wir unsere kreativen Leistungskräfte ausgeschöpft haben, sehnen wir uns nach der Liebe schlichtem, aufrichtigem Zuspruch – oder ihrer schweigenden Umarmung. In und mit der Härte des Seins erhärtet sich auch der Eindruck, dass tatsächlich nur „die Liebe stark ist wie der Tod“ (Hoh.8,6).

1.3 Die Grenze des Eros

Die Frage nach einem veränderten Seinszugang ist umso dringender geworden, als heute offen zutage liegt, dass die modernen Wissenschaften – des Eros wohl beeindruckendste Errungenschaft – die Probleme kaum mehr lösen, als dass sie sie erzeugen und schon gar keine ethische Orientierung geben. Entsprechend abgenommen hat das Vertrauen in die Wissenschaften. Waren sie einst Träger größter Hoffnungen den existenziellen Bedrohungen beizukommen, bestehen heute berechtigte Bedenken gegenüber einer wissenschaftlich-technisch entfesselten Vernunft, die alle Hände voll zu tun hat, ihrer eigenen Überdehnung Herr zu werden; zu verhindern, dass sie ihr eigenes Seinsgeflecht nachhaltig beschädigt, bzw. dafür zu sorgen, dass schon erfolgte Störungen des Schöpfungsgleichgewichts, wo noch möglich, wieder ausgeglichen werden. Darüber hinaus noch etwas wie die vielgefragte Sinnstiftung zu liefern, scheint sie vollends zu überfordern. So blickt, auf seinem gegenwärtigen wissenschaftlichen Höhepunkt – womöglich schon bald ←28 | 29→an seinem Zenit – angekommen, der Eros der wissenschaftlichen Vernunft hinab, dorthin, wo das richtige Leben spielt, und stellt fest, dass die Distanz zu einem das Sein wahrhaft stabilisierenden Fundament sich nicht wirklich verringert hat, sondern eher größer ist denn je. Auf dem vorläufigen Gipfel der Vernunft dämmert die Einsicht, dass die Vernunft alleine die Lösung der Probleme nicht bringen kann, dass sich vielmehr das klassische Diktum sich bewahrheitet: „Wir fühlen, daß selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“23 Insofern aber die Möglichkeiten speziell der Naturwissenschaften nahezu ins Unendliche gestiegen scheinen, so als sei ihnen so gut wie nichts mehr unmöglich, ist dieses Gefühl ein umso deprimierenderes und beunruhigenderes, signalisiert es uns doch überdeutlich die Synchronie menschlicher Macht und menschlicher Ohnmacht.

Anzuerkennen sind insbesondere die praktischen Errungenschaften der neuzeitlichen Wissenschaft, die gerade keine „reine Lehre“ geblieben ist, sondern den Alltag der Menschen zuletzt mit der Heraufkunft des Informationszeitalters gründlich revolutioniert hat. Wissenschaft und Technik haben echten Fortschritt begründet – in ihren Anfängen den wohl größten: den Menschen von den Zwängen elementarer Daseinssicherung zu befreien, um so auch die Möglichkeiten des eigentlichen „Humanums“ auszureizen. Sie haben ihm den Freiraum zur Reflexion seiner geistigen Identität geschaffen, für deren Klärung Wissenschaft und Technik selbst aber gerade nicht mehr hinreichen. Gerade der Erfolg von Wissenschaft und Technik hat den Blick auf die transzendentale Gründung des Daseins verstellt, sodass wir uns schwer tun, Autoritäten neben ihr wieder anzuerkennen, zumal wir wissen, wie in der Vergangenheit gerade kirchliche Autorität am legitimen wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse auch schuldig geworden ist. Ihr dennoch unwiderstehlicher Siegeszug im Einklang mit ihrer eminenten Praxisrelevanz ist es, der uns in den Bann geschlagen und der auch ihre relative Überlegenheit gegenüber den abstrakten Seinstheorien vergangener Epochen demonstriert hat. Aufgrund dieser historischen Erfahrung werden die Menschen auch künftig einseitig auf die handfesten Wirkungen eigenen Schaffens bauen, solange vermutlich, wie nicht auch der christliche Glaube seinen eigenen Praxisanspruch glaubhaft verifiziert – nicht in Konkurrenz, sondern in Anknüpfung dort, wo wissenschaftliche Mittel sich erschöpfen. Die Grenze und in deren Überstrapazierung die Krisis der Wissenschaft eröffnet neu die Aufgabenstellung von Religion und Metaphysik, innerhalb deren breiter Angebotspalette wiederum die „Frohe Botschaft“ ihre besondere Qualität nachzuweisen hat. Die christliche Theologie ist gefordert, ihren spezifischen Erkenntnisteil so zu aktualisieren, dass die Menschen von der Kirche erhalten, was die empirischen Wissenschaften von Hause aus nicht leisten können.

Das Problem gerade auch der Naturwissenschaften ist, verkürzt gesprochen, ihre systemimmanente Beschränktheit. Sie quantifizieren, sie qualifizieren aber nicht. Vielmehr ist ihr Geschäft, auch Qualitatives in quantitativen Bestimmungen ←29 | 30→auszudrücken, wodurch sie einer Wirklichkeit, die aus mehr als messbaren Funktionen und Relationen besteht, nicht hinreichend gerecht werden können. Indem Wissenschaft im weitesten Sinn Zusammenhänge beschreibt, bleibt sie naturgemäß an der Oberfläche des Seins hängen. Sie kann nicht hinter die Dinge schauen, die sie zu analysieren, zu dechiffrieren vermag, hinter die Naturgesetze etwa. Sie kann nicht sagen, durch wen oder was gerade diese Phänomene so und nicht anders existieren und wodurch sie womöglich verändert oder gar aufgehoben werden können. Wenn die Quantenphysik uns etwa lehrt, dass der Naturprozess nicht nur kontinuierlich verläuft, sondern durchaus sprunghaft, ja kurios, geben solche Kuriositäten der wissenschaftlichen Ratio nahezu unlösbare Rätsel auf, und die Rätsel werden größer, je mehr Erkenntnis wir produzieren. So bleibt dieser weiterhin nur, den Beziehungen von Phänomenen nachzuspüren, denjenigen Kausalmechanismen, die, sobald sie sich zu erkennen geben, die Frage aufwerfen, wodurch dieser Kausalmechanismus denn wiederum bedingt ist. Die Naturwissenschaft kann niemals das Ganze der Wirklichkeit erfassen, sondern immer nur Erklärungsmodelle von Ausschnitten liefern, die ihrerseits nur so lange gültig bleiben, bis infolge verfeinerter Verfahren ihre Falsifizierung möglich geworden ist. So erreicht gerade die Physik niemals ihr Ziel umfassender Welterkenntnis. Die Frage scheint erlaubt, ob sie sich solcher überhaupt anzunähern imstande ist. Vor der Frage nach dem ersten Beweger spätestens ist ihr Latein am Ende und muss sie sich entscheiden, ob sie sich nicht auf Metaphysik einlassen möchte.

Für die Sinnfrage indes, die eine geistige ist, ebenso wie für die Wesens- und Wertefrage, ist und bleibt die Wissenschaft blind.24 Dabei ist Wissenschaft selbst freilich ein geistiges Unterfangen, getrieben von der Intention der Seinserkenntnis. Darum aber kann die Evaluierung ihrer selbst wiederum nur von einem geistigen Standpunkt aus geschehen, einem Standpunkt logischerweise, der über dem der Wissenschaft befindlich ist. Nur von einem solchen aus können die Probleme der Endlichkeit, der Entfremdung, die in der Tiefe der menschlichen Seele erfahrenen Übel angegangen werden. Die rationale Wissenschaft kann Verhängnis, Leid und Böses nicht wirklich bewältigen oder gar beseitigen.25 Für die essentiellen Nöte ←30 | 31→benötigen wir – und seien wir Nobelpreisträger – die Anwesenheit des Bergenden, Durchtragenden. Darum möchten die christlichen Kardinaltugenden Glaube, Liebe, Hoffnung das eigentlich passende Korrelat zur wissenschaftlichen Welterkenntnis bilden und können, wo sie sich selbst treu sind, solches auch leisten. „Die Entscheidung, ob das Leben sich lohne oder nicht, das ist die Grundfrage der Philosophie“26 – wir fügen hinzu: auch die echter Wissenschaft. Zu dieser Frage aber trägt der christliche Glaube Entscheidendes bei.

1.4 Die Bedeutung der Liebe und ihre theo-ontologische Dimension / Das Problem der Liebesvergessenheit

Die Tatsache, dass die Wirklichkeit des Seins, insbesondere des menschlichen, in einem irgendgearteten fundamentalen Zusammenhang steht mit dem als „Liebe“ bezeichneten Phänomen, bedarf keiner wissenschaftlich-theoretischen Verifikation. Die ontische Relation von Liebe und Sein ist uns wohlbekannt und ist bereits so tiefgreifend, dass auch ihr fundamentales ontologisches Verhältnis zu erwägen, auf der Hand liegt. Die Liebe Sie besitzt nicht nur jene für jedermann erahnbare, erspürbare und, so Gott will, auch erlebbare Evidenz, der die Dichter und Literaten huldigen, sondern auch vielfältige Wahrnehmung in Forschung und Feuilleton.27 Und selbstverständlich weiß die Metaphysik im Grundsatz von jeher um den außerordentlichen Stellenwert des Angenommen-Seins und hat auch eine Ahnung von ihrer transzendenten Sinngebungsfunktion. Hingegen wird die Tatsache, dass die Erkenntnis der fundamentalontologischen Bedeutung der Liebe zuallermeist im Schatten von Konzeptionen stand, die das Sein der Vernunft zuordneten, an dieser Stelle als eine Form immanenter Seinsbewältigung zu begründen und zu würdigen sein, die die Möglichkeiten der Liebe unterschätzt. Wir haben hier die Liebe neu zu qualifizieren – nicht auf Kosten, sondern im Dienste intakter Vernunft, indem wir herausarbeiten, wie sie vor aller Vernunft und deren Seinsverbindungen beide präformiert und prädisponiert, wie sie dem Sein also und der es bearbeitenden Vernunft ihre legitimen Platzanweisungen gibt. So soll im Überstieg von Eros und Philia, nicht als ihr Gegensatz, die christliche Agape als fundamentalontologische Kategorie aufgewiesen werden,28 als die Gestalt der Liebe, in der alles, das allgemeine wie das individuelle Sein, gegründet ist, dergestalt, dass in ihr der Gesamtprozess des Existierenden wie auch derjenige der personhaften Identitätsbildung ←31 | 32→ihre ursprüngliche Verwurzelung und intakte Ausprägung – nicht nur der Vernunft, auch des Willens, des Gefühls, der physischen Affekte – besitzen.29

Denn das nicht weniger evidente Urproblem des Seins ist seine physisch-psychische Instabilität, wobei die psychische Komponente nach christlichem Glauben ursächlich ist. Die Agape beansprucht, dieses Urproblem final zu lösen. Forschung und Technik federn es wohl ab, erleichtern dem Sein seine Lage, die Agape aber möchte es heilen. Nachdem das Thema des Seins-Individuellen den Psychologen, Soziologen sowie aktuell den Positivdenkern und Wellness-Experten anvertraut wurde, das des Universellen früher den Philosophen, heute den Globalisierungsmanagern, den Kosmologen und Gentechnikern, soll damit eine theologische Perspektive auf die klassische Frage nach beider Seinsgrund eröffnet werden, um von diesem aus freie Sicht zu gewinnen auf die spezifisch christliche Lösung klassischer Seins-Konflikte wie die von Einheit und Vielfalt, Individualität und Globalität, Wissenschaft und Weisheit und nicht zuletzt auch von Säkularismus und Fundamentalismus. Als all deren konstruktive Mitte haben wir die christliche Alternative in ihr ursprüngliches Licht zu rücken. Ihr originales Format zurückerlangend, soll die Seinsrelevanz der Liebe schließlich in der Gemeinschaftsfrage konkretisiert und für die betroffenen theologisch-dogmatischen Artikel fruchtbar gemacht werden.

Wo man sie nicht der Phantasie der Dichter überlassen hat, wird die Liebe gemeinhin auf evolutions-behavioristischem bzw. ethnologischem Hintergrund als Seiendes verstanden, als zunächst biochemisches,30 dann soziobiologisches,31 schließlich psychosoziales Phänomen.32 Als Seiendes ist Liebe ein unendlich vielfältig Ding, sodass als zweifelhaft gelten muss, ob überhaupt eine Wesenseinheit dessen, was alles wir im Deutschen undifferenziert als „Liebe“ bezeichnen, festgestellt werden kann. Speziell aus diesem Grunde wird sie auch selten einer systematisch-wissenschaftlichen Untersuchung unterzogen. Und so steht bei aller punktuellen Beachtung am Ende die praktische Bedeutung der Liebe doch in grobem Missverhältnis zu ihrer akademischen Behandlung. Insbesondere ist es seit langem unterblieben, die Agape als seinsstiftende und seinstragende Kategorie zu erwägen – auch in der Theologie, wo es eigentlich nahe liegt, die Liebe als ←32 | 33→Grundlage des Seins in Gestalt der Schöpferkraft Gottes, in Verbindung etwa auch mit der Logoslehre zu untersuchen.33

Die Vernachlässigung der nicht-trivialen Liebe kann nur erstaunen. Ihre wissenschaftliche Würdigung nur am Rande der theologischen, der philosophischen, der anthropologischen, der soziologischen, der psychologischen und selten auch der kosmologischen Disziplinen ist umso befremdlicher, als unser Gegenstand der für die meisten Menschen brennendste überhaupt ist und nichts uns mehr zu bewegen, zu stimulieren, zu den bisweilen verwunderlichsten Höchstleistungen anzutreiben vermag, als eben „was man Liebe nennt“34. Wer allein den Zustand des bloßen „Verliebtseins“ kennt, weiß, wovon die Rede ist, weiß, wie die Liebe uns instand setzt „Bäume auszureißen“. In der Liebe erst erfahren wir den vollen Zugriff auf unser eigenes Potential. Kein Börsenhype, keine noch so ausgeklügelte Informationstechnologie, auch nicht die Aussicht auf physische Perfektionierung, wohl auch keine synthetisch ermöglichte Unsterblichkeit kann ernsthaft konkurrieren mit jener gefühlten Seinsintensität, die geglückte Liebe uns beschert.35 In unserer Privatsphäre wissen wir also um die Liebe als Gütesiegel unseres Daseins. ←33 | 34→Und in dieser Erfahrung schwingt bereits etwas mit von der Begreifbarkeit der Liebe als fundamentalontologischer Potenz.36

Das phänomenologische Spektrum umfasst neben anderen die Liebe zu sich selbst, die zu Gegenständen, zu Überzeugungen, zur Familie, Stammesliebe, Vaterlandsliebe und – wohl die erregendste – zu Menschen, die man vorher niemals gekannt hat, insbesondere des anderen Geschlechts. Dabei wirken im Bereich des Zwischenmenschlichen, auf den wir uns konzentrieren wollen, neben der geschlechtlichen Komponente die im weitesten Sinne emotionale, die ästhetische, die ethische-soziale Liebe sowie diverse Misch- und Nebenformen aus den vielfältigen Zusammenhängen unserer Lebenspraxis, als deren gemeinsames Grundmerkmal wir ihre anziehende und einigende Kraft feststellen.37 „Liebe ist Vereinigungskraft“,38 als welche auch wir sie im Kern fassen und theologisch auswerten wollen. Dabei darf die Liebe nicht nur als intensivste persönliche Kraft gelten, sondern auch als – wie die Alten mit Fug und Recht behaupteten – Seinsgrundkraft überhaupt,39 als Kreativ-, als Schöpferkraft im Bereich des Menschlichen und darüber hinaus. Denn dass nicht Nichts ist, sondern die Dinge sind, hat nach christlicher Anschauung seinen Grund im Willen zum Sein seitens des Seins-Schöpfers: Gott. Der Grund für Sein ist demnach seine göttliche Seins-Bewilligung oder „Seins-Bejahung“, das Ja-Wort Gottes als die definitive Erlaubnis des Sein-Dürfens. Diese Bejahung ist, was wir in diesem fundamentalontologischen Sinne „Liebe“ nennen können.40 In diesem „Ja“, unter seiner Beeindruckung und Prägung, soll das Geschöpf sein und sich gemäß seiner je eigenen geschöpflichen Disposition entfalten, Raum greifen dürfen und damit auch „zur Welt kommen“ (Sloterdijk).

Der Tiefe und Tragweite dieses „Ja“ Gottes wollen wir nachspüren, es soweit wie möglich theologisch qualifizieren. Aus biblischem Blickwinkel soll somit systematisiert werden, was schon immer bekannt war und ist: Dass vor dem Sein die Liebe steht, deren Ausmaß die Grundbefindlichkeit des Seins determiniert und damit auch alle Bemühungen um eine etwaige Verbesserung der eigenen Seins-Situation. Insofern ist die Frage nach dem Sein eine theologische Frage und soll als solche hier behandelt werden. Wir deuten das Sein von der Liebe Gottes her, um von einem verwandelten Sein aus verbindliche Erkenntnis zu gewinnen – für ←34 | 35→dessen Bewahrung und gegebenenfalls auch für seine Korrektur. Das Thema der Liebe soll so vor die Seinsfrage treten, dass nach der Vernunft Gottes gefragt wird, die höher als die menschliche dadurch ist, dass sie den Menschen wirklich und wahrhaftig erkannt und ihm in all seinen Miseren entscheidend und nachhaltig geholfen hat. Denn nicht nur das Dass des Seins hängt an seiner vorauslaufenden Bejahung, auch das Wie. Die Qualität und Integrität des Seins hängen an der Frage, inwieweit seine Bejahung gegeben ist. Das Maß des Willens zum Sein, das Maß bzw. die Konsequenz seiner Bejahung, auch Widerständen, auch Verletzungen zum Trotz, ist das Maß erfahrbarer Liebe. Solche Liebe hat, wie zu zeigen sein wird, in Überschreitung der genannten Ebenen ihre höchste Stufe in Gestalt der christlichen Vergebungslehre erreicht. Hier erst sind all diejenigen Verirrungen, Barrieren und Hartnäckigkeiten überwunden, die zum Leid-Wesen des Seins beitragen.

Details

Seiten
486
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631825006
ISBN (ePUB)
9783631825013
ISBN (MOBI)
9783631825020
ISBN (Hardcover)
9783631818114
DOI
10.3726/b17234
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (August)
Schlagworte
Liebe Agape Sein Seinsfrage Vergebung Ökumene Fundamentalontologie
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 486 S.

Biographische Angaben

Bernt Knauber (Autor:in)

Bernt Knauber hat Theologe und Philosophie in Heidelberg, Gießen und Pretoria studiert. Der Autor ist Initiator ökumenischer Projekte und behandelt Elementarthemen der Philosophie und Theologie.

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Titel: Liebe und Sein
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