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Pflichthochzeit mit Pickelhaube

Die Inkorporation Schleswig-Holsteins in Preußen 1866/67

von Oliver Auge (Band-Herausgeber:in) Caroline E. Weber (Band-Herausgeber:in)
©2020 Sammelband 280 Seiten
Reihe: Kieler Werkstücke, Band 57

Zusammenfassung

Als die vormaligen Herzogtümer Schleswig und Holstein 1867 zur preußischen Provinz gemacht wurden, bedeutete dies für die zeitgenössischen Schleswig-Holsteiner und Schleswig-Holsteinerinnen eine markante Zäsur, die auch für die Folgejahre nicht an Prägnanz verlor. In den hier versammelten elf Beiträgen werden die unterschiedlichsten Facetten der Geschichte der preußischen Provinz Schleswig-Holstein zwischen 1866 und 1920 im regionalhistorischen Zugriff weiterführend beleuchtet. Die einzelnen Texte gehen auf die Rolle Schleswig-Holsteins, aber auch des Kreises Herzogtum Lauenburg und der Freien Hansestadt Lübeck für Preußen und das Kaiserreich ein, zeigen die grundlegenden Veränderungen in der Provinz auf und gewähren Einblicke in individuelle Ansichten und die öffentliche Meinung zum Herrschaftswechsel von 1867. In ihrer thematischen Breite wartet die Retrospektive der beteiligten fachkundigen Autorinnen und Autoren mit zahlreichen neuen Zugängen und Erkenntnissen zum Thema auf.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Pflichthochzeit mit Pickelhaube – Die Inkorporation Schleswig-Holsteins in Preußen 1866/67. Eine Einleitung (Oliver Auge und Caroline E. Weber)
  • Otto von Bismarck und die Schleswig-Holsteiner und Lauenburger: Eine schwierige Beziehung (Tobias Köhler)
  • Was brachte Schleswig-Holstein Preußen? (Frank Möller)
  • Waren die Lauenburger gute Preußen? (Carsten Walczok)
  • Preußische Architektur in Schleswig-Holstein? Einflüsse auf öffentliches Bauen und Städtebau in Schleswig-Holstein nach 1867 (Katharina Priewe)
  • Reform und Modernisierung der neuen Provinz – Schleswig-Holstein zwischen 1867 und 1890 (Frank Lubowitz)
  • Die Minderheitenfrage im kaiserzeitlichen Schleswig-Holstein (Mogens Rostgaard Nissen und Klaus Tolstrup Petersen)
  • Kiel als Bühne des Kaiserreichs. Reichsinstitutionen und nationale Inszenierung in preußischer Zeit (Johannes Rosenplänter)
  • Eine „heuchlerische Brut“? Die Universität Kiel zwischen dänischem Gesamtstaat und preußischer Annexion (Lisa Kragh)
  • Vom Staat zur Stadt – Lübeck und Preußen im 19. und 20. Jahrhundert (Julian Freche)
  • „Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben?“ – Preußen in der Wahrnehmung der Schleswig-Holsteiner (1866–1920) (Caroline E. Weber)
  • Pflichthochzeit mit Pickelhaube? Versuch einer Synopse (Martin Göllnitz)
  • Reihenübersicht

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Oliver Auge und Caroline E. Weber

Pflichthochzeit mit Pickelhaube –
Die Inkorporation Schleswig-Holsteins
in Preußen 1866/67. Eine Einleitung

„150 Jahre Schleswig-Holstein in Preußen“: Unter diesem Titel organisierte am 1. Dezember 2017 die Abteilung für Regionalgeschichte der CAU zu Kiel eine durch die Stiftung Herzogtum Lauenburg und die Otto-von-Bismarck Stiftung geförderte Tagung in den Räumlichkeiten der letzteren in Friedrichsruh.1 Die Tagung wurde anlässlich der im Jahr 2017 genau 150 Jahre zurückliegenden Inkorporation der vormals dem dänischen Gesamtstaat und teilweise zugleich dem Deutschen Bund zugehörigen Herzogtümer Schleswig und Holstein in das Königreich Preußen 1866/67 veranstaltet. Sie fokussierte aber bewusst nicht bloß das „Jubiläumsjahr“. Vielmehr sollten neben den unmittelbaren Ereignissen auch die längerfristigen Folgen der Eingliederung zumindest bis zum Ende des Kaiserreichs und zur Grenzabstimmung von 1920 thematisiert werden und zwar nicht, wie es bezüglich der sogenannten „Reichseinigungskriege“ so oft mit Blick auf die preußisch-deutsche Geschichte erfolgt ist, sondern in einer klar umrissenen regionalgeschichtlichen Perspektive, die freilich im Fall Schleswig-Holsteins auch das ehemalige Herzogtum Lauenburg und die Freie und Hansestadt Lübeck mit einschließen durfte. Nach zweieinhalb Jahren können wir der interessierten Leserschaft nunmehr den zugehörigen Tagungsband präsentieren. Die aus den Vorträgen erwachsenen Beiträge legen wir unter dem Titel „Pflichthochzeit mit Pickelhaube – Die Inkorporation Schleswig-Holsteins in Preußen 1866/67“ vor, was bereits die Tendenz der einzelnen Inhalte vorwegnimmt.

Trotz des zeitlichen Abstands zur Tagung und zum eigentlichen Jubiläumsjahr kommt der Band dabei bestimmt nicht verspätet, wie allein schon ein Blick auf die Publikationen zur Inkorporation Schleswig-Holsteins in Preußen insgesamt unterstreicht. Bereits auf der Friedrichsruher Tagung wurde offen ausgesprochen, dass die Ereignisse von 1866/67 in der öffentlichen Wahrnehmung der Gegenwart kaum eine Rolle spielten. Sehr zu begrüßen ist daher die umfangreiche thematische Sonderbeilage, die vom Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlag im Jahr 2017 herausgegeben wurde und ←7 | 8→deren Beiträge gesammelt vorliegen.2 Neben besagter Tagung der Abteilung für Regionalgeschichte gab es in Schleswig-Holstein lediglich eine weitere institutionell verankerte wissenschaftliche Sichtbarmachung: die Ausstellung des Schleswig-Holsteinischen Landesarchivs in Schleswig mit dem Titel „‚Die Schleswig-Holsteiner sind fortan Preußen.‘ Schleswig-Holstein wird preußische Provinz 1867–1920“. Sie wurde von einem Vortragsprogramm flankiert, dessen Beiträge jüngst publiziert wurden.3 Zudem lieferte Frank Lubowitz einen zumindest in der regionalen Geschichtscommunity wahrgenommenen Beitrag in den Mitteilungen der Gesellschaft für schleswig-holsteinische Geschichte,4 und auch im Jahrbuch für den Kreis Stormarn fand das Thema etwas Beachtung.5 Zu guter Letzt wurden – immer im regionalen Rahmen wohlgemerkt – einzelne Aspekte der Inkorporation Schleswig-Holsteins in Preußen im Jahr 2017 in Schleswig-Holstein gewürdigt. So ließ der schleswig-holsteinische Landkreistag von der Kieler Abteilung für Regionalgeschichte eine Festschrift mit dem Titel „150 Jahre Kreise in Schleswig-Holstein“ erarbeiten, worin zwölf Autorinnen und Autoren der Abteilung die heute elf Kreise in ihrer historischen Entwicklung skizzierten und übergeordnet den Weg vom „preußischen Erlass zum kommunalpolitischen Zukunftsprojekt“ nachzeichneten.6 Dass die Verwaltungsform der Kreise nicht ohne die Inkorporation in Preußen möglich war, überrascht an dieser Stelle wohl niemanden, musste in der Festgabe aber explizit erwähnt werden. Denn schließlich verbinden viele Menschen heute mit „Preußen“ nicht konstruktive Verwaltungsreformen, sondern eher negativ konnotierte Aspekte wie etwa den Militarismus.

Dieser Umfang der historischen Auseinandersetzung ist in keiner Weise zu vergleichen mit demjenigen, den die 150. Wiederkehr des Deutsch-Dänischen ←8 | 9→Krieges und des Wiener Friedens von 1864 in der Fachwissenschaft und Öffentlichkeit eingenommen hat7 oder den die derzeitige Erinnerung an die Volksabstimmungen von 1920 und die darauf fußende Grenzziehung zwischen Dänemark und Deutschland/Schleswig-Holstein einnimmt.8 Nun kann man durchaus argumentieren, dass viele Themenfelder, die für Schleswig-Holstein ab 1866/67 relevant wurden, bereits in Publikationen zu 1864 abgehandelt worden sind. Aber andererseits spricht auch einiges dafür, die Ursachen für das eher geringe öffentliche Interesse am Jubiläum 2017 in den Abgrenzungsbestrebungen Schleswig-Holsteins zu Preußen nach 1945 zu suchen.

Da es neben dem Jahr 1866/67 auch die Folgezeit zu untersuchen galt, ist der regionalgeschichtliche Ansatz besonders sinnvoll. Denn schließlich veränderte sich der geographische Zuschnitt des Gebiets, das 1866 als Schleswig-Holstein bezeichnet wurde, im Verlauf der Zeit weiter.9 Sicher der größte Einschnitt war für die Zeitgenossen – und ist es rückblickend wahrscheinlich noch immer – die Abtretung Nordschleswigs an Dänemark nach den Volksabstimmungen von 1920. Die heute in Dänemark übliche Bezeichnung der Ereignisse als „Wiedervereinigung“ (Genforeningen) verweist auf die schon im Artikel 5 des Prager Friedens von 1866 angedachte Volksabstimmung im Norden Schleswigs. Zu dieser Abstimmung ist es bekanntlich einstweilen nicht gekommen; erst 1920 wurde sie realisiert. Für die dänisch gesinnten Zeitgenossen und auch die deutsch gesinnten Schleswig-Holsteiner beeinflusste diese Abstimmung und die daraus resultierende Grenzveränderung den Bezug zu ihrer Heimat und zu Preußen. Für die nationaldeutsche Geschichte wird 1866/67 oft nur als zweiter von insgesamt drei Schritten ←9 | 10→zur Reichseinigung abgehandelt; für Schleswig-Holstein indes markiert das Jahr 1866/67 gemeinsam mit 1864 eine markante, wenn nicht die markanteste Zäsur in seiner Geschichte: Die Einverleibung und ihre Folgen stehen symbolisch für den Bindestrich zwischen den sich zuvor zwischen den Polen von Einheit und Trennung bewegenden Herzogtümern Schleswig und Holstein. Bis heute verweist die Verwaltungsstruktur der Kreise nördlich der Elbe teilweise, selbst in ihrer Namengebung, auf das preußische Erbe, und die Provinz Schleswig-Holstein wurde 1947 in nahezu unveränderter Größe zum Bundesland gleichen Namens.

Die im Folgenden versammelten Beiträge bieten Zugänge zur schleswig-holsteinischen Geschichte, die zwar in ihren Grundzügen durchaus bekannt sind, wie der häufige Rückgriff auf Standardwerke, etwa auf die von Ulrich Lange herausgegebene Geschichte-Schleswig Holsteins, zeigt. Dennoch stellt jeder der Texte eigene und oftmals ganz neue Fragen oder nimmt veränderte Sichtweisen als bisher ein.

Den Anfang macht Tobias Köhler, der Otto von Bismarcks „schwierige Beziehung“ zu den Schleswig-Holsteinern und Lauenburgern thematisiert. Wie überall im Kaiserreich erlangte der Reichskanzler auch im hohen Norden eine große Popularität, die sich nicht zuletzt in den vielen Standbildern Bismarcks zeigte. Köhler skizziert die Beziehung Bismarcks zu seiner „Wahlheimat“, den Kreis Herzogtum Lauenburg, und blickt auf die Huldigungsfahrten von Schleswig-Holsteinern zum Fürsten in den Sachsenwald. Sein Untersuchungszeitraum beginnt bereits vor der Inkorporation – schließlich hatten die Herzogtümer spätestens seit dem Bürgerkrieg, der von 1848 bis 1851 im dänischen Gesamtstaat tobte, eine Beziehung zu dem Preußen, die – auch das zeigt Köhler – dann auch nach seinem Tod 1898 nicht endete.

Frank Möller stellt darauf die Frage, was Schleswig-Holstein Preußen konkret einbrachte, und erörtert den potentiellen Wert der Herzogtümer für das Königreich, auch wenn dieses niemals Geld für die Einverleibung gezahlt hat. Aus preußischer Sicht war die Eingliederung der Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg zunächst kein unmittelbarer Gewinn, sondern eine für die Nationsbildung notwendige Maßnahme, deren Wert sich erst in den Folgejahren zeigen sollte. Dieser Wert lag nicht in der Bevölkerungszahl; auch erreichte die Region in vielerlei Hinsicht preußische Standards zunächst nicht. Vielmehr muss der Wert in der geostrategischen Lage der Herzogtümer gesehen werden: Durch deren Inbesitznahme konnte Preußen Nord- und Ostsee über den bald gebauten Kaiser-Wilhelm-Kanal miteinander verbinden und so die eigene Flotte autark von West nach Ost und umgekehrt verlegen. Preußen brachte indes für Schleswig-Holstein einen nie gekannten Modernisierungsschub, was reziprok auch wieder Preußen Vorteile brachte.

Ähnlich provokant fragt auch der folgende Beitrag von Carsten Walczok: „Waren die Lauenburger gute Preußen?“ Der Autor betont den eigenen ←10 | 11→Weg des dritten Herzogtums, das bereits 1865 Teil des preußischen Staates, erst 1876 aber als Kreis Herzogtum Lauenburg Teil der Provinz Schleswig-Holstein wurde. Walczok skizziert kurz die lauenburgische Geschichte neben der schleswig-holsteinischen und preußischen, bevor er dann die Eigenheiten eben des Herzogtums Lauenburg in Preußen aufzeigt. Auch wenn, so Walczok, der Übertritt zu Preußen nicht ganz freiwillig geschah, arrangierten sich die Lauenburger recht schnell, zumal das kleine Herzogtum und der spätere Kreis enorm von der Modernisierung profitierten.

Katharina Priewes umfangreicher Text über den Einfluss der Inkorporation auf die Architektur in Schleswig-Holstein, die zum Teil heute noch zu sehen ist, bietet im Anschluss einen fundierten Zugang zur Regionalgeschichte in einer bauhistorischen Perspektive. Priewe gibt den Leserinnen und Lesern neben diversen Fallbeispielen vor allem bildhafte Einblicke in öffentliches Bauen und Städtebau nach 1867. Mit drei Beispielen, dem Landbaumeister Hermann Georg Krüger, dem Stadtbaumeister Gustav Ludolf Martens und dem Stadtbaumeister Magnus Schlichting, stellt sie nachvollziehbar Brüche und Kontinuitäten der Bauweise des 19. Jahrhunderts dar, die keinesfalls zwischen „dänischer“ und „preußischer“ Architektur verlaufen. Vielmehr war die regionale Bauweise von Trends aus Hannover oder Kassel geprägt. Von der Bevölkerung wurde der Stil des Historismus im Gegensatz zum in dänischer Zeit prägenden Klassizismus jedoch als „preußisch“ wahrgenommen und so mitunter, besonders in den ersten Jahren nach der Inkorporation, durchaus kritisiert.

Frank Lubowitz wendet sich dann mit den Schlüsselbegriffen „Reform“ und „Modernisierung“ der Geschichte der neuen preußischen Provinz zwischen 1867 und 1890 zu und räumt der Verwaltung, aber auch wirtschaftlichen Entwicklungen den gebührenden Platz ein. Bis heute prägend war die Einteilung der Provinz in relativ gleichgroße Kreise und eine damit einhergehende grundlegende Umstrukturierung auf kommunaler Ebene. Deutlich hoben sich die von Preußen eingeführte Gewerbefreiheit, die Wehrpflicht oder die Trennung von Jurisdiktion und Verwaltung von der im dänischen Gesamtstaat vorherrschenden Situation ab. Der Modernisierungsschub zeigte sich insbesondere im Bevölkerungswachstum und dem Zuzug in die Städte, die, allen voran Kiel, größenmäßig förmlich explodierten. Lubowitz geht zudem auf wirtschaftliche Veränderungen und den Ausbau der Infrastruktur ein. Darüber verliert er nicht den Blick für die Bevölkerung, die sich in einer kurzen Zeit massiver Umbrüche mehr und mehr differenzierte, was langfristig schwerwiegende gesellschaftliche Konsequenzen nach sich zog.

Mogens Rostgaard Nissen und Klaus Tolstrup Petersen thematisieren die Minderheitenfrage im kaiserzeitlichen Schleswig-Holstein. Wo es bisher zumeist um die gesamte Provinz Schleswig-Holstein ging, wandert ihr Blick sujetbedingt in deren Norden. Dabei liefern die Autoren aber keinen ←11 | 12→klassischen Aufsatz zur dänischen Minderheit in Nordschleswig, sondern analysieren aufmerksam die Minderheitenpolitik, wie sie im Land- und Reichstag vonstatten ging. Die Perspektive wechselt dabei zwischen den regionalen Akteuren, den politischen Vertretern der Minderheit, und ihrer Arbeit in Berlin, wo sie die Tagespolitik Preußens und des Reiches mitgestalteten. Besonders die Heterogenität der Minderheit, ihre verschiedenen Positionen und Haltungen, die gegenüber Preußen zwischen 1866 und 1920 nicht nur in Berlin, sondern auch regional durch Verbände und Zusammenkünfte ausgedrückt wurden, werden von den Autoren sichtbar gemacht.

Johannes Rosenplänter geht dann konkret am Beispiel der ansässigen Reichsinstitutionen auf Kiel als Bühne des Kaiserreichs ein. Nicht Preußen, sondern das Reich stand seiner Meinung nach im Mittelpunkt, was er mit zahlreichem, teils bisher unbekanntem Bildmaterial aus dem Kieler Stadtarchiv argumentativ untermauert. Rosenplänter nennt Kiel daher auch die „deutscheste“ Stadt im Reich, in der eine ungewöhnlich große Zahl Reichsbehörden angesiedelt wurden und mit Prinz Heinrich von Preußen ein namhaftes Mitglied der kaiserlichen Familie stets präsent war. Viele der in Kiel in preußischer Zeit gebauten Denkmäler zeigten die Stärke des Reiches, nicht des Königreiches Preußen, und in diesem Reich konnte Kiel und somit Schleswig-Holstein aufgehen.

Ebenfalls mit Blick auf Kiel lässt Lisa Kragh die dortige Universität und ihre Professoren zu Wort kommen. Die Stimmung an der CAU, wiedergegeben durch Reden und Briefe der Professorenschaft, wird vor allem für die Zeit um 1866/67, aber auch für die unmittelbaren Folgejahre vorgestellt. Daraus sind Rückschlüsse auf persönliche Meinungen genauso möglich, wie sie auf die Stimmung der Kieler Elite insgesamt übertragbar sind. Da die Professoren vor allem in ihren Reden auch für die Universität als Ganzes sprachen, kann zudem auch die Haltung der Universität zur neuen politischen Zugehörigkeit Schleswig-Holsteins zu Preußen diskutiert werden. Übergreifend geht es um das Verhältnis von Universität und Staat, von akademischer Freiheit und finanzieller Abhängigkeit und um das Verhältnis von Universität und Öffentlichkeit – um Themen also, wie sie bis heute ganz aktuell sind.

Auch Caroline Weber beschäftigt sich mit Öffentlichkeit und Wahrnehmung. Ausgehend von der Liedzeile „Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben?“, gefolgt vom Vers „Die Fahne schwebt mir weiß und schwarz voran“, analysiert sie die öffentlich sichtbaren und dadurch öffentlich diskutierten Positionierungen von Schleswig-Holsteinern zu Preußen und dem Deutschen Reich. Neben Liedgut werden Egodokumente, Denkmäler, Postkarten und Abstimmungsplakate auf die Identifikation der Schleswig-Holsteiner mit Preußen zwischen 1866 und 1920 in ihre Betrachtung miteinbezogen. Wie in allen Beiträgen wird auch hier deutlich, dass es nicht „die“ Meinung ←12 | 13→zu Preußen gab, sondern dass sich letztlich innerhalb der Provinz extreme lokale und/oder persönliche Unterschiede in der Bewertung der schleswig-holstein-preußischen Verbindung ergaben.

Julian Freche betrachtet schließlich die Freie und Hansestadt Lübeck in ihrem Verhältnis zu Preußen im 19. und 20. Jahrhundert und sensibilisiert dabei für eine weitere Inkorporation, die im Falle Lübecks nicht 1866/67, sondern erst 1937 im Zuge des von den Nationalsozialisten verabschiedeten Groß-Hamburg-Gesetzes erfolgte. Dass Lübeck aber spätestens im Zuge des Deutschen Krieges 1866 Position zu Preußen beziehen musste und sich die Lübecker sehr schnell mit dem Deutschen Kaiser und Reich identifizieren konnten, wird aus seinen Ausführungen gut deutlich.

Zur Friedrichsruher Tagung steuerte Martin Göllnitz einen abschließenden Kommentar bei, der neben einer kritischen Zusammenfassung auch weitere Ausblicke bot und anknüpfende Fragestellungen einforderte. Konkret müsse das schleswig-holsteinische Verhältnis zu Preußen nach dem Zweiten Weltkrieg und in der Bundesrepublik untersucht werden, da Schleswig-Holstein hier vor allem Abgrenzung zu den so lange präsenten und prägenden „preußischen Tugenden“, nicht zuletzt dem in Kiel besonders sichtbaren „Marinekult“, gesucht habe. Auch der regionale Vergleich mit anderen 1866 neuen preußischen Provinzen wie Hannover und Hessen-Nassau sei nach Göllnitz fruchtbar, um die schleswig-holsteinische Geschichte innerhalb Preußens besser einordnen zu können.10 Für den Band verschriftlichte Göllnitz nun zu allen vorhandenen Beiträge eine wertvolle Synopse mit nicht weniger begrüßenswerten Perspektivierungen bezüglich der weiteren Arbeit. Er charakterisiert die Inkorporation als eine „Pflichthochzeit mit Pickelhaube“, die zwar öffentlich wirksam durchaus gefeiert wurde und auf die man rückblickend bis 1945 mitunter verklärend zurückblickte, die aber aus der schleswig-holsteinischen Sicht von 1866/67 eben überwiegend eine Zwangsehe war. Göllnitz’ Synopse ordnet die unterschiedlichen thematischen Schwerpunkte der Aufsätze in die drei Themenblöcke „Sympathien und Ablehnung“, „Modernisierung“ und „Repräsentation“ und kann so Gemeinsamkeiten, aber auch Desiderate klar benennen. Vor allem die Rolle Preußens als „Erinnerungsort“ Schleswig-Holsteins sollte seiner Meinung nach in der kommenden Zeit kritisch untersucht werden, da „Preußen im Selbstversicherungsdiskurs der Bundesrepublik Deutschland […] vielfach als Negativmatrize“ galt und gilt.

Vorliegender Band repräsentiert den Stand der regionalen Forschung zur schleswig-holsteinisch-preußischen Geschichte zwischen 1866 und 1918/20. Zugleich liefert er neue Anknüpfungspunkte für weitere Fragen. Besonders ←13 | 14→mit Blick auf das Jahr 2020, in dem in Schleswig-Holstein, Deutschland und Dänemark die deutsch-dänische Grenzverschiebung von 1920 erinnert wird, können einige der hier versammelten Beiträge Ausgangspunkt weiterer Ausführungen sein. Die Autorinnen und Autoren haben ihre Schwerpunkte bewusst auf die Jahre unmittelbar nach 1866/67 gelegt; viele gehen aber auch ausführlich auf die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg ein. Mit den Volksabstimmungen von 1920 änderte sich der territoriale Zuschnitt der Provinz Schleswig-Holstein, und auch die inneren Strukturen, etwa die Verwaltung oder die einzelnen Kreise, wurden in den weiteren Jahren bekannterweise noch mehrfach verändert. So ist die Inkorporation Schleswig-Holsteins in Preußen von 1866/67 auch heute noch aktuell, und die wissenschaftliche Diskussion kann auch für weitere Themenfelder als Fundament dienen.

Uns Herausgebern verbleibt es an dieser Stelle, allen Autorinnen und Autoren für ihre Vorträge in Friedrichsruh und vor allem für ihre zu Aufsätzen ausgearbeiteten Beiträge zu danken. Die redaktionelle Arbeit begleiteten die Hilfskräfte Antonia Grage und Tomke Jordan. Letztere hat zudem mit Manuel Ovenhausen den seinerzeitigen Tagungsbericht angefertigt. Auch dafür sagen wir natürlich Danke! Zum Gelingen des Gesamtprojektes „150 Jahre Inkorporation Schleswig-Holsteins in Preußen“ hat ebenfalls die finanzielle Förderung der Tagung durch die Stiftung Herzogtum Lauenburg und die Otto-von-Bismarck Stiftung beigetragen. Beiden Stiftungen gilt dafür unser herzlicher Dank. Insbesondere sind wir dem Geschäftsführer der Otto-von-Bismarck Stiftung, Prof. Dr. Ulrich Lappenküper, dafür zu Dank verpflichtet, dass er die Räumlichkeiten der Stiftung für die Tagung zur Verfügung gestellt hat. Dem Peter Lang Verlag, der seit vielen Jahren die Reihe der Kieler Werkstücke publiziert, möchten wir zu guter Letzt an dieser Stelle erneut für die langjährige und stets gute Zusammenarbeit danken.

Nun wünschen wir allen Interessierten eine angenehme Lektüre der hier versammelten Beiträge!

Im März 2020, als die Welt wegen Covid-19 stillstand
Oliver Auge und Caroline Elisabeth Weber

Details

Seiten
280
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631828120
ISBN (ePUB)
9783631828137
ISBN (MOBI)
9783631828144
ISBN (Hardcover)
9783631807187
DOI
10.3726/b17334
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Oktober)
Schlagworte
Wahrnehmung Öffentlichkeit Modernisierung Architektur Lauenburg Kiel Grenzen Deutsches Reich Nordschleswig Regionalgeschichte
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 280 S., 3 farb. Abb., 37 s/w Abb.

Biographische Angaben

Oliver Auge (Band-Herausgeber:in) Caroline E. Weber (Band-Herausgeber:in)

Oliver Auge ist Direktor der Abteilung für Regionalgeschichte der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Caroline Elisabeth Weber ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung für Regionalgeschichte der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

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