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Selbstverortungen

Migration und Identität in der zeitgenössischen deutsch- und englischsprachigen Gegenwartsliteratur

von James Orao (Autor:in)
©2015 Dissertation 301 Seiten

Zusammenfassung

Die gegenwärtige Migrationsliteratur befindet sich im Allgemeinen am Schnittpunkt diverser Komplexitäten, die ihre Wahrnehmung erheblich beeinflussen. Die Konstruktion von und Auseinandersetzung mit Fremdem und Eigenem und insbesondere mit Identität stehen daher im Vordergrund dieser Texte. Den Formen, die diese Auseinandersetzung annehmen kann, wird hier anhand von gegenwärtiger Migrationsliteratur aus Deutschland und Kanada vergleichend nachgegangen. Im Zentrum steht dabei die Analyse der Figurationsmöglichkeiten von Identität und Migrationserfahrungen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Danksagung
  • Widmung
  • 1. Einführung und Problemstellung
  • 1.1. Zum Gegenstand dieser Arbeit: Deutsch- und englischsprachige Migrationsliteratur
  • 1.2. Zur Fragestellung
  • 1.2.1. Zu Fragestellungen der Identität und Identitätsarbeit
  • 1.2.2. Zur Ästhetik der Migration
  • 1.3. Die Gliederung der Dissertation
  • 2. Hintergrund, Diskurse und Ästhetische Konfigurationen der Deutsch- und Englischsprachigen Migrationsliteratur
  • 2.1. Positionen, diskursive und ästhetische Konfigurationen der Migrationsliteratur in Deutschland
  • 2.1.1. „From Pappkoffer to pluralism“: Die Entwicklung der Migrationsliteratur in Deutschland
  • 2.1.2. „Das Schweigen über die andere Ästhetik“: Zur ästhetischen und diskursiven Konfiguration der Migrationsliteratur in Deutschland
  • 2.2. Der Diskurs über die englischsprachige „multikulturelle Literatur“ in Kanada
  • 2.2.1. Die englischsprachige „multikulturelle Literatur“ und die kanadische Literatur
  • 2.2.2. „Multiculturalism“ and its discontents: Kanadischer Multikulturalismus und die „multikulturelle Literatur“
  • 3. Migratory Landscapes: Migrationserfahrungen und Raumfigurationen in der Migrationsliteratur
  • 3.1. Die Figurationen der Migrationserfahrungen
  • 3.1.1. „Von der großen Reise um die kleine Welt“: Migrationserfahrungen in Ilija Trojanows Roman Die Welt ist groß und Rettung lauert überall
  • 3.1.2. Journeys to the past and the “possibility of redemption” – Neil Bissoondaths The Worlds Within Her
  • 3.1.3. Fazit: Migration, Rückkehr und die Suche nach der (persönlichen) Geschichte
  • 3.2. Die Metaphorik der Migration: Figurationen des Raums in der Migrationsliteratur
  • 3.2.1. Zentrum vs. Peripherie: Postkoloniale Raumfigurationen in der Migrationsliteratur
  • 3.2.2. Der Pilger und der Flaneur: Neue Figurationen von historischen Instanzen der Raumwahrnehmung
  • 3.2.3. Zusammenfassung: Die metaphorischen Figurationen der Migration in der zeitgenössischen Migrationsliteratur
  • 3.3. „Big City Blues“: Figurationen der Großstadt in der Migrationsliteratur
  • 3.3.1. Die unsichtbare Großstadt
  • 3.3.2. Transitstationen und transitorische Räume
  • 4. Die Figuration der Identität und Identitätsarbeit in der Migrationsliteratur
  • 4.1. Identität: Über einen dynamischen Begriff
  • 4.2. Erzählte Identität: Die Identitätsbildung in der Migrationsliteratur als erzählende Konstruktion des Selbst
  • 4.3. Migration, Identität und Fremdheit: Das Märchenhafte in Rafik Schamis Die Sehnsucht der Schwalbe
  • 4.4. Die Figuration der Vergangenheit in Bissoondaths, Espinets, Stanišićs und Trojanows Werken
  • 4.4.1. Das Katalogisieren der Vergangenheit als Identitätsarbeit in Saša Stanišićs Wie der Soldat das Grammofon repariert
  • 4.4.2. „Documenting the evidence of our passage“: Vergangenheitsaufarbeitung als Identitätsarbeit in Ramabai Espinets The Swinging Bridge
  • 4.4.3. Zusammenfassung: Das Katalogisieren und Kartografieren der Vergangenheit als persönliche Identitätsarbeit
  • 4.5. „Geschäftstarnungen“: Identitätsspiele in der Migrationsliteratur
  • 4.5.1. Das Erzählte: Die Geschichte und die Charakterisierung als ein Identitätsspiel
  • 4.5.2. Das Erzählen: Das narrative Verfahren des Identitätsspiels
  • 5. Selbstverortungen – Migration und Identitätsspiele in der Zeitgenössischen Gegenwartsliteratur
  • 6. Bibliografie
  • 6.1. Primärliteratur
  • 6.2. Sekundärliteratur
  • 6.3. Zeitungsartikel
  • 6.4. Internetquellen

← 8 | 9 → Danksagung

Die hier vorliegende Dissertation wäre nicht zustande gekommen, hätte ich nicht die Unterstützung vieler Menschen aus diversen Kreisen erfahren.

Zu Beginn möchte ich mich bei meiner ersten Betreuerin, Prof. Dr. Martina Wagner-Egelhaaf (Neuere Deutsche Literatur, WWU), für ihren Glauben an das Projekt und für die andauernde Unterstützung bedanken. Ebenso danke ich für ihr zeitnahes, kritisches und konstruktives Feedback und ihre „open-door-policy“ bei Sprechstunden, die ich unzählige Male bei der Fertigstellung dieser Arbeit in Anspruch nahm.

Ich möchte mich auch bei Prof. Dr. Mark Stein (Englisches Seminar, WWU) für seine konstruktive Kritik, den vielseitigen fachlichen Rat und insbesondere für sein offenes Ohr und seine Diskussionsbereitschaft bedanken. Viele Ideen konnte ich so verwirklichen und in ihrer Konzeption kritischer entwickeln.

Meiner dritten Betreuerin, Prof. Dr. Doerte Bischoff (Institut für Germanistik II, Universität Hamburg), danke ich dafür, dass sie sich bereit erklärt hat auch zu einem späteren Zeitpunkt meiner Arbeitsphase beratend einzugreifen und somit, durch ihre schnellen und hilfreichen Rückmeldungen, zur erfolgreichen Beendigung meiner Dissertation beizutragen.

An dieser Stelle bedanke ich mich auch bei der Graduate School Practices of Literature für den konzeptionellen und fachlichen Rahmen, der mir ein beständiges Arbeiten unter qualitativ hochwertiger und engmaschiger Betreuung ermöglichte und so zum erfolgreichen Abschluss meiner Arbeit führte.

Dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) danke ich für das Stipendium, das mir meine Promotion an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster ermöglichte.

Dem College of Humanities and Social Sciences und dem Department of Linguistics and Languages der University of Nairobi gilt ebenfalls mein Dank, für die Beurlaubung (Study Leave) zum Zweck dieser Promotion.

Ein ganz besonderer Dank gilt Dr. Marie Elisabeth-Müller (Berlin), die die Phase von der Idee zur Konzeption der Arbeit kritisch begleitet hat und auch in den darauf folgenden Jahren immer wieder, auch kurzfristig, lange Kapitel gelesen und durch ihre Hinweise und Tipps während der Entstehung der Arbeit neue Denkweisen und Perspektiven angeregt hat.

← 9 | 10 → Barbara Sievers (Neu Delhi) möchte ich insbesondere für ihre Geduld, mit der sie die vielen Seiten der Arbeit gelesen hat, und für ihr sorgfältiges und schnelles Korrekturlesen danken.

Außerordentlicher Dank gilt Ulrike Richter für den geduldigen Beistand, für die Aufmunterung und andauernde Unterstützung während der ganzen Arbeitszeit. Für den Glauben an mich, schon zu Beginn der Arbeit, bedanke ich mich herzlich bei ihr. Ein ganz besonderer Dank geht auch an Familie Richter, meine zweite Familie in Deutschland, und nicht zuletzt an meine Familie in Kenia, die meine Abwesenheit so lange erdulden musste.

← 10 | 11 → Widmung

G. J. O.

L. R. O.

M. H. O. ← 11 | 12 →

← 12 | 13 → 1. Einführung und Problemstellung

1.1. Zum Gegenstand dieser Arbeit: Deutsch- und englischsprachige Migrationsliteratur

Die Emigrantenaugen [blicken] die Welt anders an, weil sie ja voll von Wunden, Brüchigkeit und Zwiespältigkeit sind. Die Emigrantenaugen sehen die Welt gespalten, und so wollen sie es auch ausdrücken.1

Eine Gegenüberstellung der deutsch- und englischsprachigen Migrationsliteratur – aus Deutschland und (dem englischsprachigen Teil von) Kanada – mag auf den ersten Blick nicht viel in Aussicht stellen. Die disparaten geografischen Lagen beider Länder, die unterschiedlichen Geschichten und die wesentlichen Unterschiede in den Migrationsdebatten und den politisch-rechtlichen Grundlagen der Migrationspolitik scheinen sich zunächst nicht für einen Vergleich anzubieten, stellen jedoch aufschlussreiche Anknüpfungspunkte bereit.2 Noch wichtiger ← 13 | 14 → ist, dass die zeitgenössische deutsch- und englischsprachige Migrationsliteratur aus Deutschland und Kanada der Dynamik der kulturellen Identifikationen und der Machtverhältnisse der jeweiligen Bezugsländer unterliegt. In dieser Konstellation wird eine ethnische und rassische Heterogenität verleugnet und die Literaturen werden demzufolge oft jenseits der etablierten Literatur positioniert.

Aufgrund der nationalen und soziokulturellen Politik und ebensolcher Besonderheiten weist diese Auflistung der gemeinsamen Nenner jedoch auch Abweichungen auf: Die unterschiedlichen Selbstverständlichkeiten der Nation und die verschiedenen politisch-rechtlichen Grundlagen bezüglich der Immigration in beiden Ländern sind in diesem Zusammenhang nennenswert (und werden in Kapitel 2 über den Stellenwert der deutsch- und englischsprachigen Migrationsliteratur behandelt). Doch es ist nicht nur der Migrationshintergrund, der diese Texte verbindet.

In einem Essay zeichnet Padolsky die Position kanadischer Migrationsliteratur am Schnittpunkt diverser Komplexitäten, die die Biografien – auch wenn er sie nicht zu bagatellisieren vermag – doch als minderwertigen Ansatzpunkt zur Wahrnehmung der Migrationsliteratur betrachtet. Für ihn erweisen sich die erlebten Marginalisierungen im gesellschaftlichen und politischen Diskurs (aufgrund genderspezifischer Aspekte, sozialer Gruppierung oder der Hautfarbe) in der Abhandlung des Lebens in der Migration als noch ergiebiger und verbünden die Migranten, ohne dem Migrantenstatus Aufmerksamkeit zu verleihen; einfache kulturelle, soziale und gesellschaftliche Politik konstruierten in dieser Betrachtungsweise keine Fremde.3 Er geht davon aus, dass die inhärente Heterogenität der kanadischen Gesellschaft nur eine Multiplizität von diskursiven Schnittstellen zulässt – “[…] bilingualism, multiculturalism, and the multiplicity of ethnicity and race as group categories […]”.4 Der biografische Hintergrund des Migranten wird in dieser diskursiven Multiplizität unterspielt. An diesem Schnittpunkt der Multiplizität der Sprache und Kultur positioniert ebenfalls Rösch die deutschsprachige Migrationsliteratur: Für sie gelten die sprachliche Pluralität und die kulturelle Vielfalt der Migrationsliteratur, und weniger der Migrationshintergrund, als die prägenden Merkmale.5 An diesen zwei exemplarischen ← 14 | 15 → literaturwissenschaftlichen Diskursausrichtungen zeichnet sich für den Stellenwert der Migrationsliteratur in beiden Ländern eine Entwicklungstendenz ab, die die Texte dieser Literatur allmählich aus der Randpositionierung loslöst und sie in anderen diskursiven Richtungen zu repositionieren versucht. Dieser repositionierende Trend von Texten der sogenannten „dritten Generation“ der Migranten in beiden Ländern ist als eine Weiterentwicklung und Vollendung der früheren „Literatur der Betroffenheit“ zu betrachten. Für die Rezeption der zeitgenössischen deutsch- und englischsprachigen Migrationsliteratur wird heute in beiden Ländern für eine „literarische Pluralität“ – für eine „Topographie der Stimmen“,6 „polyvocality“7 und „polybridity“ – und für eine multi- und interkulturelle Ästhetik plädiert, um nicht nur die bereits besprochenen Schnittpunkte wahrzunehmen sondern auch um der in den Texten erarbeiteten Pluralität gerecht zu werden.

Die Frage nach der Vergleichbarkeit der deutsch- und englischsprachigen Migrationsliteratur baut hier in erster Linie auf den von Petra Fachinger8 gestellten Fragen zur Vergleichbarkeit der deutschen, amerikanischen und englischsprachig-kanadischen Migrationsliteratur auf. In ihrem Essay, der über die gemeinsame Thematik der Migrationsliteratur – die thematischen Parallelen zwischen den Migrationsliteraturen am Beispiel der italoamerikanischen, italokanadischen und deutsch-italienischen Texte der Migrationsliteratur9 – hinausgeht, ← 15 | 16 → stellt Fachinger die Frage, ob ein als „internationale Ästhetik der Migration“ zu bezeichnendes Phänomen bestehe. Dieser, am Rand ihres Essays genannte, Forschungszugang zur weiteren Analyse der Migrationsliteratur nennt bereits die postkoloniale Textstrategie des re-writing oder writing back to als mögliche Textstrategie zur Annäherung an die Fragestellung zur internationalen Ästhetik der Migration.10 Nicht zuletzt stellt sie die Frage,

ob und wie sich von Frauen geschriebene Migrantenliteratur thematisch und ästhetisch von männlichen Autoren geschriebener Literatur unterscheidet, und ob es internationale Gemeinsamkeiten zwischen der weiblichen Migrantenliteratur gibt.11

Zu diesen Fragen wird hier die folgende Position vertreten: Alle Literaturen sind – über die epochalen, nationalen oder geografischen und sozialen Lagen hinweg – vergleichbar, solange die zugrunde liegenden Begebenheiten und Besonderheiten mit in den Vergleich einfließen.12 Für die deutsch- und englischsprachige Migrationsliteratur bestehen viele Anknüpfungspunkte zur Gegenüberstellung, wie Fachinger in der Problemstellung gezeigt hat. Als Literaturen am Gegenpol des etablierten Literaturbetriebs haben die Texte der Migrationsliteratur nicht nur den Migrationsstatus gemeinsam, sondern (und für die folgende Arbeit noch wichtiger) auch deren Randpositionierung im literaturwissenschaftlichen Diskurs und im allgemeinen Literaturbetrieb. Fachingers ← 16 | 17 → avancierte Problemstellung zur gemeinsamen Ästhetik der Migrationsliteratur findet bereits in Simone Höfers Werk über Interkulturelles Erzählverfahren13 in deutsch- und englischsprachigen Texten der Migrationsliteratur eine Aufarbeitung; basierend auf der „provozierende[n] latente[n] Zweisprachigkeit“14 der Migrationsliteratur zeigt sie diese Tendenzen anhand des interkulturellen Erzählverfahrens exemplarisch auf.

Fachingers und Höfers Arbeiten weisen auf eine neue Betrachtungsweise der Migrationsliteratur hin und erzielen die Eröffnung einer weiteren Perspektive zur Wahrnehmung und Rezeption der Migrationsliteratur – jenseits der auf die Biografie zentrierten Betrachtungsweise des früheren literarischen Diskurses. In diesem, sich nun eröffnenden, Diskursfeld wird der „Sonderstatus“15 der Migrationsliteratur abgebaut; sie sollte nicht mehr als „Sonderliteratur“ oder als „Sondergebiet“ innerhalb der Nationalliteraturen betrachtet werden, sondern sowohl als ausgereifte Literatur, die sich für internationale Studien anbietet, als auch eine Literatur, die sich zu einer kritischen und ästhetischen Debatte bereitstellt.

Diese Arbeit sieht sich in diesem Spannungsfeld angesiedelt. Sie ist als ein Versuch, die Bilanz aus der zeitgenössischen deutschsprachigen und englisch-kanadischen Migrationsliteratur zu ziehen, entstanden. Anhand von Diskussionen über die Figuration der Themenkonstellationen Migration, Migrationserfahrung und Identität fragt die vorliegende Studie nach der Vergleichbarkeit der zeitgenössischen deutsch- und englischsprachigen Migrationsliteratur und erarbeitet eine gemeinsame Ästhetik der Migrationsliteratur.

1.2. Zur Fragestellung

Auch wenn die Bezeichnung „Migrationsliteratur“ stets auf die Homogenität dieser Literatur hinweist und Globalisierung, Allgemeingültigkeit und Gemeinsamkeit der Merkmale suggeriert, so ist das Phänomen der Migration weder homogen noch unproblematisch. In Wirklichkeit ist es ein sehr differenziertes ← 17 | 18 → Phänomen, und gerade aufgrund des politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Wandels und der daraus resultierenden Migrationsbewegungen umfasst der Begriff ein weites Feld. In dieser Arbeit wird der Begriff „Migrationsliteratur“ nicht nur in Bezug auf die zeitgenössische deutschsprachige Literatur verwendet, um die Literatur deutscher Autoren und Autorinnen mit Migrationshintergrund zu bezeichnen, sondern auch zur Bezeichnung der im englischsprachigen kanadischen Raum erscheinenden Literatur von Autoren mit Migrationshintergrund gebraucht. In diesem Zusammenhang dient der Begriff „Migrationsliteratur“ einzig dem Zweck, die gemeinte Literatur im Rahmen des allgemeinen Literaturbetriebs und literarischen Diskurses zu verorten; des Weiteren dient der Begriff der Eingrenzung des in dieser Arbeit zu erarbeitenden Korpus. Der in dieser Arbeit gebrauchte Begriff der „Migrationsliteratur“ ist ein „Behelfsbegriff“16 und versteht Migrationsliteratur als

eine Literatur der Vielstimmigkeit und Schwellenerfahrung; in der Sprache, in der Lockerung der Raum- und Zeitgebundenheit, in den Zuschreibungen von Identität und zwischen den Topoi des kulturellen common sense.17

Das Anliegen dieser Arbeit ist, statt thematisch analysierend vorzugehen, die Erzählstrategien der Migrationsliteratur zu erarbeiten. So wird mit den Themenblöcken Migration und Identität nicht lediglich das Vorkommen der Themen analysiert, sondern ihre poetisch-ästhetische Inszenierung: So werden zur Figuration der Migration, Migrations- und Fremdheitserfahrung sowohl die Darstellung des Lebens des Migranten bzw. der Migrantin in der Großstadt und in dieser Konstellation auch die Konstruktion der Großstadt – deren dargestellte Unsichtbarkeit ebenfalls zur Charakterisierung des Migranten als unsichtbare Figur beiträgt – als auch die Konstruktion neuer Figuren der Migration aus vergangenen Typologien des Flaneurs und des Pilgers aufgegriffen. Es geht im Folgenden also darum, nicht nur die „Poetik der Migration“ – als die ästhetisch- literarische Verarbeitung der Migration – in Texten der zeitgenössischen ← 18 | 19 → deutsch- und englischsprachigen Migrationsliteratur aufzuzeigen, sondern auch um die Darstellung des hier als „Ästhetik der Migration“ – als die erzählstrategische Verarbeitung der Migration – zu bezeichnenden Phänomens. Die leitende Frage – „Welchen literarischen Verfahren und Erzählstrategien unterliegen die Figurationen der Migration und Identität in Texten der zeitgenössischen deutsch- und englischsprachigen Migrationsliteratur?“ – befragt sowohl die Poetik als auch die Ästhetik der Migrationsliteratur und lässt in dieser Arbeit diverse theoretische Zugänge und Ansätze zu. Damit wird nicht zuletzt ein Beitrag zu Fachingers Frage der gemeinsamen Ästhetik geleistet.

Die für das Erreichen der Ziele dieser Arbeit ausgewählten Texte handeln in erster Linie von der Inszenierung des Reisens – als literarische Darstellung von Migration: Verstanden unterschiedlich in unterschiedlichen Gebrauchssituationen, fasst der Begriff „Migration“ für diese Arbeit die interterritoriale, internationale und interkulturelle Bewegung der Menschen zusammen. Die Texte stellen das Verlassen der vertrauten Umgebung, Reisen durch diverse soziale und kulturelle Systeme und ein Leben in einem anderen, neuen, fremden Kontext dar. Darüber hinaus geht es in den Texten um das Entwerfen, Entwickeln und die Abhandlung von räumlichen und symbolischen Topografien und Identitäten. Abgehandelt werden die Erfahrungen der Migration und Konstruktionen der Identität vor dem Hintergrund der migratorischen Bewegung. Demzufolge schließen sich folgende Fragestellungen an die Leitfrage an: Wie wird die Wahrnehmung des Migranten bzw. der Migrantin figuriert? Wie wird seine/ihre Auseinandersetzung mit der Fremde konfiguriert? Wie wird die migrantische Figur in der (neuen) Gesellschaft positioniert? Wovon wird sie abgegrenzt?

Daraus ergeben sich Fragen nach der Rolle der Lebensgeschichte des Protagonisten/der Protagonistin, den Identitätsmustern und dem Zweck interkultureller Konstellationen, die in den Texten ins Spiel gebracht werden. Der Blick richtet sich dabei darauf, wie Identität und Migration durch die ausgewählten Texte festgeschrieben, gleichzeitig aber auch wieder umgeschrieben und abgehandelt und als solche infrage gestellt werden. Die Annahme ist, dass literarische Texte, aus ästhetischen und erzählstrategischen Gründen, Identität zunächst konstruieren, nur um sie im Verlauf des Erzählens wieder zu dekonstruieren.18

Um für das Korpus dieser Arbeit herangezogen werden zu können, müssen die Texte u.a. zwei wesentliche Kriterien erfüllen: Erstens muss der Text von einem/einer Schriftsteller/in mit Migrationshintergrund verfasst worden sein; ← 19 | 20 → zweitens soll in dem Text Migration motivisch und thematisch verarbeitet werden, entsprechend dem Verständnis von „[l]iteratures that involve migration, movements across space and time, involving multiple communities“.19 Nicht zu verwechseln sind hier der Migrationshintergrund (die Biografie) des Autors und Migration als Motiv im Text. Für diese Arbeit ist nur die Variante der literarischen Verarbeitung von Bedeutung. Der Migrationshintergrund des Autors ist nur insofern relevant, als er zur Textauswahl herangezogen wurde. Seine Rolle dient weiterhin nur der Klassifizierung der Texte innerhalb des allgemeinen literarischen Diskurses.

Die zur Analyse herangezogenen Texte beschreiben multiperspektivisch die zeitgenössischen Konzepte von Migration, Identität und Fremdheit. Die Gesamtheit der deutsch- und englischsprachigen Migrationsliteratur kann selbstredend nicht bearbeitet werden. Die ausgewählten deutschsprachigen Texte sind: Rafik Schamis Die Sehnsucht der Schwalbe (2008), Ilija Trojanows Die Welt ist groß und Rettung lauert überall (2007) und Der Weltensammler (2009), Terézia Moras Alle Tage (2006), Magdalena Felixas Die Fremde (2005) und Saša Stanišićs Wie der Soldat das Grammofon repariert (2008). Aus dem englischsprachigen Raum Kanadas sind M.G. Vassanjis No New Land (1997), The Book of Secrets (1997) und The Gunny Sack (1989), Neil Bissoondaths The Worlds Within Her (1999) und Ramabai Espinets The Swinging Bridge (2004) ausgewählt worden. Diese Auswahl stellt kein repräsentatives, sondern nur ein exemplarisches Korpus dar.

Die Überführung der individuellen Reisen der Protagonisten in die Re-Konfiguration der allgemeinen Migration steht im Mittelpunkt dieser Texte. Mithilfe der Darstellung der Reise wird die ganze Komplexität der (E-)Migration und Rückkehr, durch die Verwendung von etablierten fast formelhaften Erzählgenres (Schamis Figuration des märchenhaften Helden; Trojanows Bildungsroman; Moras Großstadtroman), erfassbar gemacht und zugleich eine neue Art der Auseinandersetzung der Figuren mit ihrer Welt evoziert: Migration knüpft an klassische Migrationstrends an, stellt aber neuartige Konstellationen zwischen den Akteuren her.

← 20 | 21 → Die Texte lassen ebenso keinen singulären theoretischen Zugang zu, sondern bieten sich einer Multiplizität von verschiedenen theoretischen literarischen Zugängen an. Insofern wird auch kein bestimmter theoretischer Ansatz in dieser Arbeit bevorzugt. Der in den Texten dargebotene grenzübergreifende und dynamische Umgang mit Genres und Erzählverfahren wird auch in der theoretischen Abhandlung reflektiert. Diese Vorgehensweise erlaubt eine umfassende Analyse des Migrationsphänomens und lässt eine Vielzahl von Theorien zu, von denen einige einander sogar antagonistisch gegenüberstehen. Doch zeigt sich eben darin die inhärente Dualität der dargestellten Migration und Identität – der erzählten Interkulturalität – in den Texten.

In den folgenden zwei Abschnitten wird zunächst den Fragestellungen zur Identität und Identitätsarbeit in den Texten und zur Figuration der migrationsliterarischen Ästhetik nachgegangen.

Details

Seiten
301
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653048346
ISBN (ePUB)
9783653978247
ISBN (MOBI)
9783653978230
ISBN (Hardcover)
9783631656099
DOI
10.3726/978-3-653-04834-6
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Oktober)
Schlagworte
Migrationserfahrung Identitätsbildung Multikulturalismus Vergangenheitsaufarbeitung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 301 S.

Biographische Angaben

James Orao (Autor:in)

James Orao studierte German Studies an der Kenyatta University (Kenia) und der University of Nairobi (Kenia) und promovierte am Germanistischen Institut der Universität Münster. Zurzeit ist er Lecturer for German Studies an der University of Naírobi (Kenia).

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