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Regelfolgen, Regelschaffen, Regeländern

Die Herausforderung für Auto-Nomie und Universalismus durch Ludwig Wittgenstein, Martin Heidegger und Carl Schmitt

von Manuela Massa (Band-Herausgeber:in) James Thompson (Band-Herausgeber:in) Stefan Knauß (Band-Herausgeber:in) Matthias Kaufmann (Band-Herausgeber:in)
©2020 Sammelband 390 Seiten
Reihe: Treffpunkt Philosophie, Band 17

Zusammenfassung

Regeln sind essentiell für das menschliche Zusammenleben, von der Sprache über Brauchtum und Moral bis hin zur Rechtsordnung. Es führte daher in eine bis heute anhaltende Verunsicherung, als drei der wirkmächtigsten Theoretiker des frühen 20. Jahrhunderts einige der mit dem Regelbegriff verbundenen kulturellen Selbstverständlichkeiten zur Disposition stellten. Dies betraf die Entstehung von Regeln, ihren Geltungsbereich, ihre Verbindung zu unserer Lebensform und die Frage, was wir tun, wenn wir einer Regel folgen. Im vorliegenden Band werden aus verschiedenen Perspektiven die Schlüssigkeit und Relevanz der von diesen Autoren vorgebrachten Argumente untersucht und die Auswirkungen auf die Gegenwart diskutiert.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung (Manuela Massa / James Thompson / Stefan Knauß / Matthias Kaufmann)
  • 1. Regel, Gerechtigkeit, Rechtsnorm
  • Das Gesetz des Ortes. Ein Versuch über Heidegger und Sophokles (Diego D’Angelo)
  • Heidegger: „Alles in Bewegung halten“. (Überlegungen und Winke III, nr. 38) (Robert Schnepf)
  • Heideggers Verortung der Verbindlichkeit. Das „Gesetz des Seins“ als Fuge des Ereignisses (Rosa Maria Marafioti)
  • Sources of Legal Normativity and Rule Interpretation in Hans Kelsen and H.L.A. Hart (James Thompson)
  • Hard positivism, soft positivism: zwei Norm- und Regelbegriffe (Kelsen, Hart) (Jean-François Kervégan)
  • Carl Schmitt und der Regelskeptizismus (Matthias Kaufmann)
  • 2. Regeln und Lebensform
  • Authenticity and Critique. Remarks on Heidegger and Social Theory (Gerhard Thonhauser)
  • Giovanni Gentile and Martin Heidegger: Conceiving Freedom through Spinoza’s Pantheism (Michela Torbidoni)
  • Eigentlichkeit und Agency. Bemerkungen zu Sein und Zeit (Jesús Adrián Escudero)
  • „Fakten, Fakten nochmals Fakten aber keine Ethik“ – Ludwig Wittgensteins Vortrag über Ethik (Stefan Knauß)
  • From the Logical Form to the Form of Life. Wittgenstein’s Thought between Literature and Science of Myth (Francesco D’Achille)
  • (Ordens-)Regel und Leben(-sform). Bemerkungen über eine Ununterscheidbarkeitszone zwischen Ludwig Wittgenstein, Michel Foucault und Giorgio Agamben (Antonio Lucci)
  • 3. Regel und Praxis
  • Urbild, Paradigma, Regel (Herbert Hrachovec)
  • Regeln als grundlose Wiederholung der Praxis. Transformation und Krise bei Wittgenstein (Lucilla Guidi)
  • Creativity, Exemplarity and Feeling. Emilio Garroni as Philosopher of Rules (Dario Cecchi)
  • Frege and Heidegger (Pietro D’Oriano)
  • Universal Moral Principles and Mother Wit, or: Étienne Tempier and Cold War Rationality (Kenneth R. Westphal)
  • „Logos“ und „Nomos“ bei Heidegger und Schmitt (Manuela Massa)
  • Dezisionismus und Entscheidung. Bemerkungen zur gegenwärtigen Anwendung in der lateinamerikanischen Politikwissenschaft (Luciano Nosetto)
  • Die Autorinnen und Autoren
  • Reihenübersicht

Manuela Massa, James Thompson, Stefan Knauß, Matthias Kaufmann

Einleitung

Regeln sind ein essenzieller Bestandteil menschlichen Zusammenlebens. Entsprechend vielgestaltig ist die Art, wie sie dieses Zusammenleben ordnen, von Sprachregeln über Spielregeln und Benimmregeln zu den Normen und Vorschriften moderner Rechtssysteme. Beinahe ebenso zahlreich sind die Theorien darüber, was man unter Regeln zu verstehen habe und wie sie anzuwenden seien. In einer ersten Annäherung besteht die Rolle von Regeln darin, durch ihre Geltung, d.h. durch ihren verpflichtenden Charakter, die Stabilität der sozialen Ordnung in einer Gesellschaft zu gewährleisten. Ob sie diese Leistung durch allgemein geteilte normative Überzeugungen, durch Eingewöhnung und Drill, durch Drohung mit Zwangsmaßnahmen oder nochmals andere Wege erreichen, ist umstritten, und wird wohl auch nicht für alle Regeln gleich zu beantworten sein.

Insbesondere bedarf es einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Regelbegriff, wenn es darum geht, die Funktion eines Rechtsystems zu verstehen. Dies gilt nicht erst dann, wenn ein Rechtssystem offenkundig zum Instrument zur Unterdrückung der Menschen wird, doch bilden derartige Situationen nicht selten den Anlass, die generelle Frage nach der Geltung der Regeln erneut zu stellen. Sollen die Regeln repressiver Regime befolgt werden, wenn ja, bedingungslos oder bis zu welchem Punkt? Auf welche Regeln und Kriterien lässt sich die Kritik an diesem System und lässt sich eventuell sogar der Widerstand stützen und woher kommt deren Anspruch auf Gültigkeit?

Unter anderem auf diese Art von Fragen sucht die philosophische und rechtstheoretische Diskussion nach Antworten. Besondere Brisanz erfahren sie, wenn die Freiheit des Menschen auf dem Spiel steht. Autoritäre Staaten stellen jedoch nicht deren einzige Bedrohung dar. Als zunächst weniger auffällig, langfristig jedoch von fataler Wirkung können sich autonomiekritische theoretische Grundsatzentscheidungen erweisen. Dies gilt etwa für ein Regelverständnis, das dem Staat mit seinem Gewaltmonopol eine unbegrenzte Befugnis zur Regelsetzung und –kontrolle zuspricht und damit die individuelle Selbstbestimmung und Entfaltungsmöglichkeit auszulöschen droht. Ein zentrales Thema bei der Beschäftigung mit Rechtsregeln ist daher immer wieder die Frage nach deren Legitimität – aber auch die nach der Existenz universeller Legitimitätskriterien. ←9 | 10→Die Reflexion über das Folgen, das Schaffen, das Ändern einer Regel zielt zudem darauf ab, kritisch und methodisch ihre pragmatischen Eigenschaften zu erklären, da sich das Bestehen und mitunter auch die Berechtigung einer Regel durch einen Rekurs auf die Praxis verifizieren lässt.

Die philosophischen und juristischen Reflexionen zum Problem der Normgeltung, der Regelanwendung und des Regelfolgens, die sich in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gerade bei deutschsprachigen Autoren wie Heidegger, Schmitt und Wittgenstein finden, haben in ihrer Problemstellung bis heute nichts an Aktualität verloren. Sie fordern uns nach wie vor heraus, die gängigen Ansichten über die relevanten Regelbegriffe zu überdenken und gegebenenfalls in modifizierter Weise zu begründen. Wenn niemals jemand allein einmal einer Regel folgen kann, Regeln also ein grundsätzlich öffentliches, soziales Phänomen sind, wenn sich ferner Regeln grundsätzlich mit Lebensformen und Weltdeutungen verbinden, beides sind bekanntlich Ansichten des späten Wittgenstein, dann scheint es auf den ersten Blick schwierig, dem Individuum im Wortsinn eine Auto-Nomie, also Selbstgesetzgebung zuzusprechen. Außerdem kann man sich angesichts der Verschiedenheit der Lebensformen, durch die Menschen in Form sozialer Praxis lernen Regeln zu folgen, Carl Schmitt spricht von einer iconographie régionale, nicht mehr unreflektiert auf universell gültige Normen berufen. Heidegger thematisiert den Regelbegriff schon in seinen Frühwerken und stellt eine Parallele zwischen den Naturgesetzen und menschlichen Normensystemen her, die gegebenenfalls einer kritischen Prüfung standhalten müssen, um ihre praktische Anwendbarkeit zu sichern. Im Ergebnis können Regeln auch für Heidegger vom Menschen befolgt, geschaffen und geändert werden. Dazu gilt es, das Normenbewusstsein zu berücksichtigen, das nach der sogenannten Kehre nochmals zum Tragen kommt: In seinem späten Werk untersucht Heidegger nicht nur die Regeln als Denkformen, sondern auch wie sie das menschliche Denken prägen. Die Bindung an „Natur, Geschichte, Staat“ wurde in Bezug auf die Diskussion um die schwarzen Hefte Heideggers und seine Stellungnahmen zum Nationalsozialismus bereits ausführlich thematisiert. Hier soll vor allem ihre Wirkung auf die Möglichkeit von Autonomie kritisch und differenziert betrachtet werden.

Schmitt hatte bereits in seiner wohl berühmtesten Schrift, „Der Begriff des Politischen“, in der er die Gleichsetzung von „staatlich“ und „politisch“ vermeintlich auflöste, um dann zu zeigen, dass für gewöhnlich nur der Staat zur spezifisch politischen Entscheidung, nämlich zur Einteilung der Menschen in Freund und Feind in der Lage sei, Regeln für die Bestimmung des Feindes abgelehnt und sich auf die „existenzielle Teilhabe“ berufen. Später versuchte er, die erwähnte Prägung, die solche Regeln unmöglich macht, weil sie angeblich jedes „objektive“, ←10 | 11→universellen Anspruch erhebende Denken verhindert, teils durch groteske Rassenargumente, teils durch einen eigenwilligen geographischen Determinismus zu erklären, der universalistische Denkformen auf die englische Wendung zum Meer als Lebensraum zurückführt.

Bei Wittgenstein stellt sich die Frage nach dem möglichen theoretischen Zusammenhang zwischen der Metapher eines Flussbettes, indem unsere Sprache und unser Denken sich bewegen, aus „Über Gewissheit“ und der Einordnung von Ethik und Ästhetik unter die Dinge, über die man schweigen soll, aus dem Tractatus, der entsprechend in seiner Familie als „moralische Tat“ gesehen wurde. Die Rede über Sollen und Moral zieht indessen die Frage nach sich, inwieweit moralische Regeln, welcher Gestalt sie auch sein mögen, den Willen des Menschen beeinflussen können. Schließlich ist auch Wittgensteins späteres Werk trotz aller Bezugnahmen auf Sprachspiele von einem tiefen moralischen Ernst getragen, wie u.a. die intensive Untersuchung über Regeln und Regelfolgen in den „Philosophischen Untersuchungen“ zeigt.

Will man vor dem Hintergrund derartiger Einwände an universell gültigen Prinzipien wie den Menschenrechten und der Forderung nach Autonomie für alle Menschen festhalten, so muss man Wege finden, auf diese Schwierigkeiten zu reagieren. Das Problemfeld bildet angesichts der genannten Fragestellungen zugleich eine wichtige Brücke zwischen Theoretischer und Praktischer Philosophie. Es geht bei der hier vorgenommenen Untersuchung also nicht darum, die heideggersche Philosophie mit jener von Wittgenstein und Schmitt zu vergleichen. Vielmehr wird der jeweilige Blick auf Regeln im Kontext des jeweiligen philosophischen, allgemeiner des theoretischen Denkens thematisiert, das bei allen drei Autoren deutlichen Brüchen unterworfen war, es geht somit um die systematische Suche nach Lösungen für die genannten Probleme.

Die drei Denker wenden sich dem Problem der Regeln aus unterschiedlichen Perspektiven, mit unterschiedlichen Fragestellungen zu, die jedoch an vielen Stellen miteinander verknüpft sind. Weder ist es sinnvoll, die Reflexion über Rechtsnormen völlig von theoretischen Fragen des Regelfolgens zu trennen noch umgekehrt die Begründbarkeit von Regeln ohne ethische, politische oder rechtliche Implikationen zu thematisieren. Die Beschäftigung mit rechtlichen Regeln gelangt irgendwann zu der Frage, was mit der Befolgung dieser Regeln impliziert ist, wie sich ihre Wirksamkeit zeigt und ob bzw. wie diese mit ihrer Geltung verknüpft ist. Umgekehrt bedürfen detaillierte Untersuchungen darüber, dass Begründungen für das richtige Regelfolgen irgendwann in ein „so mache ich das eben“ einmünden, dass „am Grunde des begründeten Glaubens der unbegründete Glauben“ liegt (Wittgenstein, Über Gewissheit), einer angemessenen ethischen, politischen und rechtlichen Einordnung, will ←11 | 12→man nicht in einem Relativismus enden, der ein kulturelles Recht auf Despotie behauptet.

Der vorliegende Band, der auf eine Tagung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg im Herbst 2016 zurückgeht, bringt Beiträge von Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Perspektiven auf die genannten Persönlichkeiten und Fragestellungen zusammen. Hierbei zeigte sich, dass die Verbindlichkeit von Regeln oft historisch begründet ist, da der Regelbegriff selbst neben normativen auch dezisionistische Aspekte enthält. Deren je verschiedene Differenzierungen bei Heidegger, Wittgenstein und Schmitt wurden hinsichtlich der juristischen und philosophischen Reflexionen untersucht und im komplexen Geflecht der Wechselbeziehungen zwischen Begriffen wie „Regel“, „Norm“, „Entscheidung“, „Drill“ oder auch „Geschichte“ verortet.

Aus diesen Überlegungen ergibt sich der Aufbau dieses Bandes in einen ersten Teil, der sich der Rolle von Regeln bei der Bemühung um Gerechtigkeit in der Ordnung des menschlichen Lebens bei Heidegger, Carl Schmitts kontinuierlichem Widerstand gegen die Identifikation von Recht und Regel sowie im Kontrast dazu der an Wittgenstein ausgerichteten Rechtstheorie Harts sowie den Gemeinsamkeiten und den Unterschieden beider zum Neukantianer Kelsen widmet. Ein zweiter Themenblock wendet sich der Wechselwirkung zwischen Lebensformen und den in ihnen geltenden Regeln unterschiedlicher Art zu, ein dritter den Problemen bei der Anwendung verschiedener Arten von Regeln und den doch sehr unterschiedlichen Lösungsansätzen. Die drei genannten Autoren werden dabei nicht je isoliert nebeneinandergestellt, sondern vielmehr in einen Kontext unterschiedlichster philosophischer, juristischer und literarischer Referenzwerke eingebettet. Die Deutungen der Autoren in den unterschiedlichen Beiträgen variieren dabei z.T. erheblich und liefern damit Ansporn zu weiteren Diskussionen.

1 Regel, Gerechtigkeit, Rechtsnorm

Diego D’Angelo beleuchtet in einer hermeneutisch-phänomenologischen Annäherung die Frage nach dem Gesetz, welches Heidegger in seiner Deutung der sophokleischen „Antigone“ der Regel gegenüberstellt. Heidegger erklärt den Menschen als das „Unheimlichste“, das normativ gleichwohl durch das historisch bedingte Gesetz des Ortes gebunden ist. Robert Schnepf zeigt, wie Heidegger in seiner anfänglichen Identifikation mit dem Nationalsozialismus versucht, jede Form normativer Verfestigung der Bewegung durch feste Regelungen abzuwehren. Rosa Maria Marafioti wiederum beleuchtet die Gesetzmäßigkeit der ←12 | 13→inneren Verbindung von Sein und Mensch bei Heidegger. Aus diesem Grund widmet sie sich zuerst Heideggers Wahrheitsauffassung in ihren mit der Normativitätsfrage verbundenen Schattierungen. Als Ergebnis zeigt sie, wie das Gesetz des Seins eine Fuge des Ereignisses ist.

Einen schroffen Kontrast zu dieser Methodik bildet das Vorgehen bei Kelsen und Hart. James Thompson richtet seine Aufmerksamkeit auf Regeln und Normativität bei Hans Kelsen und H.L.A. Hart und geht von einer zweifachen Aufgabenstellung aus: einerseits die soziale Genese von Normativität und Regeln aus der Perspektive des Rechtspositivismus zu untersuchen, andererseits die Einheit des Rechtssystems durch eine Grundnorm oder Erkenntnisregel abzusichern. Jean-François Kervégan prüft die Kohärenz und Überzeugungskraft dieser beiden rechtspositivistischen Ansätze, die den Unterschied zwischen rechtlichen und moralischen Normen ausdrücklich betonen. Ihm geht es beim Vergleich beider Theoretiker darum, die vorausgesetzten Normen- und Regelauffassungen in ihren Rechtstheorien zu evaluieren.

Matthias Kaufmann erläutert, wie die Normgeltung für Carl Schmitt die Dezision und/oder konkrete Institutionen voraussetzt und wie er bestimmte Regeln mit bestimmten Rahmenbedingungen und Lebensformen verknüpft. Dies und die Problematik der Regelanwendung erfordern grundsätzliche Überlegungen zum Regelbegriff, wobei die Parallelen und Unterschiede zu Wittgenstein erhellend sind.

2 Regeln und Lebensform

Der Beitrag von Stefan Knauß zeigt mittels einer genauen Untersuchung von Wittgensteins „Vortrag über Ethik“ die Schwierigkeit, die Wittgenstein sieht, überhaupt eine Ethik zu entwickeln: Dabei verweist Knauß auf Wittgensteins Verabschiedung der Ethik aus dem Bereich der Wissenschaften in den Bereich des Unsagbaren und kritisiert die „Mystifizierung“ der Ethik, da diese einen Großteil der moralischen Urteile und Verhaltensweisen ausblendet, durch die unser Alltag geprägt ist. Der gesellschaftliche Kontext von Regelanwendungen wird von Gerhard Thonhauser ergänzt: Die Analyse von Heideggers „Eigentlichkeits“-Begriff könnte den Weg zu einer kritischen Gesellschaftstheorie aufzeigen, insofern das Dasein sich infolge der Grundlosigkeit seiner wesentlichen Institutionen mit der Entfremdung konfrontiert sieht, der es durch die Übernahme der Verantwortung entgehen kann. Michela Torbidoni vergleicht Gentile und Heidegger im Kontext der Debatten um Spinozas Pantheismus im Deutschen Idealismus und um das Determinismus-Problem. Sie konfrontiert Gentiles Rückzug auf das spirituelle Subjekt mit Heideggers Insistieren auf die ←13 | 14→unbedingte Endlichkeit des Daseins und seinen Weg zur Entschlossenheit. In gewissem Sinn schließt Jesus Escudero hier an, wenn er den Autonomiebegriff bei Heidegger untersucht und die gesamte Daseinsanalytik herausarbeitet, in der die „Regeln“ der Eigentlichkeit sich zeigen: Dasein wird eigentlich, wenn es imstande ist, die Autonomie aus der Uneigentlichkeit zu gewinnen.

Anschließend geht es Francesco D’Achille um den Übergang von der logischen Form zur Lebensform in Wittgensteins Werk, um die Rolle, die seine Bemerkungen zu Frazers „Golden Bow“ dabei spielen und die Weise, wie Ingeborg Bachmann diese Entwicklung quasi aufgreift und eigenständig weiterführt. Quasi parallel zeigt auch Antonio Luccis Untersuchung eine komparative Analyse des Lebensformbegriffs und dessen Kontextualisierung durch die beiden Konzepte „Regel“ und „Kultur“, die bei Wittgenstein und Foucault vergleichbare, aber auch deutlich verschiedene Form annimmt. Giorgio Agambens Ansatz wird als Verbindung oder „Synthese“ gedeutet.

3 Regeln und Praxis

Im letzten Kapitel erklärt Herbert Hrachovec unter Rückgriff auf die Entwicklung des Wittgensteinschen Werkes die Regeln als ausformulierte Handlungsanleitungen, die paradigmatisch wirken. Dadurch sind weiterhin die Bruchstellen zwischen dem eingespielten Regelverständnis und der Verständnislosigkeit gegenüber kontra-intuitiven Deutungen geklärt, die wir nicht ausschließen und ebenso wenig integrieren können. Lucilla Guidi verfolgt den Konstituierungsprozess von Regeln in Wittgensteins Spätwerk. Dabei greift sie auf Kierkegaards von bloßer Repetition verschiedenen Begriff der Wiederholung zurück und betont die Kontingenz – Grundlosigkeit – sowohl der jeweiligen Praxis als auch der aus ihr entstehenden Regel. Philosophie hat die Aufgabe, diesen Zusammenhang deutlich zu machen. Dario Cecchis Beitrag fokussiert sich auf die Verbindung zwischen dem Regelschaffen und Regelfolgen im Rahmen einer regulativen Handlung. Anhand der Kants Begriff der Urteilskraft integrierenden Wittgenstein-Interpretation Emilio Garronis erschließt Cecchi die pragmatische Regelverwendung auch für die ästhetische Erfahrung. Pietro D’Orianos Analyse befasst sich mit den handlungstheoretischen Voraussetzungen der Anwendung (sprachlicher) Regeln bei Heidegger und (sic!) Frege: Damit untersucht er die Beziehung zwischen der historisch konkreten Äußerung und der „absoluten“, davon angeblich losgelösten Sprache.

Anschließend zeigt Kenneth Westphal, wie Regeln und deren Anwendung keinem Algorithmus entsprechen können. Bezüglich der Vernunft, bestreitet er die Möglichkeit einer rein deduktiven Anwendung von Regeln und plädiert ←14 | 15→für eine auf Urteilskraft basierende, regulative kritische Einstellung, die insbesondere auch im rechtlichen Rahmen wichtig wird. Hier schließt sich gewissermaßen der thematische Kreis des Bandes zurück zu den Rechtskonzeptionen. Manuela Massa untersucht die geschichtliche Entscheidungsfrage bei Heidegger und Schmitt, in der die gesellschaftlichen Regeln ebenso ersichtlich werden wie die Rolle des Volkes, von der aus Massa ihre praktische Seite erschließt. Luciano Nosetto liefert anhand einer primär am Frühwerk Schmitts orientierten Deutung des Entscheidungsbegriffs eine kritische Analyse des Dezisionismus in der populistischen Praxis des gegenwärtigen Lateinamerika.

Diego D’Angelo

Das Gesetz des Ortes

Ein Versuch über Heidegger und Sophokles

Abstract: Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem Begriff von „Gesetz“ in Martin Heideggers mittlerer Denkphase. Ins Zentrum der Untersuchung rückt vor allem Heideggers philosophische Lektüre der Antigone von Sophokles. Ist Hölderlin der Dichter des „anderen Anfangs“, so ist es möglich, Sophokles den Rang des Dichters des ersten Anfangs zuzuschreiben. Eine analytische Konfrontation mit der Sophokles-Lektüre Heideggers ergibt drei Hauptthesen, die im folgenden Text entwickelt werden. Erstens (I.) lässt sich eine normative Dimension in der Bestimmung des Menschen als dem Unheimlichsten herausarbeiten. Das führt zweitens (II.) dazu, dass wir in einigen Passagen dieser Vorlesung Heideggers konkreteste Anthropologie verorten können. Aus dieser Anthropologie ergibt sich (III.) eine Bestimmung dessen, was Heidegger unter „Gesetz“ meint: Das „Gesetz des Ortes“ ist ein Gesetz der Geschichte.

Keywords: Heidegger, Sophokles, Antigone, Dichtung, Gesetz

„[…] heimgekehrt in

den unheimlichen Bannstrahl,

der die Verstreuten versammelt […].“

Paul Celan, In der Luft (Celan 2005, 117)

Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit einer Untersuchung dessen, was uns Martin Heideggers mittlere Denkphase über den Begriff „Gesetz“ zu denken gibt. Insbesondere ist, so scheint man behaupten zu können, die Stelle, an der man fündig wird, Heideggers philosophische Lektüre der Antigone von Sophokles. Dass diese Lektüre den fruchtbarsten Ansatzpunkt bietet, legen zwei Überlegungen nahe. In erster Linie ist Sophokles der einzige griechische Dichter, dem Heidegger ausführliche Analysen widmet. Ist Hölderlin der Dichter des „anderen Anfangs“, so ist es möglich, Sophokles den Rang des Dichters des „ersten Anfangs“ zuzuschreiben. Das verleiht der heideggerschen Sophokles-Lektüre eine Schlüsselrolle in seiner mittleren Schaffensphase. In einer zweiten Hinsicht scheint es geradezu paradigmatischen Stellenwert zu haben, dass Heidegger im Anschluss an den Dichter des ersten Anfangs über den Begriff des Gesetzes ←19 | 20→nachdenkt. Denn das wirft die allgemeinere Frage danach auf, inwiefern die gesamte Seynsgeschichte normativen Charakters ist1.

Details

Seiten
390
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631814338
ISBN (ePUB)
9783631814345
ISBN (MOBI)
9783631814352
ISBN (Hardcover)
9783631804674
DOI
10.3726/b16627
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Mai)
Schlagworte
Regelskeptizismus Rechtsnorm Lebensform Eigentlichkeit Lebenspraxis Dezisionismus
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 390 S.

Biographische Angaben

Manuela Massa (Band-Herausgeber:in) James Thompson (Band-Herausgeber:in) Stefan Knauß (Band-Herausgeber:in) Matthias Kaufmann (Band-Herausgeber:in)

Matthias Kaufmann ist Professor für Praktische Philosophie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Stefan Knauß ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Geschichte der Philosophie der Universität Erfurt. Manuela Massa ist Dozentin am Seminar für Philosophie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. James M. Thompson ist Lektor am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte.

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