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Salafismus in Deutschland

Entstehung, Radikalisierung und Prävention

von Rauf Ceylan (Band-Herausgeber:in) Benjamin Jokisch (Band-Herausgeber:in)
©2014 Konferenzband 268 Seiten

Zusammenfassung

Salafismus zeigt sich derzeit hauptsächlich in der medial aufgearbeiteten Form des zeitgenössischen politischen Salafismus: radikal, schnell wachsend, national und international als aktuelle Bedrohung empfunden. Dem öffentlichen Diskurs fehlt es häufig an Information und Differenzierung. Es gilt einerseits, Gefahren nicht kleinzureden, um Prävention und angemessene Reaktion zu ermöglichen, und andererseits, diese Minderheit in der Minderheit daran zu hindern, das Bild der Muslime in der Mehrheitsgesellschaft zu prägen. Informierend und differenzierend untersucht der vorliegende Band das Thema Salafismus in zwei Teilen unter den Gesichtspunkten Geschichte und Gegenwart des Salafismus in der islamischen Welt und, dem Titel folgend, Salafismus in Deutschland. Radikalisierung und Prävention.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • I Geschichte und Gegenwart des Salafismus in der islamischen Welt
  • „Salafistische“ Strömungen im vormodernen Islam
  • I. Einleitung
  • II. Charakteristika des modernen Salafismus
  • 1. Tradition
  • 2. Exklusivismus
  • 3. Ǧihād
  • 4. Einheit von Staat und Religion
  • 5. Reaktivierung des Iǧtihād
  • III. „Salafistische“ Vertreter und Bewegungen der Vormoderne
  • a) Ḥanbaliyya
  • aa) Aḥmad b. Ḥanbal
  • bb) Ibn Taymiyya (st. 1328)
  • cc) Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb (st. 1792)
  • b) Ḫāriǧiyya
  • IV. Fazit
  • Literatur
  • Zur Bedeutung von salaf und „Salafismus“
  • 1. Der Begriff salaf
  • 2. Der Begriff salafiyya
  • 3. Salafismus
  • Literatur
  • Der Salafismus in innerislamischer Selbst- und Fremdverortung
  • Einleitung
  • Das Selbstverständnis der Neo-Salafiyya und die historische ahl al-ḥadīṯ
  • Aḥmad b. Ḥanbal und die Neo-Salafiyya
  • Ibn Taymiyya und die Neo-Salafiyya
  • Entstehung und Einfluss der Wahhābiyya
  • Ähnlichkeit der Neo-Salafiyya zur Ahl-i Hadith
  • Irritationen um die richtige Bezeichnung
  • Die Neo-Salafiyya im „Erbe“ deutscher und islamischer Reformer?
  • Fremdsicht auf den Neo-Salafismus und die Stellung zum Mehrheitsislam
  • Meinungsvielfalt auch in Glaubensfragen
  • Das Geschichtsbild der Neo-Salafiyya im Gegensatz zum Mehrheitsislam
  • Zwischenbilanz
  • Eine religionswissenschaftliche Perspektive
  • Eine theologische Perspektive
  • Ausblick ̶ Neo-Salafiyya: Quo Vadis?
  • Literatur
  • Zu konzeptuellem Gehalt und medialen Dimensionen des dschihadistischen Märtyrerkults des 20. und 21. Jahrhunderts: Das Erbe ʿAbdullāh ʿAzzāms
  • Einleitung
  • I. ʿAbdullāh ʿAzzām (1941-1989)
  • II. Das Märtyrerkonzept ʿAzzām ʿAzzāms
  • 1. Anschluss an die sunnitische Tradition
  • a) Der „Märtyrer auf dem Schlachtfeld“ (šahīd al-maʿrakah)
  • b) Anschluss an traditionelle Formen der islamischen Literatur
  • 2. Der zeitgenössische Kontext: Konkurrenz zu säkularen Märtyrerfiguren
  • a) Der palästinensische fidāʾī: Blut und Opfer
  • b) Märtyrer als Elite
  • 3. Die Weiterentwicklung zum Märtyrer als Selbstmordattentäter
  • III Medialer Märtyrerkult
  • 1. ʿAzzām als Medienpionier
  • a) Bilder: Propagandawert sticht Bilderverbot
  • 2. Individuelle und kollektive Erlösung in Ton und Bild
  • Zusammenfassung
  • Literatur
  • Salafismus, Zelotismus und politischer Exklusivismus
  • Salafiyya: Verschiedene Strömungen
  • Vormoderne salafiyya und Schriftfundamentalismus
  • Politik und Exklusivismus
  • Moderne salafiyya
  • Politische salafiyya und ihr politscher Utopismus
  • Politische salafiyya und die Normen des demokratischen Verfassungsstaates
  • Verbreitung, Indoktrination, wechselnde Bündnisse und ideologische Auseinandersetzungen via Internet
  • Problem und mögliche Lösung
  • Literatur
  • Das gezielte Töten von Zivilisten und Nichtkombattanten im salafitischǧihādistischen Diskurs
  • Einleitung
  • Potentielle Terrorziele
  • Die Rechtfertigung des Tötens von Nichtkombattanten bzw. Zivilisten
  • Gezielte Anschläge auf Muslime
  • Schlussbetrachtung
  • Literatur
  • Salafism and the Arab Revolutions. Analyzing some general trends
  • Quid Salafism?
  • Salafism and the question of politics
  • Salafism and violence/jihad
  • Salafism and sectarianism
  • Some tentative conclusions
  • Bibliography
  • Salafismus zwischen Realität und Fantasie
  • Literatur
  • II Salafismus in Deutschland: Aspekte der Radikalisierung und Radikalisierungsprävention
  • Radikalisierung von Jugendlichen durch salafistische Strömungen in Deutschland
  • Vorbemerkungen
  • Salafistische Strömungen in Deutschland
  • Politischer Salafismus als radikale Jugendsubkultur
  • Was macht Salafismus attraktiv?
  • Generation Pop-Jihad
  • Vom Gangsta-Rapper zum Jihad-Propagandisten
  • Ikonografie der Ideologie und die Rolle der Musik
  • Ein kurzes Fazit
  • Literatur
  • Zu politischer Identitätsbildung als Radikalisierungsfaktor bei jungen Muslimen in Deutschland
  • I. Begriffsbestimmungen und theoretische Überlegungen
  • I. 1. Radikalisierung und Extremismus
  • I. 2. Salafismus – Salafiten: Zur Problematik der Begriffsbezeichnungen
  • II. Politische Mobilisierung und Radikalisierung
  • II.1 Dichotome Freund-Feindbilder
  • II.2 Theologische Debatten
  • II.2.1 Takfīr [dt. Bezichtigung des Unglaubens]
  • II.2.2 Verhalten gegenüber Gesetzen der „kuffār“ und dem deutschen Rechtssystem
  • III. Fazit – Überlegungen zum Radikalisierungsfaktor dschihadistischer Videos
  • Literatur
  • Radikalisierungsmechanismen am Beispiel des Salafismus in Deutschland
  • Was ist Radikalisierung?
  • Radikalisierung – ein Gruppenphänomen
  • Die Radikale Gruppe und die Suche nach Identität
  • Die radikale Gruppe im Prozess der Identitätssuche
  • Gewalt als Strategie
  • Deradikalisierungsstrategien als Reaktion?
  • Literatur
  • Thesen zum Umgang mit der neosalafistischen Mobilisierung – Zwischen Hilflosigkeit und gezielter pädagogischer Intervention
  • I. Einleitung
  • II. Thesen
  • Literatur
  • Personenverzeichnis
  • Personenverzeichnis
  • Reihenübersicht

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Einleitung

Benjamin Jokisch/Rauf Ceylan

Der Salafismus als islamisch-fundamentalistische Strömung hat weltweit, und so auch in Deutschland, deutlich an Relevanz gewonnen, was sich nicht zuletzt in der medialen Präsenz der Thematik widerspiegelt. Die Zahl vor allem gewaltbereiter Salafisten im Lande hat in den vergangenen Jahren zweifellos zugenommen, auch wenn der Anteil salafistischer Gruppierungen an der Gesamtzahl der Muslime nach wie vor sehr gering ist. Angesichts massiver Gesetzesüberschreitungen durch Salafisten besteht Einigkeit in allen Teilen der Gesellschaft über die Notwendigkeit geeigneter Gegenmaßnahmen, wobei die Behandlung der Symptome durch die Sicherheitsbehörden bisher im Vordergrund stand. Die immer deutlicher werdende Komplexität des Phänomens macht darüber hinaus gehende Maßnahmen erforderlich. Vor allem aber zeigen sich immer noch Defizite in der Erforschung der Ursachen, Erscheinungsformen und Methoden des Salafismus sowie in der Einwicklung geeigneter, koordinierter Strategien im Bereich der Prävention und Deradikalisierung.

Ziel des vorliegenden Bandes ist es, diesem Desiderat nachzukommen und einen weiteren Beitrag zur interdisziplinären Erforschung des Salafismus zu leisten. Muslimische Theologen, Sozialwissenschaftler, Sicherheitsexperten sowie Islamkundler sind aufgefordert, verschiedene Aspekte des Salafismus aus ihrer jeweiligen Perspektive zu beleuchten, wobei der Fokus einerseits auf Entstehungsgeschichte und Zustandsbeschreibung des Phänomens (Teil I) und andererseits auf den Radikalisierungsmechanismen und den Möglichkeiten der Prävention liegt. Vorrangig geht es um den Salafismus in Deutschland, doch im Hinblick auf die historische Entwicklung sowie die aktuelle Bedeutung auf globaler Ebene ergeben sich Fragestellungen, die über Deutschland als Betätigungsfeld des Salafismus hinausgehen.

Ein zentrales Problem bei der Behandlung des Gegenstandes bleibt die klare Eingrenzung des Phänomens. Der zunehmend erkennbaren Vielschichtigkeit der Erscheinung steht eine inflationär pauschalisierende Anwendung des Begriffes „Salafismus“ in den Medien sowie auch in der wissenschaftlichen Literatur gegenüber. Trotz vielfacher Differenzierungsversuche ist immer noch nicht klar, was genau der Salafismus beinhaltet. Insbesondere die Beiträge von M. Diaw und R. Lohlker liefern hier Einblicke in die gängigen Typologien sowie Vorschläge für weitere Differenzierungen, zumal der Salafismus ein hohes Maß an Heterogenität und Fluktuation aufweist. ← 7 | 8 →

Sinnvoll erscheint zudem die in der Tendenz überwiegende Feststellung, dass der Salafismus ein insgesamt neuartiges Phänomen darstellt, das sich historisch nicht als ein dem Islam wesensimmanentes Element erklären lässt und deshalb, so manche Autoren, besser unter dem Begriff „Neo-Salafismus“ zu fassen ist. Der Rückbezug auf Traditionen des frühen, ursprünglichen Islam als charakteristischer Zug nahezu aller islamischen Strömungen, und nicht nur des Salafismus, kann und darf in dieser Allgemeinheit nicht als Rechtfertigung dafür dienen, den Islam als Ganzes unter Generalverdacht zu stellen. Dies wird besonders deutlich im Beitrag von A. Kozali, der auf der Grundlage relevanter Texte aus Koran und Sunna gezielt auf den Unterschied von salaf und „Salafismus“ eingeht und nachweist, dass die frühislamische Tradition in Wirklichkeit einem steten Wandel unterlag und in keiner Weise der von den Salafisten vorgegebenen statischen Form entspricht. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt die Studie von Mitherausgeber B. Jokisch über eventuelle Vorläufer des Salafismus im vormodernen Islam. Abgesehen davon, dass es in der Vormoderne keine Bewegung oder Strömung mit der Bezeichnug „Salafiyya“ gab, weisen alle von den Salafisten bemühten Traditionsmaterialien und Konzepte erhebliche Transformationen auf, die nicht zuletzt auf die Abkoppelung vieler Salafisten von der etablierten islamischen Gelehrsamkeit zurückgehen. Eine direkte konzeptuelle oder sonstige historisch gewachsene Verbindung mit autoritativen Persönlichkeiten der Vormoderne wie Amad b. anbal (st. 854), einem maßgeblichen Vertreter der ahl al-adī und Gründervater der anābila, Ibn Taymiyya (st. 1328) oder Muammad b. ‘Abdalwahhāb (st. 1792), wie sie die Salafisten zumeist postulieren, ist nicht erkennbar. Während die formale vorgebliche Anknüpfung an die Tradition einen legitimatorischen Zweck erfüllt, dient die für den Laien i.d.R. nicht erkennbare Transformation der Traditionen und Konzepte durch Selektion, Neuinterpretation und Verbindung mit neuen, teilweise nicht-islamischen Elementen der Anpassung an die propagandistischen und gegebenenfalls militärisch-strategischen Bedürfnisse der salafistischen Gruppierungen. Ein konkretes Beispiel dafür bildet der von ‘Abdullāh ‘Azzām im 20. Jahrhundert begründete und von S. Horsch in ihrem Beitrag detailliert beschriebene Märtyrerkult. Das in der Tradition auf das Jenseits beschränkte Märtyrerkonzept wird im salafistischen Kontext erweitert und durch Verknüpfung mit säkularen (nationalen, kommunistischen) Elementen wie etwa der Opferrhetorik der palästinensischen Dichtung auf das Diesseits bezogen. Die Stilisierung der Märtyrer als Elite im Rahmen des salafistischen Märtyterkultes geht in Wirklichkeit auf leninistischen Ursprung zurück. Mitunter wird die Tradition direkt außer Kraft gesetzt, indem etwa durch Missachtung des ehemals strengen Bilderverbotes Bilder von sterbenden Menschen in die mediale Propaganda einbezogen werden. Ähnliches gilt für die Legitimation zum Töten, ein ← 8 | 9 → Konzept, das bei den salafistischen Agitatoren ebenfalls eine erhebliche Umdeutung erfährt. Wie E. Sukhni in seinem Artikel herausstellt, weichen die gewaltbereiten Gruppierungen der Salafisten auch hier von der Tradition ab und erweitern den Kreis der als „Ungläubige“ zu qualifizierenden Feinde des Islam generell auf Herrscher (islamischer und nicht-islamischer Länder) und ihre Kollaborateure sowie auf unbeteiligte Zivilisten, Frauen und Kinder, deren Tötung als „unvermeidbarer Kollateralschaden“ gerechtfertigt wird.

All diese Positionen, die hier nur exemplarisch vorgestellt werden können, stehen nicht nur im Widerspruch zur gängigen Auffassung vormoderner muslimischer Gelehrter – einschließlich des von den Salafisten beanspruchten Ibn Taymiyya – sondern erregen auch den Unmut der meisten muslimischen Autoritäten der Gegenwart. In seinem Beitrag zur Selbst- und Fremdverortung des Salafismus innerhalb des Islam beschreibt B. Dziri u.a. die sunnitische Offensive, der sich militante salafistische Gruppierungen gegenübersehen. In Anlehnung an eine historische Parallele werden sie von der sunnitischen Mehrheit als „awāriǧ“ deklassiert, da sie gleich jener frühislamischen, hochmilitanten Sekte jenseits der islamischen Orthodoxie stehen und von dieser als Bedrohung angesehen werden. Als wesentliches Kriterium zur Unterscheidung der (repräsentativen) islamischen Hauptströmungen und jener militanten (nicht-repräsentativen) Splittergruppen verweist der Autor auf das itilāf-Prinzip (Duldung der Meinungsvielfalt), das für die Ersteren, nicht aber für die Letzteren gelte. Insgesamt wird deutlich – und dieser Aspekt wird leicht unterschätzt – dass der Salafismus nicht nur für die westliche Welt, sondern auch für den weitaus größten Teil der islamischen Welt eine ernste Herausforderung darstellt. Der Salafismus zeigt sich in höchst unterschiedlichen regionalspezifischen Formen. Dennoch entwickelt er sich nicht losgelöst von der globalen weltpolitischen Lage. Wie sehr auch der deutsche Salafismus mit der Weltpolitik verknüpft ist, hat erst jüngst die Neigung einiger deutscher Salafisten zur Teilnahme am Bürgerkrieg in Syrien offenbart. Auch der arabische Frühling hat sicherlich zur Intensivierung salafistischer Aktivitäten in verschiedenen Teilen der Welt beigetragen. Insbesondere diese Ereignisse bilden den Hintergrund für die Studie von S. Zemni, der sich mit der Entstehung und Entwicklung salafistischer Strömungen und Parteien im Rahmen der arabischen Revolutionen in Ägypten und Tunesien befasst und davon ausgehend den Aspekt der Globalisierung salafistischer Ideologien herausstellt. Ein Beispiel für die Wirkkraft salafistischen Aktivismus, so S. Zemni, ist die neuerdings zu beobachtende Verschärfung des Konflikts zwischen Sunniten und Schiiten.

Der stärker auf Deutschland fokussierte zweite Teil des Bandes behandelt Aspekte der Radikalisierung sowie Möglichkeiten der Prävention. Einen empirisch äußerst fundierten Bericht zu Radikalisierungsprozessen unter deutschen ← 9 | 10 → Jugendlichen liefert C. Dantschke von der Gesellschaft Demokratische Kultur in Berlin. Der Fokus ihrer Studien liegt auf dem politischen Salafismus, den sie scharf vom puristischen, nicht-gewaltsamen Salafismus unterscheidet. Die Ursachen der Radikalisierung dschihadistischer Salafisten sind nach ihren Beobachtungen zunächst in der Zunahme der Prediger, aber auch im propagandistischen Potential des Internets zu sehen. Die für den Salafismus rekrutierten Jugendlichen, darunter auch Mädchen, erweisen sich zumeist als religiös-theologische Analphabeten und stammen aus durchaus unterschiedlichen Milieus. Oftmals aber sind sie gesellschaftlich ausgegrenzt und damit empfänglich für salafistische Multiplikatoren mit ähnlicher Sozialstruktur. Neben der Authentizität der Protagonisten ist es auch die Symbolsprache, das Outfit und die Verbildlichung der Ideologie. Entgegen der islamrechtlichen musikkritischen Tradition konnte sich ein Pop-Dschihadismus entwickeln, in dem Maximen des Salafismus über die Musik vermittelt werden. Inhaltlich fördert der Salafismus mit einem exklusiven Wahrheitsanspruch das Selbstwertgefühl der zumeist stigmatisierten Anhänger. Die Ideologie der Ungleichwertigkeit schafft einen scharfen Kontrast zu allen Andersdenkenden, während gleichzeitig innerhalb der Gemeinschaft Egalitarismus suggeriert wird. Generell bilden salafistische Zirkel ein attraktives Sammelbecken für Jugendliche, die aufgrund verschiedener Stigmata nicht oder nicht voll in die Gesellschaft integriert sind. Statt repressiver Maßnahmen durch die Sicherheitsbehörden plädiert die Autorin daher für präventive Maßnahmen im Rahmen zivilgesellschaftlicher Einrichtungen.

Ebenfalls empirisch wertvolle Daten beinhaltet der Beitrag von S. Damir- Geilsdorf. Auf der Grundlage verschiedener Videos, Foren, Websites und qualitativer Interviews mit Akteuren der salafistischen Szene geht sie der Frage nach, inwieweit die politische Identitätsbildung als Faktor für die Radikalisierung muslimischer Jugendlicher zu betrachten ist. Während die Debatten zwischen den verschiedenen, puristischen und politischen Gruppierungen der Salafisten einerseits eine Vielfalt von Positionen offenbaren, zeigen sie andererseits eine gewisse Tendenz zur Einbeziehung politischer Faktoren bei der Bestimmung der Gruppenidentität. Kennzeichnend ist die Formulierung dichotomer Weltbilder, in denen klar zwischen Freund und Feind unterschieden wird und die an gängige, nicht ureigentlich islamische Kritikmuster (Kapitalismuskritik, Antiamerikanismus) anknüpfen. Auch der Bezug auf politische Konflikte und Kriege in der islamischen Welt und die Solidarisierung mit den dortigen Muslimen fördert das Wir-Gefühl. In Verbindung mit persönlichen Ausgrenzungserfahrungen kann dies zur Radikalisierung führen. Umgekehrt können die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Gruppierungen der Salafisten aber auch einen deradikalisierenden Effekt haben, wenn etwa streng dschihadistische Positionen einer massiven Kritik durch puristische Salafisten ausgesetzt sind. ← 10 | 11 →

Weitere Beschreibungen zur Innenstruktur salafistischer Gruppierungen unter besonderer Berücksichtigung relevanter Radikalisierungsmechanismen finden sich in der Studie von M. Abou-Taam. Generell lassen sich salafistische Gemeinschaften weniger auf eine besondere Attraktivität islamischer Ideen als vielmehr auf eine allgemeine Sinnkrise, bedingt durch radikale gesellschaftliche Transformationen und die Suche nach einer eigenen Identität, zurückführen. Die von den Gruppierungen vermittelten Werte vermitteln ein Gefühl der moralischen Überlegenheit, das durch die staatlichen Verfolgungen der eingeschworenen Gemeinschaften noch verstärkt wird. Der Zusammenhalt innerhalb der Gruppen ist so stark, dass Denken nur im Kollektiv möglich ist, während eine interne diskursive Auseinandersetzung mit den programmatischen Inhalten ausgeschlossen wird. Obwohl die Gruppen zunächst egalitaristisch erscheinen, sind sie unter der Leitung eines charismatischen Oberhauptes in Wirklichkeit hierarchisch strukturiert. Je nach Einsatz- und Gewaltbereitschaft ist ein Aufstieg innerhalb der Gruppe möglich, was wiederum die Bindung an die Gemeinschaft verstärkt. Angesichts der komplexen Strukturen salafistischer Gruppen hält der Autor differenziertere Deradikalisierungsstrategien für erforderlich, was u.a. eine engere Vernetzung der Teilkompetenzen (Polizei, Jugendämter, Migrationsbeauftragte, islamische Einrichtungen etc.) impliziert.

Der letzte Beitrag des Bandes von M. Kiefer verweist nochmals in prägnanter Weise auf die bisherigen Versäumnisse, fehlende Expertise und Ressourcen im Umgang mit der neosalafistischen Mobilisierung. Nicht nur bedarf der Radikalisierungsbegriff einer Präzisierung – nicht jedes Bekenntnis zum Salafismus impliziert Radikalisierung –, auch die empirischen Daten über den Bestand salafistischer Gruppen in Deutschland sowie ihre Rekrutierungs- und Mobilisierungsstrategien sind nach wie vor ungenügend. Auch sieht der Autor in der Dominanz sicherheitsbehördlicher Maßnahmen eine Gefahr, zumal die muslimischen Teile der Bevölkerung in die Defensive gedrängt werden. Vielmehr sollten Maßnahmen der primären und sekundären Prävention von sicherheitsrelevanten Maßnahmen der tertiären Prävention getrennt werden. Außerdem ist der Salafismus als ein gesamtgesellschaftliches, und nicht spezifisch islamisches, Phänomen zu sehen, dem auf der Präventionsebene durch Erweiterung der Zielgruppen entsprechend begegnet werden müsse.

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I

Geschichte und Gegenwart des Salafismus in der islamischen Welt

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„Salafistische“ Strömungen im vormodernen Islam

Benjamin Jokisch

I. Einleitung

Verfolgt man die Medien, entsteht leicht der Eindruck, der Islam sei eng verknüpft mit Fanatismus und Gewalt, mit Werten, die den Vorstellungen moderner demokratischer Gesellschaften widersprechen.1 Dies gilt insbesondere für jene Strömung des Islam, die allgemein als „Salafismus“ bezeichnet wird und in ihrer radikalen Ausprägung tatsächlich zur Anwendung von Gewalt neigt. Während die Einschätzungen bezüglich der Anzahl gewaltbereiter Salafisten in Deutschland wie auch in anderen Ländern schwanken, besteht doch Einigkeit darüber, dass es sich um eine kleine Minderheit handelt. Die für die überproportionale mediale Präsenz verantwortlichen Gruppen radikaler Salafisten sind in ihrer Zahl und Stärke zweifellos begrenzt, werfen aber dennoch die hier näher zu behandelnde Frage auf, inwieweit die Wurzeln des Salafismus in der Geschichte des Islam zu suchen sind, zumal Salafisten sich ja gerade auf Konzepte und Autoritäten des vormodernen Islam berufen. Die Meinungen gehen in der Frage weit auseinander, was angesichts der unterschiedlichen Darstellungen und Deutungen der islamischen Geschichte wenig überrascht. Während einerseits durchaus eine generelle Prädisposition des vormodernen Islam für den Salafismus der Gegenwart gesehen wird – sei es durch eine „theologische Blockade“, die seit dem Triumph der Orthodoxie im 9. Jahrhundert eine klare Trennung von Staat und Religion verhindere,2 sei es speziell durch traditionalistische Konzepte in Recht und Theologie des frühen und mittelalterlichen Islam3 – werden andererseits exogene Faktoren wie der Kolonialismus und im ← 15 | 16 → weitesten Sinne die voranschreitende Globalisierung als ursächlich für radikalislamische Strömungen angeführt, die, so die Überzeugung, in Wirklichkeit einen Bruch mit der islamischen Tradition darstelle.4

Zunächst ist festzuhalten, dass es im vormodernen Islam keine Bewegung oder Strömung gegeben hat, die als salafiyya bezeichnet wurde oder sich selbst in dieser Weise bezeichnete.5 Vielmehr taucht der Begriff erstmals Anfang des 20. Jahrhunderts auf, als muslimische Intellektuelle wie Ǧamāl ad-Dīn al- Afġānī, Muammad ʿAbduh oder Rašīd Riā versuchten, den Islam angesichts der kolonialistischen Herausfordungen zu reformieren und sich dabei u.a. auf die frommen Altvorderen (as-salaf a-āli) beriefen.6 Jene Altvorderen repräsentieren aber weder eine Bewegung noch ein Konzept, sondern gelten lediglich als herausragende, fromme Gläubige des frühen Islam, die dem Propheten zeitlich und oftmals auch räumlich nahe standen und somit das Ideal der islamischen Umma praktizierten. Die von den Reformisten verbreitete Vorstellung, die islamische Welt müsse zur Überwindung der Krise zu ihren ursprünglichen, authentischen Wurzeln zurückfinden, wurde im Laufe des 20./21. Jahrhunderts von verschiedenen Bewegungen in unterschiedlicher Weise aufgegriffen, sodass der Begriff des „Salafismus“ heute in Wirklichkeit für ein weites Spektrum an Konzepten steht, die Gemeinsamkeiten, aber auch deutliche Unterschiede aufweisen. Klare Abgrenzungen zu verwandten, auf den Islam bezogenen Begriffen wie Islamismus, Ǧihadismus, Fundamentalismus, Radikalismus oder Extremismus fallen schwer.7 Um eventuelle historische Vorläufer des Salafismus ausmachen zu können, müssen – in einer provisorischen Übersicht – zunächst einmal die wesentlichen Elemente der modernen salafistischen Gruppierungen und ihrer Konzepte herausgestellt werden, wobei Selbst- als auch Fremdbeschreibungen zu berücksichtigen sind. ← 16 | 17 →

II. Charakteristika des modernen Salafismus

Das in Medien und Wissenschaft erzeugte Bild des Salafismus ist äußerst vielfältig und teilweise sogar widersprüchlich. Darüber hinaus gibt es Gruppierungen, die sich selbst als „salafistisch“ bezeichnen, sich zugleich aber gegenseitig ausdrücklich als „ungläubig“ disqualifizieren.8 Ein wichtiger gemeinsamer Anknüpfungspunkt ist die „Tradition“, die, so die allgemeine Überzeugung, von den frommen Altvorderen beachtet und gelebt wurde. In Bezug auf Ziele, Hermeneutik, Strategien, Organisationsformen und gesellschaftliche Verortung lassen sich aber erhebliche Unterschiede feststellen, die nicht nur auf die längere Entwicklungsgeschichte seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, sondern auch auf die Verschiedenartigkeit regionaler Kontexte zurückzuführen sind, in denen salafistische Bewegungen entstanden. Begriffe wie Neo-Salafiyya, neo-traditionalistischer Salafismus, modernistischer Salafismus, konservativer Salafismus, politischer Salafismus, globaler Salafismus oder militanter Salafismus machen die unterschiedlichen Akzente deutlich.9 Gelegentlich wird auch zwischen drei Hauptformen des Salafismus, dem literalistischen, reformistischen und ǧihadistischen Salafismus, unterschieden.10 Während die erstere, quietistische Form des Salafismus eine strikt puristische Lebensweise auf der Grundlage der religiösen Texte anstrebt, zielt die zweite, ebenfalls nicht militante Form auf eine Reform des Islam, wobei durch den Rückgriff auf das Vorbild der Altvorderen die Verkrustungen späterer Entwicklungen im Islam überwunden werden sollen. Die dritte Form, auch als Ǧihadismus bezeichnet, definiert den ǧihād als individuelle Pflicht und stellt Gewalt als Mittel zur Etablierung eines islamischen Staates in den Vordergrund. Die Heterogenität des Phänomens bringt es mit sich, dass die einzelnen salafistischen Gruppierungen zumeist nur einzelne jener Kriterien aufweisen, die zur Beschreibung des modernen Salafismus insgesamt notwendig erscheinen.

Details

Seiten
268
Erscheinungsjahr
2014
ISBN (PDF)
9783653031782
ISBN (MOBI)
9783653991949
ISBN (ePUB)
9783653991956
ISBN (Hardcover)
9783631644584
DOI
10.3726/978-3-653-03178-2
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Juni)
Schlagworte
Neo-Salafiyya Islam Zelotismus dschihadistischer Märtyrerkult
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 268 S., 2 s/w Abb.

Biographische Angaben

Rauf Ceylan (Band-Herausgeber:in) Benjamin Jokisch (Band-Herausgeber:in)

Rauf Ceylan ist als Professor für Religionswissenschaft, insbesondere Religionssoziologie, am Institut für Islamische Theologie der Universität Osnarück und secundo loco am Lehrstuhl für die Religion des Islam: Islamische Religionspädagogik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster am Centrum für Religiöse Studien tätig. Benjamin Jokisch ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Iranistik und dem Sonderforschungsbereich 980 «Episteme in Bewegung» der Freien Universität Berlin.

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Titel: Salafismus in Deutschland