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Kreative Kontinuität – Die Transformation des judäo-spanischen Liedes in Israel

von Marion Mäder (Autor:in)
©2018 Habilitationsschrift 292 Seiten

Zusammenfassung

Diese Studie erörtert die Transformation des judäo-spanischen Liedes osmanischer und marokkanischer Tradition in ein israelisches Repertoire. Sie bedient sich kulturhistorischer, philologischer, ethnologischer und soziologischer Methoden. Die Autorin erläutert die Spannung zwischen kultureller und nationaler Identität der Sefarden und beschreibt, wie ihre musikalische Identität in Israel Bestätigung findet. Bedeutend ist hierfür eine Vielzahl von Institutionen und Individuen, die das aktuelle Repertoire formen. Die Analyse dieses vielschichtigen Prozesses gibt Einblick in die Rekonstruktion der Lieder und ihre identitätsstiftende Funktion. Mythen, die mit der Diaspora verknüpft sind, finden ebenso Erläuterung wie aktuelle Strategien für Arrangement, Performance und mediale Verbreitung.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeochnis
  • Einleitung
  • Erster Teil Die Sefarden in der Geschichte und im heutigen Israel
  • Kapitel I Soziohistorisch-kulturelle Bestimmung
  • 1. Die Sefarden
  • 1.1 Herkunft
  • 1.2 Zugehörigkeit zum spanischen Ritus (minhag sefarad)
  • 2. Ethnizität: Ethnische Identitäten in Israel
  • Kapitel II Sprachen und Texte
  • 1. Judäo-Spanisch
  • 1.1 Verschriftlichung des Judäo-Spanischen
  • 1.2 Einige Aspekte der phonetisch-phonematischen Entwicklung
  • 1.3 Sprachliche Charakteristika
  • 1.4 Entlehnungen
  • 1.5 Beispiele für die oben genannten Charakteristika des Judäo-Spanischen in Liedtexten
  • 2. Literarische Genres
  • 2.1 Traditionelle volkstümliche Genres
  • 2.1.1 Romancero
  • 2.1.2 Cancionero
  • 2.1.3 Koplas
  • 3. Die Renaissance der hebräischen Sprache
  • 4. Beispiel für eine Reihe von Textübertragungen auf eine Melodie
  • Zweiter Teil Gesellschaftliche Funktionen der Musik im Wandel
  • Kapitel I Mythos und Überlieferung
  • 1. Sefardisches Volkslied und spanisches Mittelalter: Quellenlage1
  • 1.1 Musik versus Text
  • 1.2 Anthologien traditioneller Musik
  • 1.3 Resümee
  • 2. Popularmusik als Indikator für soziokulturellen Konsens
  • 2.1 Aus der Diaspora in die israelische Öffentlichkeit
  • 2.2 Das Ladino-Lied im Spannungsfeld von Tradition und Adaption
  • 2.3 Transformation der Aufführungspraxis
  • 2.3.1 Von der Familie in die Öffentlichkeit
  • 2.3.2 Herausbildung von Identität: Diaspora versus Nationalstaat
  • 2.3.3 De-gendering
  • 2.3.4 Resümee
  • Kapitel II Ethnische Gruppe im jüdischen Staat: Organisationen im Umfeld der Ladino-Kultur
  • 1. Die Nationale Behörde für die Ladino-Kultur
  • 2. Die Ladino-Abteilung des staatlichen Rundfunksenders Kol Israel - ‘Stimme Israels’
  • 2.1 Historischer Überblick
  • 2.2 Kol Israel: Initiator oder Spiegel?
  • 2.3 Impulse für die Transformation
  • 2.4 Initiativen von Mitarbeitern: Isaac Levy, Haim Tsur, Moshe Shaul
  • 2.5 Resümee
  • Dritter Teil Transformation des Ladino-Repertoires in Israel
  • Kapitel I Protagonisten musikalischer Prozesse und Zeitzeugen
  • 1. Interpreten als Sammler oder Wissenschaftler
  • 1.1 Isaac Levy
  • 1.1.1 Leben und Wirken von Isaac Levy
  • 1.1.2 Resümee: Der Einfluss von Isaac Levy
  • 1.2 Susana Weich-Shahak
  • 1.2.1 Dokumentationstätigkeit
  • 1.2.2 Das Standardrepertoire in der Öffentlichkeit
  • 2. Komponisten und Arrangeure
  • 2.1 Haim Tsur
  • 2.2 Shimon Cohen
  • 3. Textdichter
  • 3.1 Matilda Koén-Sarano
  • 3.2 Avner Peretz
  • Kapitel II Abstraktion, Rekreation, Neuschöpfung und Restrukturierung des Repertoires
  • 1. Abstraktion und Rekreation
  • 2. Restrukturierung: Transformation in Stilrichtungen
  • 2.1 Kunstmusikalische Darbietungen
  • 2.2 Ethnische Lieder
  • 2.2.1 Esti Kenan-Ofri
  • 2.2.2 Ruth Yaakov
  • 2.3 Israelischer Stil
  • 2.3.1 Von Isaac Levy zu Betty Klein
  • 2.3.2 Lolik Levy
  • 2.3.3 Hora Yerušalayim
  • 2.3.4 Yehoram Gaon
  • 2.4 Weltmusik
  • 2.4.1 SUZY
  • 2.4.2 Yasmin Levy
  • 2.5 Musical und FestiLadino
  • Schlussbetrachtungen – Der Wandel in der Rezeption und dessen Einfluss auf das sefardische Lied
  • 1. Parallele Identitäten in einer Post-Diaspora-Kultur: Ein Repertoire im Übergang
  • 2. Transformation und kollektives Gedächtnis
  • 3. Resümee
  • Anhang
  • A Bibliografie
  • B Websites
  • C Disko- und Videografie
  • D Liste der Illustrationen
  • E Abkürzungsverzeichnis
  • F Anmerkungen zur Transliteration bzw. Transkription von Text und Musik
  • 1. Text
  • Transliteration des hebräischen Alphabets
  • Schreibweise des Ladino
  • 2. Musik

Einleitung

Die sefardischen Juden definieren sich auf der Grundlage ihres Ritus und ihrer historisch-geografischen Herkunft. Nach der Vertreibung aus Spanien im Jahr 1492 siedelten sie sich überwiegend in den Ländern des Osmanischen Reiches wie der Türkei, den Ländern des Balkans und in Palästina10 sowie in Nordafrika an. Die zwangsgetauften Juden, die zunächst auf der Iberischen Halbinsel blieben und ihren jüdischen Glauben unter Lebensgefahr im Geheimen weiterhin praktizierten11, wanderten später zum großen Teil in die Niederlande, sowie nach Großbritannien, Südfrankreich und Italien aus. Bis heute sind auch Lateinamerika, Kanada und die USA bevorzugte Siedlungsgebiete. An jedem dieser Orte wurde die sefardische Kultur auf eine andere Weise von der Umgebung beeinflusst, sodass verschiedene Ausprägungen entstanden.

Im ausgehenden 19. Jahrhundert entwickelte sich die akademische Beschäftigung mit jüdischer Musik als ein eigenständiges Forschungsgebiet. Geistig wegbereitend hierfür war die Gründung einer Wissenschaft des Judentums im Jahr 1820 durch eine Gruppe überwiegend jüdischer Intellektueller in Berlin, die schriftliche Dokumente mit modernen Forschungsmethoden analysierten.12

Im Laufe der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Musiktraditionen im Judentum wurden verschiedene Ansatzpunkte entwickelt. Zunächst war die Grundidee einer einheitlichen jüdischen Kultur tragend, die auf den überlieferten Schriften und Gebräuchen fußte. Einflussreichster Vertreter dieses Konzepts war der „Vater der Forschung jüdischer Musik“13, Abraham Zvi Idelsohn (1882–1938). In seinem Werk stand die Diskussion gemeinsamer stilistischer Merkmale jüdischer Musik unterschiedlicher geografischer Provenienz und historischer Epochen im Mittelpunkt.

Sowohl Idelsohn als auch diejenigen Musikwissenschaftler, die seiner Arbeitsweise nahestehen, gehen von der Hypothese aus, dass es trotz einer heterogenen Geschichte der jüdischen Gemeinden in verschiedenen Teilen der Welteine Kontinuität innerhalb jüdischer Musiktraditionen gebe, die auf gemeinsamen Elementen beruhe. Während seiner gesamten Tätigkeit war Abraham Zvi Idelsohn bemüht, diese Annahme zu bestätigen, obwohl die von ihm im Jahr ← 15 | 16 → 1906 in Jerusalem begonnene Forschung deutliche musikalische und textliche Unterschiede durch die Einflüsse der jeweiligen regionalen Traditionen und Gebräuche auswies.14

Für den Bereich des sefardischen Liedes lag seit dem späten 19. Jahrhundert das Hauptaugenmerk der Forschung auf den mittelalterlichen romances, denn hier sahen Wissenschaftler die Möglichkeit, für die Nachfahren spanischer Juden des ausgehenden 15. Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein kulturhistorisch Kontinuität nachzuweisen. Demgemäß nahm auch Idelsohn für das sefardische Repertoire eine Überlieferung der Musik, oder zumindest einiger melodischer Elemente, aus dem spanischen Mittelalter an. Diese Theorie gilt heute weitgehend als widerlegt, obwohl der Eintrag im renommierten (Grove’s) Dictionary of Music and Musicians (5. Auflage, 1954 und 1961) diesen Mythos15 noch transportierte.16

In ihrem Artikel Mythologies and Realities in the Study of Jewish Music führt Kay Kaufman Shelemay hierzu im Jahr 1995 aus:

    „While Idelsohn perceived and acknowledged diversity as the reality in Jewish musical practice, he spent his entire career seeking to document commonalities that he believed existed within divergent musical traditions.“17

Hierin glaubt Kaufman Shelemay ein Paradoxon oder einen Widerspruch zwischen Mythologien und Realitäten zu erkennen:

    „I begin with the example of Idelsohn and his work because I believe that it demonstrates a central paradox in the understanding of Jewish music initially established by scholars and perpetuated in popular imagination.“18

Doch ist in diesem Fall nicht davon auszugehen, dass die Geisteswissenschaften einen so immensen Einfluss auf das Denken der Allgemeinheit hatten. Vielmehr wurde die beobachtete, populäre Vorstellung nicht als widersprüchlich zu den ← 16 | 17 → Forschungsergebnissen aufgefasst, denn der Mythos einer, trotz aller Umbrüche, sich fortführenden Kultur hat nicht nur im Bezug zum Judentum Jahrtausende überdauert. Auch im Hinblick auf andere Kulturen können wir seine Wirkung bis in die Gegenwart hinein bestätigen. Kaufman Shelemay erkennt die Kraft des Mythos und schließt ihren Artikel mit der Beobachtung: „That the myth continues, impervious to scholarly evidence to the contrary, is in fact testimony to its continued strength.“19

In der vorliegenden Untersuchung wird die Frage gestellt, ob Brüche in der sefardischen Liedtradition a priori als Diskontinuität begriffen werden müssen. Vielmehr scheinen sie nach Jan Vansina20 und Jan Assmann21 wesentlichen Anteil daran zu haben, das kulturelle Gedächtnis lebendig zu halten. Sind sie nicht ebenso ein Teil von ihm wie die kulturelle Figur des Mythos? Hiermit folgt die Studie einem Ansatz, den Sigmund Freud bereits 1939 in Der Mann Moses und die monotheistische Religion darlegt:

    „Die heutige Wissenschaft ist ja überhaupt vorsichtiger geworden und verfährt weit schonungsvoller mit Überlieferungen als in den Anfangszeiten der historischen Kritik.“22

Hinsichtlich der Sefarden soll die Funktion des Mythos von Kontinuität in der gegenwärtigen Liedpraxis beleuchtet werden. In diesem Zusammenhang steht die Frage nach der Bedeutung gegebener Aspekte von Kontinuität. Zu nennen wäre hier der Vorgang der Überlieferung von Generation zu Generation. Diese Form der Tradierung kann, sofern sie mittels einer (nahezu) ununterbrochenen Folge von Personen erfolgt, aus der Innenperspektive einer Ethnie heraus als elementare Voraussetzung für das Wahrnehmen von Kontinuität betrachtet werden. Obwohl die überlieferten Texte und Melodien Veränderungen aufweisen, liegt dem Vorgang ihrer Weitergabe von Mutter zu Tochter ein identitätsstiftendes Muster zugrunde, dessen Fortführung einen wesentlichen Aspekt der biographischen wie fundierenden Erinnerung innerhalb des kollektiven Gedächtnisses bildet.23

Indem die vorliegende Studie dies akzeptiert, entspricht sie einer von Kaufman Shelemay in ihren Schlussbetrachtungen formulierten Forderung: ← 17 | 18 →

Die aktuelle Forschung über Musik im Judentum setzt sich mit der historischen Grundbedingung uneinheitlicher, überwiegend in der Diaspora entwickelter Traditionen auseinander, die stets im Austausch mit den sie umgebenden Kulturen standen und sich fortwährend veränderten. Darüber hinaus stehen in der vorliegenden Untersuchung Fragen nach der Relation von Bruch und Kontinuität25, dem nuancenreichen Verhältnis zwischen Innovation und Tradition angesichts der kulturellen Umbrüche der Moderne26 sowie nach den tiefgreifenden Folgen des Zweiten Weltkrieges und der Shoa im Mittelpunkt. Im Zusammenhang mit diesen Vorgängen ist die Entwicklung des Musiklebens seit der Gründung des Staates Israel zu betrachten, der im Verlauf seiner ersten Jahrzehnte einen neuen politischen und soziokulturellen Kontext innerhalb der jüdischen Geschichte schuf.

Der Selbstbestimmung der Sefarden als ethnische Gruppe liegt eine gemeinsame historisch-geografische Herkunft und die Schaffung einer Umgangssprache auf der Basis des Kastilischen anstelle der verschiedenen hispanischen Dialekte zugrunde. Ein Ansatz der vorliegenden Untersuchung besteht darin, ihre in der Diaspora geprägte Vorstellung von musikalischer Identität aus historischer Perspektive heraus zu verstehen und auf die gegenwärtige Situation in Israel zu beziehen. In diesem Sinne versteht die Studie die israelische Gesellschaft als erweiterte Familie oder Ethnie und die Sefarden als eine ihrer Gruppen. Ausgangspunkt der Betrachtung sind der musikalische Ausdruck im säkularen Liedgut der in Israel lebenden Sefarden seit Mitte des 20. Jahrhunderts ebenso wie die gegebenen kontextuellen Bedingungen in Gesellschaft, Politik und Kultur. Die übergeordnete Frage nach der Anwendbarkeit der Gedächtnistheorien, die u.a. bei Maurice Halbwachs27, Jan Vansina28 und Jan Assmann29 ihren Ausgang nahmen, auf eine vorwiegend mündlich überlieferte Musik wird auf der Grund ← 18 | 19 → lage der Ergebnisse dieser Untersuchung in einem weiterführenden Projekt mit dem Titel Cultural Memory and the Glocalization of Jewish Music aufgegriffen.

Als Sefarden werden, wie bereits angesprochen, die Nachfahren der spanischen und portugiesischen Juden bezeichnet, die sich seit ihrer Vertreibung von der Iberischen Halbinsel in vielen Teilen der Welt niederließen. Gegenstand der vorliegenden Studie sind die seit Mitte des 20. Jahrhunderts zu beobachtenden Veränderungsprozesse ihres im traditionellen Kontext weitgehend verloren gegangenen Liedguts. Diskutiert wird der Transformationsvorgang des Repertoires vor allem hinsichtlich der Rolle und des Selbstverständnisses der in diesem Bereich aktiven Musiker, Produzenten und Multiplikatoren in den Massenmedien sowie im Hinblick auf die Rezeption der Lieder innerhalb der sefardischen Bevölkerung. Auf soziokultureller Ebene erfolgt der Versuch einer zeitgemäßen Definition des Begriffes vom sefardischen Lied bzw. dem Ladino-Lied unter den Bedingungen der neu entstehenden Gesellschaft Israels.30

Die Erörterung baut auf der Analyse aktueller Funktionen des Repertoires für die ethnische Gruppe der Sefarden innerhalb der heterogenen israelischen Gesellschaft auf. In diesem Spannungsfeld werden die Transformationsprozesse der Musik unter den neuen Lebensbedingungen seit Gründung des Staates Israel erläutert. Zugleich werden global wirkende Veränderungen im Umgang mit Musik unter medienanthropologischen Gesichtspunkten dem beschriebenen Vorgang zugeordnet.

Die Betrachtung basiert auf den Ergebnissen umfassender Feldforschungen in den Jahren 2005 bis 2007, die mit Blick auf das derzeit aktive Musikleben durchgeführt wurden. Zu der Materialsammlung gehören ausgedehnte biografische Interviews mit ausgewählten Protagonisten des judäo-spanischen Liedes aus verschiedenen Generationen und extensive Interviews mit Rezipienten. Hierbei geht es darum, individuelles Erleben und Zeitgeschichte gegenüberzustellen und ihr Aufeinandertreffen zu zeigen. Anhand problemzentrierter Interviews mit Protagonisten des Genres wird zum einen die Intention der Beteiligten beleuchtet und zum anderen wird verarbeitete Geschichte auf individueller Ebene dargestellt.

Der Untersuchung liegt die Annahme zugrunde, dass die Form der Aneignung der Lieder die musikalische Transformation beeinflusst und die Haltung, die Künstler, Produzenten und Rezipienten gegenüber dem judäo-spanischen Lied einnehmen, auf Musik, Text und Aufführungspraxis einwirkt. Dieser dynamische Prozess findet sein Gegenüber in parallel entstehenden Aktivitäten, die das Bedürfnis nach konservierenden, die „traditionellen“ Lieder der Diaspora in den Vordergrund stellenden Aktivitäten ausdrücken. ← 19 | 20 →

Auf der Grundlage der im Verlauf der Forschungsaufenthalte beobachteten Aufführungen werden die Transformationen innerhalb des Liedrepertoires sowie seine Veränderungen hinsichtlich der Aufführungspraxis, des soziokulturellen Kontexts, der Sprache und der Textinhalte durch den Vergleich mit Archivmaterialien ermittelt. Zudem werden sie der aktuellen Fachliteratur kritisch gegenübergestellt. Auch literarische Werke, die teilweise aus dem Judäo-Spanischen und Hebräischen zu übersetzen und anschließend auszuwerten waren, sind in die Diskussion einbezogen.31 Über das hier beschriebene Thema hinaus werden an einigen Stellen Beobachtungen zum liturgischen Repertoire sowie Aspekte der religiösen Aufführungspraxis in die erweiterte Diskussion einbezogen.

Als Ausgangsthese wird vorangestellt, dass das judäo-spanische Lied in der modernen israelischen Gesellschaft im Vergleich zur Diaspora eigenständige Formen in Stil, Struktur, Rezeption und Aufführungsmodus entwickelt hat. Der Verlauf eines hypothetisch als komplex angenommenen Transformationsvorgangs wird hinsichtlich interethnischer Abgrenzung, Vermittlung und Identitätsbildung untersucht. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht die Art und Weise der Transformation des traditionellen sefardischen Liedes der Diaspora in ein modernes israelisches Genre. Kernbegriffe wie Transformation, Rekonstruktion, Restrukturierung, Rekreation32 u.a.m. werden auf ihre Bedeutung und Funktion innerhalb der hier diskutierten Periode in Israel bezogen. Für diesen Kontext erhalten sie jeweils an geeignetem Ort nähere Erläuterung. Die grundsätzliche Frage nach den Parametern, die Identitätsbildung durch Musik tragen, steht hinter diesen Analysen. Dabei bezieht sich die Diskussion der vorliegenden Abhandlung stets konkret auf das gewählte Thema. Auf der Grundlage der erwarteten Ergebnisse sind Anschlussprojekte geplant, in deren Rahmen übergeordnete theoretische und methodische Probleme erörtert werden, die weiterführende Fragen zum kulturellen Gedächtnis durch Musik und zur Konstruktion musikalischer Identität aufgreifen. Wegbereitend hierfür sind u.a. Arbeiten von Jan Vansina33, Jan Assmann34, Maurice Halbwachs35, Philip V. Bohlman und Mark Slobin36 sowie Martin Stokes37.

Die außerordentliche Komplexität der israelischen Gesellschaft, die sich aus unterschiedlichen ethnischen Gruppen zusammensetzt, von denen jede ihre ei ← 20 | 21 → genen kulturellen, politischen und historischen Hintergründe und Perspektiven mitbringt, wirft die Frage nach Merkmalen einer spezifisch israelischen Jüdischkeit auf. In ihrem Buch Popular Music and National Culture in Israel38 bezeichnen Motti Regev und Edwin Seroussi solche kulturellen Gemeinsamkeiten aller Gruppen innerhalb des jungen Staates, die als ein Charakteristikum gelten können, als Israeliness. Ein Begriff, der in diesem Buch mit „israelische Identität“ ins Deutsche übertragen wird und sich im Rahmen des hier vorgegebenen Themas ausschließlich auf jüdische Israelis bezieht. Seine Verwendung erfolgt in Hinsicht auf die neuen Realitäten im Staat Israel und steht daher in Abgrenzung zu den überwiegend in der Diaspora geprägten Begriffen der Jüdischkeit oder jüdischen Identität. Diesen Bezeichnungen ist gemeinsam—und dadurch sind sie auf diese Studie anwendbar—, dass sie im Sinne von Richard Adams als internally defined ethnicity39 verstanden werden: als eine aus der Innensicht der betrachteten Ethnie für sich selbst entworfene Identität.

Die Transformation mündlich überlieferter Musik ist ein Phänomen, das seit dem Beginn ihrer technischen Reproduzierbarkeit in vielen Kulturen beobachtet werden kann. Hingegen differieren der zeitliche Ablauf, das Maß der Auswirkung auf musikalische und textliche Strukturen, auf Repertoire und Aufführungspraxis selbst innerhalb einer Ethnie oft erheblich hinsichtlich der Region, die jeweils ins Blickfeld genommen wird. Da das 20. Jahrhundert für das sefardische Judentum eine Phase von Verlust und struktureller Erneuerung darstellt, kommen globale Umbrüche dieser Periode infolge neuer Technologien und den damit verbundenen musikalischen Innovationen besonders stark zum Tragen. In der vorliegenden Studie werden die Prozesse, die aus der an dieser Stelle nur kurz umrissenen historischen Situation des sefardischen Liedes hervorgehen, mit dem Begriff der Transformation belegt.

Es soll aufgezeigt werden, auf welche Weise und mit welcher Intensität einerseits historische, gesellschaftliche und politische Gegebenheiten, andererseits die Initiative einzelner, das Genre prägender Protagonisten, die Wahrnehmung und Vorstellung der Öffentlichkeit von den Liedern beeinflussen. Im Mittelpunkt steht das komplexe Zusammenspiel von singulärem Wirken und Zeitgeschichte. In diesem Sinne bildet nach Edwin Seroussi die Rekonstruktion innerhalb eines vielschichtigen Transformationsprozesses einen Teilaspekt, der maßgeblich von Individuen getragen wird: ← 21 | 22 →

Im gegenwärtigen Israel bestätigt sich die große Bedeutung von Musik für Tradierung und Kontinuität jüdischer Identität. In ihrem oben genannten Buch41 erläutern Motti Regev und Edwin Seroussi ausführlich das Zusammenspiel zwischen den politischen Aktivitäten zur Bildung der Nation und dem Schaffen einer neuen israelischen Kultur. In diesem Zusammenhang bezeichnen sie, im Konsens mit vielen Kulturkommentatoren des Landes, die Schaffung einer israelischen Popularmusik als einen wesentlichen Parameter für das Herausbilden einer spezifisch israelischen Identität und ziehen die breite Akzeptanz der Bevölkerung für die aus diversen traditionellen Formen neu geschaffene nationale Popularmusik als Kriterium für das Erlangen von kultureller Einheit heran.42

Die im jungen Staat während der ersten Dekaden kulturpolitisch dominante Vision von der Entwicklung einer einzigartigen israelischen Musik, die mit Volksmusikstilen anderer Länder43 vergleichbar sein sollte, erwies sich jedoch bisher als nicht umsetzbar.44 Zwar bildete sich eine Kibbuzkultur heraus, in deren Rahmen es gelang, die von Emigranten mitgebrachten Melodien mit hebräischen Texten zu Standards zu verschmelzen, doch blieb diese Bewegung trotz des hohen Niveaus vieler Lieder—sowohl in Text als auch in Musik—aus heutiger Perspektive eine Zeiterscheinung. Dieses Genre mit seinen aus der Diaspora überlieferten Melodien und neuen hebräischen Texten, das aus dem Anspruch, eine Volksmusik zu begründen, entstanden ist, wird als „Lieder des Landes Israel“45 bezeichnet. Die neuen hebräischen Texte zu überlieferten Melodien, beispielsweise aus Osteuropa oder Russland, sind bereits ein Phänomen der Zeit ← 22 | 23 → des Yishuv, also der vorstaatlichen Periode.46 Die Texte stammten oft von bedeutenden Dichtern wie Rachel Bluwstein oder Hayim Nahman Bialik.

Ein wichtiger Parameter für die Herausbildung einer israelischen Kultur ist der Ausbau des modernen Hebräisch, des sogenannten Ivrit. Seit der Entscheidung darüber, welche die gemeinsame Sprache werden sollte,47 musste die Sprache, die weitestgehend als historische Rede, also Sprache historischer Texte überliefert war, sich in eine frei verfügbare Sprache mit neuen, eigenen Normen wandeln: in ein Ausdrucksinstrument für alle Erfordernisse des modernen Lebens.

Die Entscheidung für Hebräisch fiel nach dem sogenannten „Sprachenstreit“48:

    „Als 1912 in der vom Berliner ‚Hilfsverein der deutschen Juden‘ mitfinanzierten und in Haifa eingerichteten Ingenieurschule ‚Technicum‘, später ‚Technion‘ genannt, die Fächer Mathematik und Physik auf deutsch gelehrt werden sollten, organisierte Elieser Ben Yehuda, der maßgebliche Erneuerer der hebräischen Sprache, einen Proteststreik. Allein Hebräisch dürfe in Eretz Israel die Umgangssprache sein, lautete die Forderung. Nach vier Monaten Vorlesungsboykott gab die Schulleitung nach. Im Jahr 1922 konnten die Verfechter des Hebräischen einen weiteren Erfolg erzielen, denn während des Britischen Mandats wurde Hebräisch nach Englisch und Arabisch zur dritten und gleichberechtigten Amtssprache in Palästina erhoben. Biszur Gründung des Staates Israel hatte sich Hebräisch als Umgangssprache des Jischuw weitgehend durchgesetzt.“49

Als Eliezer ben Yehuda mit der Standardisierung des Hebräischen für den modernen Gebrauch begann und zu wählen hatte zwischen der aschkenasischen undder sefardischen Aussprache, entschied er sich für das sefardische Hebräisch. Das geschah vor allem, weil dies dem tatsächlich als lingua franca in Palästina gesprochenen Hebräisch entsprach, und überdies gefiel ihm diese Aussprachevariante am besten von allen übrigen, durchaus zahlreichen Aussprachekonventio ← 23 | 24 → nen.50 Obwohl die Aktualisierung des Hebräischen in Palästina überwiegend von aschkenasischen Juden umgesetzt wurde, setzte sich die sefardische Aussprache durch, weil sie erstens, wie erwähnt, bereits in Palästina vorherrschte und zweitens die aschkenasische Ausspracheweise aus Perspektive der damaligen Entscheidungsträger nicht dem Gedanken der Erneuerung entsprach.51

Anders als im Streit um eine gemeinsame Sprache und ihre einheitliche Aussprache kam es in der Musik bisher nicht zu einer allgemein akzeptierten Entscheidung. Während die Širey ’Ereṣ Yiśra ’el sich nicht als nationaler Musikstil etablieren konnten, entstand indessen ein über staatliche Bildungsorganisationen und Medien verbreiteter Kanon von Liedern verschiedener jüdischer Traditionen der Emigranten und ein Gemisch aus der beschriebenen Kibbuzkultur in Ivrit, verbunden mit Einflüssen internationaler Popularmusik. Wesentlichen Anteil an der Transformation des neuen Genres der „Lieder des Landes Israel“ in eine moderne Popularmusik hatten die Armeebands.52 Sie schufen Lieder, die tragende Elemente beider Bereiche miteinander verbanden: Die Lieder der Kibbuzkultur erhielten kommerzielle Formen in den jeweils modischen populären Stilrichtungen, bis hin zu Pop und Weltmusik.

Da in diese hebräischen Lieder überwiegend Melodien aus Europa und aus dem chassidischen Liedgut einflossen, war das Repertoire für viele Juden aus dem Osmanischen Reich, aus asiatischen und afrikanischen Ländern schwer zugänglich. Sie konnten sich mit ihnen nur bedingt identifizieren und entwickelten aus ihren musikalischen Gewohnheiten heraus eigene Repertoires, die Einflüsse aus arabischen Traditionen in den Vordergrund stellen. Auch diese Melodien und Texte fanden Eingang in den erwähnten Kanon israelischer Popularmusik, der sich in den vergangenen Jahrzehnten herausgebildet hat.

Details

Seiten
292
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631747360
ISBN (ePUB)
9783631747377
ISBN (MOBI)
9783631747384
ISBN (Hardcover)
9783631591956
DOI
10.3726/b13360
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Februar)
Schlagworte
Judentum Jüdische Musik Sefardische Tradition Ladino-Lieder Kulturelle Identität Israelische Identität Musikalische Rekonstruktion Kulturelle Kontinuität Sefardische Diaspora Kollektives Gedächtnis Ethnische Popularmusik
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018., 291 S., 19 Abb., 2 Tab.

Biographische Angaben

Marion Mäder (Autor:in)

Marion Mäder studierte Musikwissenschaft, Sinologie und absolvierte ein Studium Generale. Promotion an der FU Berlin, Habilitation an der Universität Zürich. Lehr- und Vortragstätigkeit im In- und Ausland. Forschungsprojekte in Israel, Taiwan, der Volksrepublik China, Hongkong, Nepal und der Türkei.

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