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Recht des Angeklagten auf Vertretung

Menschenrechtliche Standards und ihre Auswirkungen auf den deutschen Strafprozess

von Jennifer Pöschl (Autor:in)
©2015 Dissertation 466 Seiten

Zusammenfassung

Im Blickpunkt des Buches stehen das Recht des Angeklagten auf Vertretung, das der EGMR aus Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 lit. c EMRK ableitet – und die Frage, wie diese Judikatur in nationales Recht umzusetzen ist. Die Autorin analysiert den aktuellen «Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungsverhandlung […]». Außerdem untersucht sie die Auswirkungen der anstehenden Gesetzesänderung auf die erste Tatsacheninstanz sowie das Ordnungswidrigkeiten- und Jugendstrafverfahren.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhalt
  • Abkürzungsverzeichnis
  • 1. Kapitel: Einführung
  • § 1. Einordnung des Themas
  • § 2. Aufbau der Darstellung
  • 2. Kapitel: Recht auf Vertretung in der Rechtsprechung des EGMR
  • § 1. EGMR Poitrimol ./. Frankreich
  • I. Damalige französische Rechtslage und Sachverhalt
  • II. Urteil des EGMR
  • III. Zwischenergebnis
  • § 2. EGMR Lala ./. Niederlande und Pelladoah ./. Niederlande
  • I. Niederländische Rechtslage und Sachverhalte
  • II. Urteile des EGMR
  • III. Zwischenergebnis
  • § 3. EGMR (GK) Van Geyseghem ./. Belgien
  • I. Belgische Rechtslage und Sachverhalt
  • II. Urteil des EGMR
  • III. Zwischenergebnis
  • § 4. EGMR Van Pelt ./. Frankreich
  • § 5. EGMR Krombach ./. Frankreich
  • I. Sachverhalt
  • II. EuGH Rs. C-7/98 (Krombach ./. Bamberski)
  • III. Urteil des EGMR
  • IV. Zwischenergebnis
  • § 6. EGMR Stroek ./. Belgien und Goedhart ./. Belgien
  • § 7. EGMR Harizi ./. Frankreich
  • I. Sachverhalt
  • II. Urteil des EGMR
  • III. Zwischenergebnis
  • § 8. EGMR Kari-Pekka Pietiläinen ./. Finnland
  • I. Finnische Rechtslage und Sachverhalt
  • II. Urteil des EGMR
  • III. Zwischenergebnis
  • § 9. EGMR Neziraj ./. Deutschland
  • I. Deutsche Rechtslage und Sachverhalt
  • II. BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 27.12.2006
  • III. Urteil des EGMR
  • IV. Zwischenergebnis
  • § 10. Ergebnis
  • 3. Kapitel: Zulässigkeit und Voraussetzungen von Abwesenheitsverfahren
  • § 1. Recht auf Anwesenheit in der mündlichen Verhandlung, Art. 6 EMRK
  • I. Anerkennung des Rechts auf Anwesenheit
  • II. Bedeutung der Anwesenheit für ein faires Verfahren
  • III. Voraussetzungen eines Verzichts
  • 1. Formen des Verzichts und Schutzmaßnahmen
  • 2. Ausreichende Information über Ort und Zeit der Verhandlung
  • 3. Information über die Folgen der Säumnis
  • IV. Zusammenfassung
  • § 2. Vereinbarkeit von Abwesenheitsverfahren mit der EMRK
  • I. Anerkennung von Abwesenheitsverfahren
  • II. Voraussetzungen
  • III. Heilung rechtswidriger Abwesenheitsverfahrens
  • 1. Erneute Überprüfungsmöglichkeit („fresh determination“)
  • 2. Überprüfung in gleicher Instanz oder im Rechtsmittelverfahren
  • 3. Zusammensetzung des Gerichts
  • IV. Zusammenfassung
  • § 3. Abwesenheitsverfahren im europäischen und internationalen Recht
  • I. Europarat – MR-Resolution (75) 11 v. 21.5.1975
  • II. Recht der EU
  • 1. RB 2009/299/JI
  • a) Inhalt
  • b) (Un-) Vereinbarkeit mit der EMRK
  • 2. RiL-Vorschlag zur Stärkung des Rechts auf Anwesenheit
  • a) „Stockholmer Programm“
  • b) Inhalt
  • c) (Un-) Vereinbarkeit mit der EMRK
  • 3. Ergebnis
  • III. Internationales Recht
  • 1. Art. 14 Abs. 3 lit. d IPBPR
  • 2. IStGH
  • 3. IMT Nürnberg
  • 4. Ad-hoc Tribunale für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda
  • 5. Hybridtribunale
  • IV. Ergebnis
  • 4. Kapitel: Auslegung von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK als Recht auf Vertretung
  • § 1. Kritik an weiter Auslegung des EGMR („representation“)
  • § 2. Allgemeine Auslegungsgrundsätze
  • § 3. Telos
  • I. Gewährung einer effektiven Verteidigung
  • II. Stellung und Funktion des Strafverteidigers
  • 1. Rechtsbeistand als Instrument der Verwirklichung einer effektiven Verteidigung
  • 2. Verteidigung als Angelegenheit zwischen Angeklagtem und Rechtsbeistand
  • 3. Herstellung von Waffengleichheit in der mündlichen Hauptverhandlung
  • 4. Angeklagter und Verteidiger als Einheit – Wahrnehmung von Rechten durch den Verteidiger
  • III. Vertretung in der mündlichen Hauptverhandlung als Mittel der effektiven Verteidigung
  • IV. Zwischenergebnis
  • § 4. Wortlaut
  • § 5. Systematik
  • I. Verhältnis des Rechts auf Selbstverteidigung und Verteidigung durch einen Strafverteidiger
  • II. Verhältnis der Verteidigungsgarantie zur Anwesenheit des Angeklagten
  • III. Zwischenergebnis
  • § 6. Vergleich mit anderen internationalen Konventionen und Verträgen
  • I. Art. 14 Abs. 3 lit. d IPBPR
  • II. Art. 67 Abs. 1 lit. d IStGH-Statut
  • III. Art. 47, 48 EUC
  • IV. Art. 36 Abs. 1 lit. c WÜK
  • § 7. Zusammenfassung
  • 5. Kapitel: Ermittlung der Reichweite der Rechtsprechung des EGMR zum Recht auf Vertretung
  • § 1. Prüfungsmaßstab des EGMR
  • I. Gesamtbetrachtung von Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 lit. c EMRK
  • II. Bedeutung des fairen Verfahrens
  • § 2. Prüfung des Eingriffs in Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK durch Abwägung
  • I. Kritik an Abwägungsvorgang bei Justizgrundrechten
  • II. Dreistufige Prüfung eines Eingriffs als ständige Rechtsprechung
  • III. Abwägung als Mittel der Bestimmung der Gesamtfairness
  • § 3. Abwägungsvorgang in der Rechtsprechung des EGMR
  • I. Maßgebliche Beeinträchtigung des Rechts auf Verteidigung
  • 1. Eingriff in das Recht auf Selbstverteidigung, Art. 6 Abs. 3 lit. c Alt. 1 EMRK
  • a) Inhalt des Rechts auf Selbstverteidigung
  • b) Verzicht
  • c) Freiwilligkeit des Verzichts bei staatlichem Druck?
  • aa) Drohende Inhaftierung
  • bb) Kosten und Mühen der Einreise zur Hauptverhandlung nach Ausweisung
  • d) Zwischenergebnis
  • 2. Ausschluss des Verteidigers von der Beteiligung an der Verhandlung
  • II. Abwägungsvorgang
  • 1. Überwiegen des Anwesenheitsgebots bei unbedingter Erforderlichkeit der Anwesenheit („strictly necessary“)
  • 2. Keine absolute Geltung des Rechts auf Verteidigung („not absolute“)
  • III. Zwischenergebnis
  • § 4. Recht auf Vertretung als Recht auf Abwesenheit?
  • I. Recht des Angeklagten auf ein Abwesenheitsverfahren
  • 1. „capital importance“-Formel des EGMR als Indiz der Anerkennung von Anwesenheitspflichten
  • a) Nemo-tenetur-Prinzip
  • b) Unschuldsvermutung, Art. 6 Abs. 2 EMRK
  • 2. Weitere Indizien
  • II. „Recht“ des Staates auf Abwesenheitsverfahren
  • 1. Vereinbarkeit von Pflichtverteidigung mit Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK
  • 2. Kostentragungslast hinsichtlich der Pflichtverteidigergebühren
  • 3. Wahrung des Rechts auf Anwesenheit
  • III. Ergebnis
  • § 5. Verhältnis des Rechts auf Vertretung zur Herstellung der Anwesenheit es Angeklagten „auf andere Weise“
  • I. Meinungsstand in der Literatur
  • II. Nachrangigkeit der Anwesenheit in Fällen „strictly necessary“
  • III. Abschließender Katalog der „capital-importance“-Anwesenheitsformel
  • IV. Relatives Recht auf Vertretung
  • § 6. Formelle Anforderungen an das Recht auf Vertretung
  • § 7. Heilung der Verletzung des Rechts auf Verteidigung in Abwesenheit
  • I. Notwendigkeit einer erneuten Überprüfungsmöglichkeit
  • II. Gewährung des Rechts auf Vertretung im neuen Verfahren
  • III. Zwischenergebnis
  • § 8. Zusammenfassung
  • 6. Kapitel: Weitere Fallgruppen des Rechts auf Verteidigung in Abwesenheit
  • § 1. Recht auf Beiordnung eines unentgeltlichen (Wahl-) Verteidigers
  • I. Voraussetzungen von Art. 6 Abs. 3 lit. c Alt. 3 EMRK
  • 1. Systematisches Verhältnis zur Selbstverteidigungsgarantie
  • 2. Mittellosigkeit
  • 3. Erforderlichkeit der Beiordnung im Interesse der Rechtspflege
  • II. Eingeschränktes Recht auf Beiordnung eines Verteidigers der eigenen Wahl
  • III. Zwischenergebnis
  • § 2. Verzicht auf die Verteidigung insgesamt
  • § 3. Nichterscheinen des offiziell als Vertreter bestellten (Pflicht-) Verteidigers in der mündlichen Verhandlung
  • § 4. Ergebnis
  • 7. Kapitel: Bedeutung der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR für die deutsche Rechtsordnung
  • § 1. Rang der EMRK in der deutschen Rechtsordnung
  • § 2. Wirkung der Urteile des EGMR
  • I. Verurteilung Deutschlands
  • 1. Befolgungspflicht im konkreten Fall
  • 2. Wiederaufnahme des Verfahrens (§ 359 Nr. 6 StPO) und ausgewählte Probleme am Beispiel „Neziraj“
  • II. Wirkung von Urteilen (gegen andere Staaten) über den konkreten Fall hinaus
  • 1. Beschränkung der Rechtskraft auf den konkreten Streitgegenstand
  • 2. „Parallelfälle“ zu EGMR Neziraj ./. Deutschland
  • 3. Urteile gegen andere Staaten
  • 4. Wiederaufnahmerecht, § 359 Nr. 6 StPO?
  • III. Zusammenfassung
  • § 3. Umsetzung in der nationalen Rechtsprechung und Gesetzgebung
  • I. Vorgaben des BVerfG („Görgülü“)
  • 1. „Berücksichtigungspflicht“ der Gerichte
  • 2. Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung
  • a) EMRK und EGMR-Urteile als Auslegungshilfe für das Grundgesetz
  • b) EMRK und EGMR-Urteile als Auslegungshilfe für das einfache Recht
  • 3. Souveränitätsvorbehalt des BVerfG als Grenze der völkerrechtsfreundlichen Auslegung
  • a) Bedeutung für die nationalen Gerichte
  • b) Bedeutung für den Gesetzgeber
  • 4. Zwischenergebnis
  • II. Konkrete Normenkontrolle zum BVerfG
  • III. Entgegenstehende Rechtskraft gemäß § 31 BVerfGG?
  • § 4. Zusammenfassung
  • 8. Kapitel: Auswirkungen der Rechtsprechung des EGMR zum Recht auf Vertretung auf die deutsche StPO
  • § 1. Verwerfung der Berufung des unentschuldigt ausgebliebenen Angeklagten, § 329 Abs. 1 S. 1 StPO
  • I. § 329 Abs. 1 S. 1 StPO de lege lata
  • 1. Einordnung in den Regelungskontext
  • 2. Voraussetzungen
  • a) Ordnungsgemäße Ladung
  • b) Ausbleiben des Angeklagten bei Beginn einer Hauptverhandlung
  • aa) Nichterscheinen des Angeklagten
  • bb) Bei Beginn einer Hauptverhandlung
  • c) Keine genügende Entschuldigung
  • aa) Allgemeine Anforderungen
  • bb) Einzelfälle anhand von Beispielen aus der EGMR-Rechtsprechung
  • (1) Krankheit
  • (2) Drohende Inhaftierung
  • (3) Ausweisung und Abschiebung
  • (4) Kosten und Mühen der Anreise zur Hauptverhandlung
  • cc) Zwischenergebnis
  • d) Kein Fall zulässiger Vertretung
  • aa) Zugelassener Personenkreis
  • bb) Anerkannte Fälle zulässiger Vertretung
  • cc) Besondere schriftliche Vertretungsvollmacht und Vertretungsbereitschaft
  • e) Zwischenergebnis
  • 3. Vorführung und Verhaftung als Mittel der Herstellung der Anwesenheit „auf andere Weise“
  • a) Abgrenzung der Zwangsmittel
  • b) Mittel zur Herstellung der Anwesenheit „auf andere Weise“
  • c) Ergebnis
  • 4. Wiedereinsetzung und Revision als Heilung des Konventionsverstoßes
  • a) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, § 329 Abs. 3 StPO
  • b) Revision, § 333 StPO
  • 5. Ergebnis
  • II. Versuch einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung
  • 1. Entschuldigungslösung
  • a) Drohende Inhaftierung als Entschuldigungsgrund
  • b) Irrtum über generelles Recht auf Vertretung / Abwesenheit als Entschuldigungsgrund
  • c) Richterliche Rechtsfortbildung
  • 2. Erweiternde Auslegung von „in Fällen, in denen dies zulässig ist“
  • a) Wortlaut
  • b) Systematik
  • aa) Meinungsstand, insb. BVerfG, Beschl. v. 27.12.2006
  • bb) Enumeratio ergo limitatio?
  • (1) § 329 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 StPO
  • (2) Grundsatz der Anwesenheitspflicht, §§ 230 Abs. 1, 285 Abs. 1 S. 1, 231 Abs. 1 S. 1 StPO
  • (3) Recht auf Vertretung als Ausnahme, § 234 StPO
  • (4) § 411 Abs. 2, 387 Abs. 1, 415 Abs. 1, 350 Abs. 2, 338 Nr. 5 StPO
  • (5) Zwischenergebnis
  • cc) Mündlichkeit und Unmittelbarkeit
  • dd) Recht auf Gehör, Art. 103 Abs. 1 GG
  • (1) Umfang
  • (2) Anwesenheit als optimale Ausformung
  • (3) Anwesenheitspflicht als Verfassungsgrundsatz?
  • (4) Völkerrechtsfreundliche Auslegung von Art. 103 Abs. 1 GG
  • (5) Zwischenergebnis
  • ee) Grundsatz der Wahrheitserforschung
  • (1) Erforschung der materiellen Wahrheit als Ziel des Strafverfahrens
  • (2) Zeitweise Entfernung des Angeklagten zur Erforschung der Wahrheit, § 247 StPO
  • (3) Inkaufnahme eines unrichtigen Urteils gemäß § 329 Abs. 1 S. 1 StPO
  • (4) Nemo-tenetur-Prinzip als Einschränkung
  • (a) Selbstbelastung durch persönliche Anwesenheit?
  • (b) (Teilweises) Schweigen des Angeklagten zum Tatvorwurf
  • (c) Körpersprache des schweigenden Angeklagten
  • (d) Persönlicher Eindruck und Körperbeschaffenheit des Angeklagten
  • (e) Täteridentifizierung in der Hauptverhandlung
  • (f) Erwartung von zuverlässigeren Angaben von Zeugen/Mitangeklagten
  • (g) Erwartung einer Selbstbelastung
  • (h) Zwischenergebnis
  • (5) Unschuldsvermutung als Einschränkung
  • ff) Stellung des Strafverteidigers im deutschen Strafprozess
  • gg) Zwischenergebnis
  • c) Historie
  • d) Telos
  • e) Erfordernis einer schriftlichen Vertretungsvollmacht
  • f) Fehlen der Belehrung über das Recht auf Vertretung / Verhandlung in Abwesenheit, § 329 Abs. 1 S. 2 StPO
  • g) Zusammenfassung
  • 3. Zwangsweise Herstellung der Anwesenheit des Angeklagten, § 329 Abs. 4 StPO
  • a) Wortlaut
  • b) Systematik
  • c) Historie
  • d) Telos
  • e) Abwesenheitsverhandlung als Gebot des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, Art. 5 EMRK
  • 4. Ergebnis
  • III. Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Rechts auf Vertretung durch einen Verteidiger in der Berufungshauptverhandlung
  • 1. Überblick
  • 2. Menschenrechtliche Bewertung der Regelungen im Einzelnen
  • a) Besondere schriftliche Vertretungsvollmacht
  • aa) Problemaufriss aus der Perspektive der EMRK
  • bb) Voraussetzungen und Zweck der Vertretungsvollmacht
  • cc) Schriftform als Schutz des Anwesenheits- und Selbstverteidigungsrechts, Art. 6 Abs. 3 lit. c Alt. 1 EMRK
  • dd) Überprüfung der Notwendigkeit des Schriftformerfordernisses als Garant für die Effektivität der Verteidigung
  • (1) Erneute Erteilung der Vollmacht bei Bestellung des Wahl- zum Pflichtverteidiger
  • (2) Wahl(pflicht)verteidigung und Zwangsverteidigung
  • (3) Zwischenergebnis
  • ee) Lösungsvorschläge
  • (1) Anwendung von § 234a StPO
  • (2) Sekundäre Nachweispflicht
  • ff) Ergebnis
  • b) Voraussetzungen einer ordnungsgemäßen Ladung
  • aa) Notwendigkeit der Anpassung von § 323 Abs. 1 S. 2 StPO
  • bb) Alternative: Hinweispflicht als Voraussetzung des Rechts auf Vertretung
  • cc) Ergebnis
  • c) Zurechnung von Verschulden und fehlender Vertretungsbereitschaft des Verteidigers an den Angeklagten
  • aa) Problemaufriss aus der Perspektive der EMRK
  • bb) Gravierender Verteidigungsmangel bei unentschuldigtem Ausbleiben / Nichtweitervertreten
  • cc) Notwendige Schritte des Gerichts zur Gewährleistung effektiver Verteidigung
  • (1) Gewährleistungen des Gesetzesentwurfs
  • (2) Offizielle Benachrichtigung des Angeklagten über einen Fortsetzungstermin bei Unterbrechung / Wegfall der Vertretungsbereitschaft des Verteidigers
  • (3) Erweiterung des Anwendungsbereichs von § 145 StPO / Recht auf Neuwahl eines Verteidigers
  • (4) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei fehlendem Verschulden des Angeklagten
  • dd) Ergebnis
  • d) Verwerfung der Berufung bei schuldhafter Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten
  • aa) Fehlen des Merkmals der wissentlichen Verhinderung der Hauptverhandlung
  • bb) Keine Gelegenheit zur Äußerung zur Anklage in der Berufungshauptverhandlung
  • cc) Notwendigkeit der Einholung eines ärztlichen Sachverständigengutachtens
  • dd) Erforderlichkeit eines Sonderfalls notwendiger Verteidigung?
  • ee) Zwischenergebnis
  • 3. Ergebnis
  • IV. Alternativen
  • 1. Einheitliches Modell der Berufung
  • a) Zweckmäßigkeit der Aufgabe des „gespaltenen Modells“
  • b) Anforderungen an ein konventionskonformes Abwesenheitsverfahren
  • aa) Gewährleistung effektiver Verteidigung in Abwesenheit des Angeklagten
  • bb) Notwendigkeit eines ärztlichen Sachverständigengutachtens über die Verhandlungs(un)fähigkeit des Angeklagten
  • cc) Notwendige Verteidigung bei Verhandlungsunfähigkeit
  • dd) Ergebnis
  • c) Erforderlichkeit der Verhandlung in Anwesenheit des Angeklagten
  • aa) „Soweit besondere Gründe die Anwesenheit … erfordern“, § 329 Abs. 2 S. 1 StPO-E
  • bb) Enumeration der „besonderen Gründe“ für die Erforderlichkeit der Anwesenheit
  • cc) Anwesenheitspflicht als Aspekt der Aufklärungspflicht des Gerichts, § 244 Abs. 2 StPO
  • dd) Anlehnung an § 73 Abs. 2 OWiG
  • ee) Zwangsweise Herstellung der Anwesenheit „soweit dies zur Durchführung der Hauptverhandlung geboten ist“
  • ff) Konsequenzen für die Untersuchungshaft
  • d) Unterrichtungspflicht des Vorsitzenden
  • e) Rücknahme der Berufung der Staatsanwaltschaft ohne Zustimmung des Angeklagten
  • f) Klarstellung des Wegfalls einzelner Taten im Verwerfungsurteil
  • g) Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
  • h) Regelungsvorschlag: § 329 StPO-Vorschlag
  • 2. Abschaffung der Berufungsinstanz
  • 3. Sprungrevision gegen erstinstanzliches Urteil
  • 4. Ergebnis
  • V. Sonstige notwendige Gesetzesänderungen
  • 1. Berufung durch den gesetzlichen Vertreter, § 330 StPO
  • 2. Schriftformerfordernis der Vertretungsvollmacht, §§ 234, 314 Abs. 2, 341 Abs. 2, 350 Abs. 2 S. 1, 378 S. 1, 387 Abs. 1, 411 Abs. 2 S. 1 StPO
  • 3. Ergänzung von § 341 Abs. 2 StPO
  • 4. Konsequenzen für das Strafbefehlsverfahren, § 412 StPO
  • VI. Praktische Folgen der Änderung
  • § 2. Auswirkungen auf die erste Instanz
  • I. Gebot der Abschaffung der Anwesenheitspflicht aus Art. 6 Abs. 1 i.V.m. 3 lit. c EMRK
  • II. Ausweitung des Rechts auf Vertretung als Gebot der Verhältnismäßigkeit, Art. 5 EMRK
  • III. Diskussion von Lösungsvorschlägen
  • 1. Vertretung des Angeklagten als Aspekt der Verhältnismäßigkeit
  • 2. Abschaffung der Anwesenheitspflicht
  • 3. Vertretung des Angeklagten als Ausnahme von der Anwesenheitspflicht
  • a) Entbindungsantrag als Voraussetzung
  • b) Entscheidung des Gerichts durch Beschluss nach pflichtgemäßem Ermessen
  • c) Notwendigkeit der Vernehmung des Angeklagten?
  • d) Anordnung des persönlichen Erscheinens, § 236 StPO
  • e) Rechtsbehelfe
  • IV. Regelungsvorschlag: § 234b StPO-Vorschlag
  • 9. Kapitel: Auswirkungen auf das OWi-Verfahren
  • § 1. Anwendbarkeit der EMRK
  • I. EGMR Öztürk ./. Deutschland – Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK
  • 1. Begriff „criminal charge“
  • 2. OWi-Verfahren als Strafverfahren
  • II. Übertragung der Grundsätze auf Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 lit. c EMRK
  • § 2. EGMR Tolmachev ./. Estland
  • I. Sachverhalt und Rechtslage
  • II. Bewertung
  • § 3. Vereinbarkeit des OWi-Verfahrens mit der EMRK
  • I. Gerichtliches Verfahren bei Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid de lege lata
  • 1. Einordnung in den Regelungskontext
  • 2. Grundsatz der Anwesenheitspflicht und Recht auf Entbindung
  • 3. Recht auf Vertretung als akzessorisches Recht zur Entbindungsentscheidung
  • II. Problemaufriss aus der Perspektive der EMRK
  • § 4. Diskussion von Lösungsvorschlägen
  • I. Wiedereinsetzung und Rechtsbeschwerde als Heilung des Konventionsverstoßes
  • II. Konventionskonforme Auslegung von § 74 OWiG
  • 1. Schriftformerfordernis der Vertretungsvollmacht, §§ 74 Abs. 1, 73 Abs. 3 OWiG
  • 2. Verwerfung des Einspruchs, § 74 Abs. 2 OWiG
  • III. Beseitigung des Schriftformerfordernisses der Vertretungsvollmacht
  • IV. Entschuldigungslösung
  • V. Anpassung der Entbindungspraxis
  • VI. Recht auf Vertretung als eigenständiger Entbindungsgrund
  • VII. Einheitliches Einspruchsmodell
  • VIII. Rückkehr zu § 74 OWiG a.F.
  • 1. Regelungsgehalt von § 74 OWiG a.F.
  • 2. Wahrung des Rechts auf Verteidigung in Abwesenheit durch § 74 Abs. 2 OWiG a.F.?
  • IX. „Halbe Rolle rückwärts“ zu § 74 Abs. 2 a.F. unter Anlehnung an § 411 Abs. 2 StPO
  • 1. Wahrung der Anwesenheitspflicht
  • 2. Verwerfung des Einspruchs als Ermessensentscheidung des Gerichts
  • 3. Recht auf Vertretung als Ausschlussgrund für die Verwerfung des Einspruchs
  • 4. Rückkehr zur Vorführung nach § 74 Abs. 2 S. 2 OWiG a.F.
  • 5. Voraussetzungen einer ordnungsgemäßen Ladung
  • X. Regelungsvorschlag: § 74 Abs. 2 OWiG-Vorschlag
  • § 5. Ergebnis
  • 10. Kapitel: Besonderheiten im Jugendstrafverfahren
  • § 1. Anwendbarkeit der EMRK
  • § 2. Berufungsverfahren
  • I. De lege lata
  • II. Problemaufriss aus der Perspektive der EMRK
  • III. Diskussion von Lösungsmodellen
  • 1. Abschaffung des Schriftformerfordernisses der Vertretungsvollmacht
  • 2. § 50 Abs. 1 JGG als lex specialis zu § 329 Abs. 1 S. 1 StPO
  • a) Zweck und Voraussetzungen von § 50 Abs. 1 JGG
  • b) Anwendbarkeit von § 50 Abs. 1 JGG im Berufungsverfahren
  • c) Ergebnis
  • 3. Anwendbarkeit von § 329 StPO-Vorschlag im Jugendstrafrecht
  • a) Vertretung des Angeklagten als Ausnahme nach dem Gesetzesentwurf
  • b) Kritische Überprüfung des strengen Anwesenheitsgebots
  • aa) Erziehung durch Anwesenheit?
  • bb) Ermittlung der Persönlichkeit
  • cc) Gebot der Restriktion bei Anordnung des persönlichen Erscheinens
  • 4. Ergebnis
  • IV. Kein Recht auf Vertretung durch einen Beistand, § 69 Abs. 3 S. 2 JGG-E
  • 1. Zweck und Voraussetzungen der Beistandschaft
  • 2. Zugelassener Personenkreis
  • 3. Vereinbarkeit des beschränkten Vertreterkreises mit der EMRK
  • V. Zusammenfassung
  • § 3. Erste Instanz
  • § 4. OWi-Verfahren
  • 11. Kapitel: Ausblick – Auswirkungen auf den Ablauf der Hauptverhandlung
  • § 1. Wahrnehmung prozessualer Rechte
  • § 2. Mündliche Einlassung zur Sache, § 243 Abs. 5 S. 1 StPO
  • I. Meinungsstand
  • II. „Vertretungslösung“ als Gebot von Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 lit. c EMRK?
  • III. Ergebnis
  • § 3. Erklärungsrecht und Recht auf das letzte Wort, §§ 257 Abs. 1, 258 Abs. 2 HS. 2 StPO
  • § 4. Zustimmung zur Einbeziehung einer Nachtragsanklage, § 266 Abs. 1 StPO
  • I. Zustimmung des Angeklagten als höchstpersönliche Erklärung
  • II. Recht auf Vertretung aus Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 lit. c EMRK?
  • III. Ergebnis
  • § 5. Zustimmung zur Verständigung, § 257c Abs. 4 S. 4 StPO
  • § 6. Zustimmung zur Einstellung des Verfahrens, § 153 Abs. 2 S. 1 StPO
  • § 7. Ergebnis
  • 12. Kapitel: Zusammenfassung und Fazit
  • § 1. Recht auf Vertretung in der Rechtsprechung des EGMR
  • § 2. Anerkennung von Abwesenheitsverfahren auf europäischer und internationaler Ebene
  • § 3. Auslegung von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK als Recht auf Vertretung
  • § 4. Relatives Recht auf Vertretung nach der Rechtsprechung des EGMR
  • § 5. Pflicht Deutschlands zur Befolgung der Urteile des EGMR
  • § 6. Konsequenzen für die deutsche StPO
  • I. Unzulässigkeit der Verwerfung der Berufung, § 329 Abs. 1 S. 1 StPO
  • 1. Möglichkeit der völkerrechtsfreundlichen Auslegung
  • 2. Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Rechts auf Vertretung durch einen Verteidiger in der Berufungshauptverhandlung
  • 3. Einheitliches Berufungsmodell: § 329 StPO-Vorschlag
  • II. Recht auf Vertretung als eigener Ausnahmetatbestand in der ersten Instanz: § 231b StPO-Vorschlag
  • § 7. Konsequenzen für das deutsche OWi-Verfahren, § 74 Abs. 2 OWiG-Vorschlag
  • § 8. Besonderheiten des Jugendstrafrechts als „Täterstrafrecht“
  • § 9. Keine Auswirkungen der Rechtsprechung des EGMR auf den Ablauf der Hauptverhandlung
  • § 10. Fazit und Ausblick
  • Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1.   Kapitel: Einführung

„In den ersten Jahrzehnten ihrer Geltung hat die EMRK in einem fast ungestörten Dornröschenschlaf verbracht. (…) Inzwischen ist die Zeit des Tiefschlafs jedoch vorbei.“1

§ 1.  Einordnung des Themas

So leitete Weigend im Jahr 2000 einen Aufsatz zur Europäischen Menschenrechtskonvention ein.

Im Jahr 2014 ist vielleicht der Tiefschlaf der EMRK vorbei, doch die Benommenheit, die aus dem jahrzehntelangen Schlaf resultiert, hält in Deutschland nach wie vor an.

Die EMRK ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der am 4.11.1950 in Rom unterzeichnet wurde und der alle Mitglieder des Europarats verpflichtet, die in der EMRK garantierten Menschenrechte zu wahren.2 Deutschland hat der EMRK durch Gesetz v. 7.8.1952 auf der Ebene des einfachen Bundesrechts Gesetzeskraft verliehen.3 Seit dem 3.9.1952 sind die Verbürgungen der EMRK damit nicht „nur“ Völkervertragsrecht, sondern auch unmittelbar geltendes nationales Recht.

Diese Tatsache wird häufig übersehen, wenn es darum geht, dem deutschen Strafprozessrecht den Grundrechtsstandard zu verleihen, den die EMRK vorschreibt. Dies liegt daran, dass bei Unterzeichnung der EMRK vor mehr als einem halben Jahrhundert wohl die Ansicht vorherrschte, dass das deutsche Recht ohnehin dem Schutzniveau dieser Konvention gleichkommt und so Konflikte ausgeschlossen sind. Dabei wurde allerdings nicht bedacht, dass die EMRK kein statisches Regelkonstrukt ist, sondern zur Gewährleistung effektiven Menschenrechtsschutzes mit dem Wandel der Zeit als sog. „living instrument“4 fungiert. Dem Wortlaut der EMRK wird folglich ständig neues Leben eingehaucht; verantwortlich hierfür ist vor allem der EGMR, der in seinen Urteilen regelmäßig den Inhalt der Konvention fortentwickelt. Aufgrund von Art. 46 Abs. 1 EMRK sind die jeweils verurteilten Vertragsstaaten verpflichtet, das Urteil zu befolgen und auf nationaler Ebene durchzuführen. Daraus erklärt sich auch die große Bedeutung der Urteile des EGMR, die eine Dimension hat, die beispielsweise den Verfahren vor dem Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen (HRC), der über die Gewährleistung des Standards des IPBPR wacht, aufgrund ihres unverbindlichen Charakters fremd ist.5 ← 33 | 34 →

So hatte der EGMR bereits in 11 Individualbeschwerdeverfahren gegen fünf verschiedene Vertragsstaaten6 darüber zu befinden, ob ein Angeklagter7, der ordnungsgemäß zur mündlichen Hauptverhandlung geladen worden ist und es dennoch vorsätzlich vermeidet zu erscheinen, weiterhin i.S.d. Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK berechtigt ist, den Beistand eines Verteidigers zu erhalten („The question accordingly arises whether an accused who deliberately avoids appearing in person remains entitled to „legal assistance of his own choosing“ within the meaning of Art. 6 Abs. 3 lit. c.”)8. Gemäß Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK hat jede Person, die einer Straftat angeklagt ist („charged with a criminal offence“) drei9 Mindestrechte: Das Recht sich selbst zu verteidigen („to defend himself in person“), das Recht sich durch einen Verteidiger der eigenen Wahl verteidigen zu lassen („to defend … through legal assistance“) und das Recht unentgeltlich Verteidigerbeistand zu erlangen, wenn die Mittel zur Bezahlung fehlen und dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist („if he has not sufficient means to pay for legal assistance, to be given it free when the interests of justice so require“). Der EGMR hat die Verteidigungsgarantie gemäß Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK in seinen Urteilen zu obig aufgeworfener Fragestellung stets als Aspekt des fairen Verfahrens nach Art. 6 Abs. 1 EMRK aufgefasst.10 Trotz aller Sachverhaltsunterschiede der einzelnen Konstellationen hat er im Ergebnis jeweils ein Recht auf Verteidigung in Abwesenheit bejaht und folglich eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 lit. c EMRK festgestellt.11 ← 34 | 35 →

Auch Deutschland ist mit Urteil v. 8.12.2012 in der Sache Neziraj vom EGMR i.S.d. „Rechtsprechungstradition“ verurteilt worden.12 Aufhänger dieses Urteils war die berufungsrechtliche Vorschrift des § 329 Abs. 1 S. 1 StPO, die folgendermaßen lautet:

Ist bei Beginn einer Hauptverhandlung weder der Angeklagte noch in den Fällen, in denen dies zulässig ist, ein Vertreter des Angeklagten erschienen und das Ausbleiben nicht genügend entschuldigt, so hat das Gericht eine Berufung des Angeklagten ohne Verhandlung zur Sache zu verwerfen.

Der Angeklagte Neziraj hatte gegen ein Urteil des AG Köln, wonach er wegen Diebstahls zu 100 Tagessätzen zu je 15 € verurteilt worden war, Berufung zum Landgericht eingelegt. Jedoch wollte er trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht zum Termin der Berufungshauptverhandlung erscheinen, da er die Vollstreckung eines Haftbefehls in einer anderen Sache fürchtete. Stattdessen entsandte er seinen Verteidiger als Vertreter in die Verhandlung. Das OLG Köln verwarf jedoch die Berufung des Angeklagten nach Maßgabe des § 329 Abs. 1 S. 1 StPO, da der Angeklagte trotz ordnungsgemäßer Ladung unentschuldigt ausgeblieben sei und kein Fall zulässiger Vertretung nach den Regeln der StPO vorgelegen habe.13

Meyer-Mews hat vor über zehn Jahren bereits geahnt, dass sich die innerstaatliche Rechtsprechung zu § 329 Abs. 1 S. 1 StPO ändern muss. Sein Aufsatz endet mit der Fragestellung, „ob dies freiwillig oder erst unter dem Eindruck einer Verurteilung der Bundesrepublik durch den EGMR geschehen wird.“14 Seit November 2012 kennen wir die Antwort. Die in Deutschland geltende Regelung des § 329 Abs. 1 S. 1 StPO bzw. die in der Rechtsprechung vorherrschende Verwerfungspraxis bei unentschuldigtem Ausbleiben des Angeklagten muss geändert werden. Nun stehen Rechtsprechung und Wissenschaft vor einer neuen Frage: Wie sollen die Vorgaben des EGMR im nationalen Strafverfahren umgesetzt werden?

Wollte man meinen, auf nationaler Ebene würden sich nun Literatur und Judikatur eifrig der Aufgabe stellen, das „Wie“ der Umsetzung der Rechtsprechung des EGMR zu bewerkstelligen, ist dies bedauerlicherweise falsch gedacht. Überwiegend15 wird versucht, das „Ob“, d. h. die Umsetzungspflicht als solche, zu umgehen. Landgerichte als Berufungsgerichte sowie Oberlandesgerichte als Revisionsgerichte haben mittlerweile eine eigene „Rechtsprechungstradition“ entwickelt, in der sie dem Recht auf Verteidigung in Abwesenheit gemäß Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 lit. c EMRK im deutschen Berufungsverfahren die Geltung versagen, weil dieses Recht angeblich gegen den im Strafprozess vorherrschenden Grundsatz der Anwesenheitspflicht des Angeklagten (§ 230 Abs. 1 StPO)16, das Recht auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG, die ← 35 | 36 → strafverfahrensrechtliche Prozessmaxime der materiellen Wahrheitserforschung, die Grundsätze der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit der Hauptverhandlung sowie nicht zuletzt gegen die Stellung des Strafverteidigers im deutschen Strafprozess verstoßen soll.17 Als letzter „Ausweg“ gilt die Nichteinhaltung der Vorschrift § 234 StPO, wonach sich der Verteidiger zur Vertretung des Angeklagten durch eine schriftliche Vollmacht ausweisen können muss.18 Die Gerichte berufen sich folglich auf ihre Bindung an Recht und Gesetz gemäß Art. 20 Abs. 3 GG und schieben die Lösung des Konflikts mit Art. 6 Abs. 3 lit. c i.V.m. Abs. 1 EMRK dem deutschen Gesetzgeber zu. Erste Reaktionen sind insofern bereits zu verzeichnen: Die Bundesregierung hat am 17.10.2014 einen Gesetzesentwurf zur Stärkung des Rechts auf Vertretung durch einen Verteidiger in der Berufungshauptverhandlung19 vorgelegt, der insbesondere die Anpassung von § 329 StPO an die Rechtsprechung des EGMR bezweckt.

Folglich liegt die Wurzel des Problems, dass die Umsetzung der Judikate des EGMR in Deutschland so schwer fällt, darin begründet, dass sich Deutschland, anders als beispielsweise Österreich, nicht für eine Verortung der EMRK auf der Ebene der Verfassung, sondern des einfachen Bundesrechts entschieden hat.20 Die EMRK und die Regeln der deutschen StPO begegnen sich folglich in der Normenhierarchie auf gleicher Ebene – die Chance für die deutschen Gerichte, den „schwarzen Peter“ dem Gesetzgeber zuzuschieben. Ob die Judikatur ihrer Bindung an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) damit aber tatsächlich gerecht wird, wird Teil dieser Arbeit sein. Es soll folglich ein Beitrag zur eigentlichen Aufgabe der Wissenschaft und Rechtsprechung geleistet werden und sich offen aus der Perspektive der EMRK sowie der StPO folgende Frage gestellt werden: ← 36 | 37 →

„Das erledigt mein Anwalt für mich.“ – Hat der Angeklagte ein Recht darauf, sich in der Hauptverhandlung vertreten zu lassen?“21

Dabei soll jedoch nicht bei der Regel des § 329 Abs. 1 S. 1 StPO stehen geblieben werden. Vielmehr muss beachtet werden, dass das Recht auf Vertretung im deutschen Strafprozess allgemein ein „Schattendasein“22 fristet. Es ist stets akzessorisch zu den Ausnahmen vom grundlegenden Prinzip der Anwesenheitspflicht des Angeklagten ausgestaltet.23 Damit muss auch untersucht werden, ob Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 lit. c EMRK gebietet, das Recht auf Verteidigung in der ersten Instanz von den engen Fesseln des Anwesenheitsgebots zu befreien.

Wirft man einen Blick ins OWiG, findet sich in § 74 Abs. 2 OWiG eine dem § 329 Abs. 1 S. 1 StPO vergleichbare Regelung. Danach hat das Gericht den Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid durch Urteil ohne Verhandlung zur Sache zu verwerfen, wenn der Betroffene24 ohne genügende Entschuldigung ausbleibt, obwohl er von der Verpflichtung zum Erscheinen nicht entbunden war. Dass auch in diesem Bereich umgehend Handlungsbedarf besteht,25 zeigt sich daran, dass in der Sache Tolmachev gegen Estland eine Individualbeschwerde betreffend das Recht auf Verteidigung in Abwesenheit im Verfahren wegen einer OWi anhängig ist.26

Darüber hinaus ist auch der Tatsache Rechnung zu tragen, dass das deutsche Jugendstrafrecht nicht als „Tatstrafrecht“, sondern als „Täterstrafrecht“ konzipiert ist.27 Es gilt also zu eruieren, ob die gefundenen Ergebnisse gemäß § 2 Abs. 2 JGG28 auf das Jugendstrafrecht und dessen Eigenheiten übertragen werden können.

Schließlich ist zu verzeichnen, dass ein Umsetzungshemmnis bezüglich der Rechtsprechung des EGMR ebenso darin besteht, dass sie als zu starker Eingriff in die nationale Souveränität verstanden wird.29 So wird befürchtet, dass nicht nur das „Ob“ des Rechts auf Vertretung, sondern auch das „Wie“ der Vertretung und damit ganze Teile der Hauptverhandlung nun konventionsrechtlich oktroyiert sind.30 Ob diese Einschätzung tatsächlich richtig ist, ist auch Teil dieser Arbeit. ← 37 | 38 →

§ 2.  Aufbau der Darstellung

Begonnen werden soll mit der Darstellung der Entwicklung der Rechtsprechung des EGMR zum Recht des Angeklagten auf Verteidigung in Abwesenheit gemäß Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 lit. c EMRK. Neben den Urteilsgründen werden dabei auch die jeweiligen Sachverhalte dargestellt.

Da das Recht auf Verteidigung in Abwesenheit ein Teilaspekt eines Strafverfahrens in Abwesenheit des Angeklagten ist, wird im folgenden Kapitel auf die Frage der Zulässigkeit von Abwesenheitsverfahren nach den Grundsätzen der EMRK bzw. der Rechtsprechung des EGMR eingegangen. Insofern lohnt auch ein Blick in das Recht der Europäischen Union bzw. das internationale Strafverfahrensrecht, um herauszufinden, ob Abwesenheitsverfahren im Grundsatz tendenziell anerkannt sind oder eher den Ausnahmefall bilden.

Im Folgenden wird durch Auslegung ermittelt, ob eine Interpretation der Konvention als „Recht des Angeklagten auf Vertretung“ überhaupt mit Art. 6 Abs. 3 lit. c, Abs. 1 EMRK vereinbar ist.

In einem weiteren Kapitel wird sodann der tatsächliche Inhalt bzw. die Reichweite der Rechtsprechung des EGMR zum Recht auf Verteidigung in Abwesenheit herausgearbeitet. Über den Tellerrand der Rechtsprechung des EGMR hinaus werden dabei weitere Fallkonstellationen untersucht, so dass letztlich verallgemeinerungsfähige Grundsätze hinsichtlich des Rechts des Angeklagten auf Verteidigung in Abwesenheit gemäß Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 lit. c EMRK aufgestellt werden können, die Grundlage für die Umsetzung im deutschen Strafprozess sind.

Im Anschluss daran soll allgemein aufgezeigt werden, welche Konsequenzen bzw. Pflichten sich aus den Urteilen des EGMR, sei es gegen Deutschland selbst oder gegen andere Vertragsstaaten, konkret für das deutsche Strafverfahrensrecht ergeben.

Eingedenk der Umsetzungspflicht in der Sache Neziraj wird sodann versucht, § 329 Abs. 1 S. 1 StPO konventionskonform auszugestalten. Zunächst wird hierzu im Detail der Rechtszustand de lege lata aufgezeigt. Auf diese Weise kann genau eruiert werden, wo die Konventionswidrigkeit tatsächlich sitzt. Im Folgenden wird der Versuch einer völkerrechtskonformen Auslegung von § 329 Abs. 1 S. 1 StPO unternommen. Des Weiteren wird der Gesetzesentwurf der Bundesregierung zu § 329 StPO31 auf seine Vereinbarkeit mit der Konvention und der Rechtsprechung des EGMR untersucht. Schließlich werden noch alternative Lösungsmodelle begutachtet.

Im Anschluss daran wird von der zweiten in die erste Tatsacheninstanz gewechselt und untersucht, ob nach den Grundsätzen des EGMR nicht auch hier Handlungsbedarf besteht, insbesondere ob der Grundsatz der ständigen Anwesenheitspflicht durch die Rechtsprechung des EGMR erschüttert worden ist. ← 38 | 39 →

Sodann wird der Bereich des klassischen Strafprozessrechts verlassen und das Verfahren nach Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid auf seine Konventionskonformität untersucht.

Sämtliche gefundenen Resultate werden schließlich auf ihre Anwendbarkeit im Jugendstrafverfahren begutachtet.

Die Arbeit schließt mit der Beurteilung der Frage, ob die Rechtsprechung des EGMR nicht nur das „Ob“ der Verteidigung in Abwesenheit vorschreibt, sondern auch das „Wie“ der Verteidigung in einer solchen Konstellation und damit den Ablauf der mündlichen Hauptverhandlung bestimmt. ← 39 | 40 →

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  1  Weigend StV 2000, 384.

  2  LR-EMRK/Esser Einführung Rn. 42.

  3  BGBl. II 1952, S. 685, ber. S. 953; zuletzt neu bekanntgegeben am 22.10.2010, BGBl. II 2010, S. 1198.

  4  Vgl. nur EGMR Tyrer ./. UK, 25.4.1978, Serie A Nr. 26, § 31 = NJW 1979, 1089.

  5  Eingehend hierzu LR-EMRK/Esser Verfahren HRC Rn. 353 ff.

  6  EGMR Poitrimol ./. F, 23.11.1993, Serie A Nr. 277-A = ÖJZ 1994, 467; Lala ./. NL, 22.9.1994, Serie A Nr. 297-A = ÖJZ 1995, 196; Pelladoah ./. NL, 22.9.1994; (GK) Van Geyseghem ./. B, 21.1.1999, ECHR 1999-I = NJW 1999, 2353; Van Pelt ./. F, 23.5.2000; Krombach ./. F, 13.2.2001, ECHR 2001-II = NJW 2001, 2387; Stroek ./. B, 20.3.2001; Goedhart ./. B, 20.3.2001; Harizi ./. F, 29.3.2005; Kari-Pekka Pietiläinen ./. FIN, 22.9.2009; Neziraj ./. D, 8.11.2012 = StraFo 2012, 490.

  7  Dieser Arbeit liegt der Begriff des „Angeklagten“ zugrunde, da das Recht auf Verteidigung in der Hauptverhandlung im Fokus steht und gemäß § 157 StPO Angeklagter der Beschuldigte oder Angeschuldigte ist, gegen den die Eröffnung des Hauptverfahrens beschlossen ist.

  8  Vgl. EMGR Poitrimol ./. F (Fn. 6) § 32; Neziraj ./. D (Fn. 6) § 46.

  9  Das Verhältnis dieser drei Varianten ist aufgrund des divergierenden Wortlauts in der französischen und englischen Fassung der EMRK umstritten. Vgl. IntKomm-EMRK/Kühne Art. 6 Rn. 535; ausführlich hierzu unten 4. Kapitel § 5 I.

10  Vgl. statt aller EGMR Poitrimol ./. F (Fn. 6) § 29 („As the requirements of paragraph 3 of Article 6…are to be seen as particular aspects of the right to a fair trial guaranteed by paragraph 1 … the Court will examine the complaints unter both provisions taken together.“).

11  EGMR Poitrimol ./. F (Fn. 6) § 39; Lala ./. NL (Fn. 6) § 35; Pelladoah ./. NL (Fn. 6) § 42; (GK) Van Geyseghem ./. B (Fn. 6) § 36; Van Pelt ./. F (Fn. 6) § 70; Krombach ./. F (Fn. 6) § 91; Stroek ./. B (Fn. 6) § 25; Goedhart ./. B (Fn. 6) § 28; Harizi ./. F (Fn. 6) § 55; Kari-Pekka Pietiläinen ./. FIN (Fn. 6) § 35; Neziraj ./. D (Fn. 6) § 67.

12  EGMR Nezirai ./. D (Fn. 6) sowie zum nachfolgenden Text.

13  OLG Köln, Beschl. v. 26.9.2003 – Ss 377/03 (unveröffentlicht).

14  Meyer-Mews NJW 2002, 1928, 1929.

15  Anders hingegen beispielsweise Esser StV 2013, 331; ders. StraFo 2013, 251; Püschel StraFo 2012, 493.

16  § 230 Abs. 1 StPO: „Gegen einen ausgebliebenen Angeklagten findet eine Hauptverhandlung nicht statt.“.

17  Vgl. etwa OLG München, StV 2013, 301; OLG Celle, NStZ 2013, 615; OLG Bremen, StV 2014, 211; zusammenfassend vgl. BVerfG, StraFo 2007, 190.

18  Beispielhaft: OLG Hamm, zfs 2014, 470; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 25.9.2013 – 2 (6) Ss 386/13 – AK 101/13, BeckRS 2014, 11569; OLG Düsseldorf, StV 2013, 299, 302.

19  Vgl. Gesetzesentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungsverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe, BR-Drs. 491/14 v. 17.10.2014, abrufbar unter: http://www.bundesrat.de/SharedDocs/drucksachen/2014/0401-0500/491-14.pdf?__blob=publicationFile&v=1 (Stand: 6.12.2014); vgl. hierzu auch Stellungnahme des Bundesrates zum Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungsverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe v. 28.11.2014, BR-Drs. 491/14 (Beschluss), abrufbar unter: http://www.bundesrat.de/SharedDocs/drucksachen/2014/0401-0500/491-14(B).pdf?__blob=publicationFile&v=1 (Stand: 6.12.2014); BMJV, (Referenten-) Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Rechts auf Vertretung durch einen Verteidiger in der Berufungshauptverhandlung, Bearbeitungsstand: 19.12.2013, abrufbar unter: http://www.bmj.de/SharedDocs/Downloads/DE/pdfs/RefE-Recht-auf-Vertretung-in-der-Berufungshauptverhandlung.pdf?__blob=publicationFile (Stand: 6.12.2014).

20  Vgl. LR-EMRK/Esser Einführung Rn. 85 f.

21  Weigend in: FS für Kühl, S. 947.

22  BRAK, Stellungnahme Nr. 13/2014, S. 10.

23  Vgl. nur § 234 StPO i.V.m. §§ 231 Abs. 2, 231a, 231b, 232, 233, 411 Abs. 2, 387 Abs. 1, 350 Abs. 2 StPO.

Details

Seiten
466
Erscheinungsjahr
2015
ISBN (PDF)
9783653057799
ISBN (MOBI)
9783653963779
ISBN (ePUB)
9783653963786
ISBN (Hardcover)
9783631665091
DOI
10.3726/978-3-653-05779-9
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Juni)
Schlagworte
Menschenrechte Strafverfahren Europäische Menschenrechtskonvention Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Abwesenheitsverfahren Berufung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 466 S.

Biographische Angaben

Jennifer Pöschl (Autor:in)

Jennifer Pöschl studierte Rechtswissenschaften an der Universität Passau. Sie war Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Deutsches, Europäisches und Internationales Strafrecht und Strafprozessrecht sowie Wirtschaftsstrafrecht.

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Titel: Recht des Angeklagten auf Vertretung