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Die Rezeption der Gestaltpsychologie in Robert Musils Frühwerk

von Karen Brüning (Autor:in)
©2015 Dissertation 336 Seiten
Reihe: Moderne und Gegenwart, Band 20

Zusammenfassung

Im Mittelpunkt des Buches steht die Analyse der Wechselwirkung zwischen Robert Musils Frühwerk und der Gestaltpsychologie. Der österreichische Schriftsteller gilt als Wanderer zwischen den Welten der Wissenschaft und der Literatur. Er emanzipiert sich von der wissenschaftlichen Psychologie und setzt ihr eine auf psychologischen Erkenntnissen basierende Poetologie entgegen, in der besonders die Erkenntnisse der Gestalttheoretiker literarisch verarbeitet werden. In diesem Prozess, dessen Endpunkt der «Mann ohne Eigenschaften» darstellt, kommt dem Frühwerk eine besondere Bedeutung zu. Karen Brüning zeigt auf, wie Musil hier erstmals literarische Zugänge zu einem eigentlich psychologischen Erkenntnisinteresse erarbeitet: der Definition der Seele.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Robert Musil und die Wissenschaft der Seele
  • 1.2 Forschungslage
  • 1.3 Methodische Überlegungen zur Diskursanalyse
  • 1.3.1 Die Diskursanalyse nach Michel Foucault
  • 1.3.2 Die Umbruchsituation der Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts als diskursanalytischer Bezugsrahmen
  • 2. Die Wurzeln der Gestaltpsychologie
  • 2.1 Die experimentelle Untersuchung psychischer Phänomene
  • 2.2 Carl Stumpf und seine Mentoren als Wegbereiter der Gestaltpsychologie
  • 2.3 Ernst Mach und der neutrale Monismus
  • 2.4 Christian von Ehrenfels als Namensgeber der Gestaltpsychologie
  • 2.5 Zwischenfazit
  • 3. ‚Die Verwirrungen des Zöglings Törleß‘ – Zwischen Wissenschaft und Dichtung
  • 3.1 Experimentalpsychologische Ansätze im Roman
  • 3.2 Törleß‘ Verwirrungen im Spiegel der Thesen Ernst Machs
  • 3.3 Zwischenfazit – Törleß zwischen Psyche und Seele
  • 4. Musils Dissertation über Ernst Mach und die Aufgabe von literarischen Kausalzusammenhängen
  • 5. ‚Vereinigungen‘ – Ein literarisches Experiment zur Negierung des Kausalzusammenhangs
  • 5.1 ‚Die Vollendung der Liebe‘ – Treue und Untreue als Komponenten des funktionalen Komplexes der Liebe
  • 5.2 ‚Die Versuchung der stillen Veronika‘ – Der funktionale Zusammenhang von Leben und Tod
  • 5.3 Zwischenfazit – Die Seele als Gestalt
  • 6. Die Genese der Gestaltpsychologie
  • 6.1 Max Wertheimer
  • 6.1.1 ‚Experimentelle Studie über das Sehen von Bewegung‘ (1912) – Erste gestalttheoretische Implikationen
  • 6.1.2 ‚Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt‘ (1922/23) – Die Erarbeitung der Gestaltgesetze
  • 6.2 Wolfgang Köhler
  • 6.2.1 ‚Über unbemerkte Empfindungen und Urteilstäuschungen‘ (1913) – Zweifel an der Konstanzannahme
  • 6.2.2 ‚Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand‘ (1920) – Die Übertragung von Gestalten auf Biologie und Physik
  • 6.3 Kurt Koffka: ‚Psychologie der Wahrnehmung‘ (1914) – Antisynthetische Ansätze
  • 6.4 Kurt Lewin
  • 6.4.1 ‚Kriegslandschaft‘ (1917) – Subjektive und situative Wahrnehmung als gestaltbildende Prinzipien
  • 6.4.2 ‚Willenstätigkeit und Assoziation‘ (1921/22) – Problematisierung des Assoziationsgesetzes
  • 6.4.3 ‚Änderung der Raumlage auf dem Kopf stehender Figuren‘ (1923) – Gestalten als willensgesteuerte Phänomene
  • 6.5 Erich M. von Hornbostel: ‚Über optische Inversionen‘ (1922) – Kippbilder als gestaltpsychologische Praxis
  • 6.6 Zwischenfazit – Die wissenschaftlichen Innovationen der Gestaltpsychologie
  • 7. Musils Seelenbegriff als Produkt gestalttheoretischer Einflüsse
  • 8. ‚Drei Frauen‘ – Die Verschmelzung von Gegensätzen zu seelischen Gestalten
  • 8.1 Die Gestalttheorie als wissenschaftliche Inspirationsquelle
  • 8.1.1 ‚Grigia‘ – Die literarische Transponierung von Gestalten
  • 8.1.2 ‚Die Portugiesin‘ – Inversionen als Prozess der Selbstfindung
  • 8.1.3 ‚Tonka‘ – Wirklichkeit und Fiktion als Komponenten der Gestalt der Wahrheit
  • 8.1.4 Zwischenfazit – Die gestalthafte Verbindung von Seele, Wahrheit und Erkenntnis
  • 8.2 Poetologische Überlegungen im Spiegel der Gestalttheorie
  • 9. Schlussüberlegungen – Die Allgemeingültigkeit dichterischer und seelischer Erkenntnis
  • 9.1 Zusammenfassung der Ergebnisse
  • 9.2 Ausblick: Die Gestaltpsychologie im ‚Mann ohne Eigenschaften‘
  • 9.3 Diskursanalyse
  • 9.3.1 Die Zusammenhänge in der Gestaltpsychologie
  • 9.3.2 Musils Literatur als diskursives Element
  • 9.4 Abschließende Bemerkungen
  • Literaturverzeichnis

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Vorwort

Jeder, der sich der Herausforderung stellt, eine solche Arbeit zu schreiben, wird schnell merken, dass diese Aufgabe fachlicher und persönlicher Unterstützung bedarf. Ich hatte das Glück, in beiden Bereichen eine solche zu erfahren und die Tatsache, dass das Projekt nun als abgeschlossen bezeichnet werden kann, soll als Anlass genommen werden, den Menschen Dank auszusprechen, die mich auf vielfältige Weise unterstützt haben.

Hier wäre zunächst mein Doktorvater, Prof. Dr. Christian Dawidowski zu nennen, der die Entstehung der Arbeit mit großem Engagement und fachlichem Rat vorbildlich begleitet und betreut hat. Bedanken möchte ich mich weiterhin bei Michael Woll, der trotz eigener Verpflichtungen das Manuskript gelesen und konstruktiv Kritik geübt hat.

Entscheidend ist des Weiteren die Frage, wie sich die Herausforderungen, die eine solche Arbeit stellt, in den Alltag integrieren lassen. Die Dissertation hätte nicht entstehen können, wenn meine Familie diesen Schritt nicht mitgetragen hätte; ihrer Unterstützung und der festen Überzeugung, dass der Erfolg die Arbeit am Ende rechtfertigen würde, konnte ich mir stets gewiss sein. Dieser Tatsache ist es zu verdanken, dass ich die intensive und anstrengende Zeit rückblickend als Privileg empfinde.

Zu guter Letzt gilt mein Dank Chris, meinem Fels in der Brandung, für seine unerschütterliche Ruhe und Zuneigung.

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1. Einleitung

1.1 Robert Musil und die Wissenschaft der Seele

„Ich will nicht begreiflich sondern fühlbar machen“1, schreibt Robert Musil im Jahr 1906 und artikuliert damit bereits früh einen wesentlichen Anspruch an seine Dichtung. In dieser Äußerung zeichnet sich ein Spannungsfeld ab, das in der Literatur der Jahrhundertwende im Allgemeinen und in Musils Werk im Besonderen eine wesentliche Bedeutung hat: es ist die Differenzierung zwischen (Natur-) Wissenschaften und Literatur. Diese beiden Domänen sind auch in seinem Lebenslauf dominant; Musil schließt nicht nur das Studium der Ingenieurswissenschaften, sondern später auch noch ein Psychologiestudium erfolgreich ab. Dabei fällt seine Studienzeit am Berliner Institut für Psychologie in eine Periode des radikalen Umbruchs: Unter der Leitung von Carl Stumpf, der auch Musils Doktorvater ist, entwickelt sich eine neue Generation von Wissenschaftlern, deren Anliegen es ist, die bis dahin deutlich von der Philosophie geprägte Psychologie zu reformieren und zu modernisieren. In dieser Genese zur eigenständigen Wissenschaft spielt die Hinwendung zu experimentellen Untersuchungen von psychischen Phänomenen eine wichtige Rolle – ein Prinzip, das neben Carl Stumpf in Berlin auch Wilhelm Wundt in Leipzig unterstützt. Ihre Schüler sind es, die die Erkenntnisse aufnehmen und zu einem eigenständigen Forschungszweig ausbauen: die Gestaltpsychologie entsteht. Nicht nur in Berlin wird der Aspekt der Gestaltqualitäten untersucht, auch am Lehrstuhl von Alexius Meinong in Graz wird die Frage nach Gestalten in der Wahrnehmung eruiert. Dabei sind die Ergebnisse dieser Forschungsbemühungen verschieden – in der vorliegenden Arbeit soll aufgrund der räumlichen und gedanklichen Nähe zu Robert Musil vornehmlich die Berliner Schule um Wolfgang Köhler, Max Wertheimer, Kurt Koffka und Kurt Lewin betrachtet werden.

Der Name der Gestaltpsychologie leitet sich ab von einem Artikel von Christian von Ehrenfels, der sich bereits 1890 in der Schrift ‚Über „Gestaltqualitäten“‘ anhand von Melodien mit der Frage der Transponierbarkeit auseinandersetzt und im Zuge dieser Reflexionen davon ausgeht, dass sich die Gestalt von der Summe ihrer Teile unterscheiden müsse. Dabei bezieht er sich wiederum ausdrücklich auf den Wissenschaftler Ernst Mach, der in seinen Werken ‚Analyse ← 11 | 12 → der Empfindungen‘ und ‚Erkenntnis und Irrtum‘ annimmt, dass die äußere Umwelt (die wiederum mit der psychischen Innenwelt zusammenfällt) aus Komponenten besteht, die in ihrer Interaktion individuelle Komplexe bilden. Auch für Robert Musil stellen diese Überlegungen gedankliche Anknüpfungspunkte dar, deren ‚Tragfähigkeit‘ er in seinem Erstlingswerk auslotet: In der Endphase des Studiums entsteht der Roman ‚Die Verwirrungen des Zöglings Törleß‘, in dem deutliche Anleihen an die theoretischen Konstrukte Ernst Machs zu erkennen sind. 1908 promoviert Musil mit einer Arbeit über Mach und veröffentlicht 1911 das Novellendyptichon ‚Vereinigungen‘, dessen experimentell-funktionale Erzählwelt die fortgeschrittene (und in Teilen auch theoretisch emanzipierte) Beschäftigung mit Ernst Mach erkennen lässt.

Durch die Entwicklung, die die Gestaltpsychologie durchläuft, tritt eine weitere Ebene hinzu, mit deren Hilfe Musil wissenschaftliche Prinzipien in die Literatur zu integrieren sucht. Dabei muss die Gestaltpsychologie definiert werden als eine „Richtung der Wahrnehmungspsychologie […]. Unter einer Gestalt versteht man ein Schema oder ein Gebilde, das als Ganzes andere Qualitäten aufweist als seine einzelnen Elemente und Strukturen.“2 Weiterhin bleibt die Anlehnung an die Erkenntnisse Christian von Ehrenfels’ konsequent bestehen, wird aber gleichzeitig erweitert: „Die Beziehungen zwischen den Elementen sind transponierbar, d.h. eine visuelle Gestalt bleibt auch dann erhalten, wenn man ihre Farben oder ihre Größe ändert oder eine Melodie auch bei Veränderung der Tonlage.“3

Die Nähe Musils zu der Gestalttheorie ergibt sich besonders aus der Tatsache, dass der Schriftsteller gemeinsam mit einigen der später führenden Gestaltpsychologen studiert; Max Wertheimer, Johannes von Allesch und Erich von Hornbostel kennt er persönlich.4 In der Weiterentwicklung der experimentellen ← 12 | 13 → Psychologie, die gleichzeitig auch eine Ausdifferenzierung beinhaltet, wahren die Schüler Stumpfs immer den Anspruch, dass die Ergebnisse exakter Natur sein müssen – ein Credo, das Stumpf als oberste Priorität ansetzt; garantiert es doch, dass sich die Psychologie als emanzipierte und institutionalisierte Wissenschaft etablieren kann. Der Fokus der Gestaltpsychologen liegt auf der Analyse von (zumeist visuellen) Wahrnehmungsvorgängen, die fundamentalen Prinzipien werden etwa in den Jahren zwischen 1912 und 1923 erarbeitet – diese Spanne definiert gleichzeitig auch den Schwerpunkt des Untersuchungszeitraums dieser Arbeit.

Eine erste gedankliche Stoßrichtung gibt Max Wertheimer mit seiner Arbeit ‚Experimentelle Studie über das Sehen von Bewegung‘ (1912) vor, in der er die bis dahin theoretisch gebliebenen Ausführungen Christian von Ehrenfels’ auch experimentell nachweisen kann. Die Bemühungen der Gestaltisten zielen jedoch nicht nur darauf ab, das Innovationspotential dieser neuen Forschungsrichtung zu untermauern – sie stellen gleichzeitig auch theoretische Konstrukte der ‚alten‘ Psychologie infrage. So zweifelt Wolfgang Köhler 1913 in seiner Schrift ‚Über unbemerkte Empfindungen und Urteilstäuschungen‘ die Konstanzannahme an, ein tradiertes Prinzip in der Psychologie, bei dem die konsequente (und gegebenenfalls auch unbewusst ablaufende) Übertragung von Reiz und Empfindung im Verhältnis 1:1 angenommen wird. Gestärkt wird der gestaltpsychologische Aspekt in den nun folgenden Arbeiten der anderen Gestaltpsychologen, indem sie zu der Überzeugung kommen, dass die Perzeption der ‚wirklichen‘ Welt grundsätzlich von der individuellen und subjektiven Situation abhängig ist.5 Kurt Lewin nutzt diesen Ansatz später, um daraus eine ganze Handlungstheorie zu entwickeln, die in ihrer grundsätzlichen Argumentation stets der Gestalttheorie verpflichtet bleibt. Wolfgang Köhler hingegen konzentriert sich darauf, die gestalttheoretischen Konstrukte auch in den Naturwissenschaften nachzuweisen. In seinem Werk ‚Über physische Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand‘ (1920) kommt er zu der Überzeugung, dass die tradierte Idee der statischen Und-Verbindungen die Komplexität der physikalischen, chemischen oder biologischen Vorgänge nicht abzubilden in der Lage sei und folgert, dass sich „Zustände und Vorgänge, [ihre] ← 13 | 14 → charakteristische[n] Eigenschaften und Wirkungen [nicht] aus artgleichen Eigenschaften und Wirkungen ihrer sogenannten Teile […] zusammensetzen.“6

1922 veröffentlicht Max Wertheimer eine Arbeit, in der er die sogenannten Gestaltgesetze aufstellt, mit ihnen wird der Bündel- oder Mosaikhypothese eine endgültige Absage erteilt. Johannes von Allesch hingegen zeigt mit seinem Werk ‚Wege zur Kunstbetrachtung‘ weitere Anwendungsgebiete der Gestalttheorie auf, indem er auch in der darstellenden Kunst Gestalten identifiziert – ein Vorgehen, für das Musil großes Interesse zeigt.7 Auch für den Artikel seines Studienfreundes Erich von Hornbostel, der sich mit der Funktionsweise von Inversionen auseinandersetzt, zeigt er sich aufgeschlossen. Von Hornbostel schreibt, das Invertieren sei in seinem Freundeskreis (zu dem Musil zählt) „bald ein beliebtes Gesellschaftsspiel“8 geworden, ohne dabei aber die wissenschaftliche Relevanz dieses Phänomens aus den Augen zu verlieren.

Bereits dieser kurze Abriss der Genese der Gestaltpsychologie macht deutlich, dass sie neben ihrem großen Innovationspotential auch zahlreiche Anknüpfungspunkte für Wissenschaft und Kunst birgt. Diese Möglichkeit erkennt auch Robert Musil, dessen Anspruch es ist, eine Literatur zu schaffen, die seelische Prinzipien tangiert;9 die Anlehnung an die Psychologie als ‚Wissenschaft der Seele‘ ist daher naheliegend. Allerdings reichen Musil die wissenschaftlichen ← 14 | 15 → Erkenntnisse nicht aus: Obwohl er zeitweise ein „bisschen Heimweh“10 nach der Psychologie verspürt, lehnt er das Angebot zur Habilitation bei Alexius Meinong in Graz ab, um sich ganz auf die Laufbahn als Schriftsteller konzentrieren zu können. Er schreibt: „Er [Musil; K.B.] wurde statt eines Privatdozenten der Psychologie ein Praktiker in der ausübenden Psychologie – ein Schriftsteller.“11 Dennoch darf weder davon ausgegangen werden, dass Musil die Wissenschaften als Schablone für seine literarischen Produkte verwendet, noch, dass er für Wissenschaft und Dichtung ein antagonistisches Verhältnis annimmt. Die Psychologie und die Literatur Musils streben dennoch dasselbe an: Ziel ist die Erhellung seelischer Vorgänge. Diese Ähnlichkeit ist jedoch eine oberflächliche, denn das Untersuchungsobjekt Seele ist kaum definierbar.

Der Psychologie geht es dabei in erster Linie um eine „Systematik der seelischen Qualitäten12; Wahrnehmungen, Vorstellungen und Empfindungen sollen in ihrer Interaktion dargestellt, erklärt und wissenschaftlich nutzbar gemacht werden. In dieser Zielsetzung zeigt sich die begriffliche Fehlleistung, wenn die Psychologie als ‚Wissenschaft der Seele‘ bezeichnet wird. Betrachtet man die Fragestellung der psychologischen Forschung genauer, so wird deutlich, dass auch hier keine konkrete Definition dessen gelingt, was die Seele genau ist. Olof Gigon kommentiert diesen Sachverhalt wie folgt: „Wir können feststellen, was die Seele leisten kann und leisten soll und faktisch leistet, nicht aber, was sie an sich selbst ist.“13 Somit fragt die Psychologie weniger nach der genauen Beschaffenheit der Seele, sondern vielmehr nach ihren (objektiv messbaren) Leistungen und Fähigkeiten.

Für Musil ist diese Zielsetzung nicht ausreichend, sodass verständlich wird, warum eine wissenschaftlich korrekte Wiedergabe der psychologischen Erkenntnisse für ihn nur eine untergeordnete Rolle spielt. Vielmehr scheint er den Wissenschaften mit ihrem Drang nach allgemeingültiger Erkenntnis und unbedingter Objektivierbarkeit ein literarisches System entgegenzustellen, das seinerseits nach seelischen Prinzipien fragt, sich dabei jedoch zu jeder Zeit ← 15 | 16 → an individuellen Fragestellungen orientiert.14 Diese Herangehensweise erlaubt eine gedankliche Emanzipation von der Psychologie und ihren methodischen Analysekriterien und im nächsten Schritt eine Fokussierung von solchen Ideen, die durch die schematisierte Abbildung nicht erfasst werden können. Eine wesentliche Aufgabe dieser Arbeit wird daher darin bestehen, aus der Wissenschaft entliehene Motive zu identifizieren und ihre Wirkungsweise im literarischen Kontext aufzuzeigen. Nur so kann verdeutlicht werden, wie Musil Möglichkeiten und Grenzen der Wissenschaft definiert und inwieweit sich die vermeintlichen Grenzwerte als Ausgangspunkte für ein modifiziertes Streben nach individueller Erkenntnis herausstellen.

Dass Musil die Psychologie (und auch die Wissenschaft im Allgemeinen) instrumentalisiert, ist in der Forschung inzwischen unumstritten. Der Autor setzt sich in zahlreichen Schriften mit dem Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Literatur auseinander und versucht immer wieder, dieses Spannungsverhältnis gewinnbringend für seine Dichtung zu nutzen. Robert Musil selbst beschreibt den Zusammenhang zwischen den beiden Größen Psychologie und Dichtung sehr prägnant: „[…] alle Psychologie in der Kunst ist nur der Wagen, in dem man fährt; wenn Sie von den Absichten dieses Dichters nur die Psychologie sehen, haben Sie also die Landschaft im Wagen gesucht.“15 Für den Autor stellen die Wissenschaften folglich eine Art Transportmöglichkeit dar, sie fungieren als Mittel zum Zweck, um die eigentlich im Mittelpunkt stehende Dichtung zu vermitteln. Die wissenschaftliche Psychologie, die angetreten ist, um die seelischen Untiefen des menschlichen Wesens abzubilden, scheitert an dieser selbstgestellten Aufgabe. Indem sie die unberechenbaren und individuellen seelischen Vorgänge in ein starres, rational geprägtes und generalisierendes Gerüst presst, ist sie zwar in der Lage, das Seelenleben zu sezieren, nicht jedoch jenen „individuellen Gefühlszusammenhang“16 herzustellen, den Musil stets aufs Neue zu präsentieren versucht. Diese durch die Wissenschaft nicht definierte Stelle muss die ← 16 | 17 → Literatur folglich kompensieren, obwohl „auch die Kunst […] Wissen“17 sucht. Der elementare Unterschied zwischen den Größen ist aber, dass die „Kunst auf beweglichere, undiszipliniertere Innerlichkeiten wirkt als Wissenschaft.“18 Musil visiert somit „keine Wissenschaftlichkeit sondern nur eine gewisse individuelle Wahrheit“19 an. Er bringt seine Bestrebungen prägnant auf den Punkt:

Was wir im gewöhnlichen Leben Gefühl nennen, sind komplexe Zustände und Vorgänge. Emotionales, sensorielles, motorisches, Intellektuelles verkreuzen sich darin. Bei der Beschreibung rekurrieren wir auf alle solche Erlebnisse. Eine direkte Nomenklatur existiert nicht, weil keine festen, sondern fließende Gegenstände da sind. Gerade auf diese Zone ist aber der Dichter gewiesen. Das rein Intellektuelle überläßt er dem Gelehrten, der es in die Tiefe des Engen führt. Selbst bei der Beschreibung von Gegenständlichem zielt er auf das Emotionale.

Er drückt Farben nicht in den Mikromillimetern der Wellenlänge aus, obgleich das viel genauer ist. Er beschreibt nicht die Verhältnisse eines Gesichts, sondern er sagt: es ist wie… Das Abc unseres Innenlebens ist begrenzt, die Kombinatorik unerschöpflich.20

Es ist somit diese unerschöpfliche Kombinatorik, die Musil in Einzelfällen (die aus locker und zufällig zusammenhängenden Motiven bestehen) zu präsentieren sucht, die sich nicht aus kausal begründbaren Einzelteilen herleiten lässt. Er setzt damit der wissenschaftlichen Psychologie, die „das verhältnismäßig Allgemeine im Einzelfall“21 sucht, eine Dichtung entgegen, die die Individualität zum Regelfall erklärt. Aus dieser reflektierenden Position heraus muss Musil neue gedankliche Wege gehen, um in seiner Literatur der Frage nach der Beschaffenheit der Seele nachgehen zu können.

1.2 Forschungslage

Das Konvolut literaturwissenschaftlicher Texte, das sich mit dem Frühwerk Musils beschäftigt, ist als äußerst umfangreich zu bezeichnen; es in Gänze zu erschließen ist nicht mehr möglich. Im Folgenden seien einige dominante Lesarten ← 17 | 18 → stellvertretend präsentiert, um einen Überblick über die Ausdifferenzierung der Musil-Forschung zu liefern.

In der Vergangenheit erfolgte die Betrachtung der frühen Werke Musils in der Regel mit einer gleichzeitigen Perspektivierung auf den ‚Mann ohne Eigenschaften‘; in besonderem Maße gilt dies für das Novellentriptychon ‚Drei Frauen‘, dessen Wert als autonomes Werk mit individuellen Interpretationsperspektiven lange Zeit unterschätzt wurde. Dabei setzte sich im Laufe der Forschungsbemühungen die Erkenntnis durch, dass die frühen Schriften nicht nur als Vorarbeit für Musils Lebenswerk gewertet werden dürfen, sondern vielmehr als eigenständige Werke betrachtet werden müssen, in denen sich Musil mit wissenschaftlichen Impulsen beschäftigt – aus der Auseinandersetzung mit diesen Anregungen entwickelt er eine eigene Poetologie, die ihrerseits die nachfolgenden Werke Musils beeinflusst. Es muss also eine zirkuläre Struktur angenommen werden, die sich aus dem Wechselspiel von wissenschaftlicher Einflussnahme und literarischer Reflexion ergibt. Die Bemühungen der Forschung, die komplexen Strukturen der Musilschen Literatur freizulegen, zeigen auf, dass die Bedeutung der wissenschaftlichen Stimuli zunächst unterschätzt wurde.

So wird Musils Erstlingswerk ‚Die Verwirrungen des Zöglings Törleß‘ in der älteren Forschungsliteratur vornehmlich als „Pubertätsroman“ gelesen, der „die Wandlung eines Kindes zum Manne“22 schildere. Hans-Georg Pott schreibt diesbezüglich, der ‚Törleß‘ „gehört zu den Schüleromanen der Jahrhundertwende, die die Krise der Erziehung und die Krise des jungen Menschen schildern.“23 Diese Lesarten blenden jedoch große Teile der Irrungen Törleß‘ aus und reduzieren damit die eigentlich hochabstrakten Problemstellungen auf jugendliche Selbstfindungsprozesse.24

Diese Interpretationen werden konsequenterweise abgelöst durch eine stärkere Berücksichtigung der im Roman verhandelten philosophischen Fragstellungen. Dagmar Herwig begründet ihre Ablehnung einer Interpretation als ← 18 | 19 → Schüleroman damit, dass Törleß „nicht ethisch, sondern ästhetisch“25 agiere. In diesem Zusammenhang wird die Beschäftigung Musils mit den Werken von Immanuel Kant26, Friedrich Nietzsche und Ernst Mach in den Vordergrund gerückt, deren Rezeption sich deutlich in seinen literarischen Werken niederschlägt und nicht nur auf den ‚Törleß‘ beschränkt bleibt. Mit dieser grundsätzlichen Berücksichtigung der Polydiskursivität der Musilschen Literatur eröffnet sich eine Forschungsperspektive, die sich als richtungsweisend herausstellen wird. Indem das Werk nun als „philosophischer Roman“27 aufgefasst wird, gelingt die Berücksichtigung von Fragestellungen, die in der Wissenschaftsdebatte des ausgehenden 19. Jahrhunderts diskutiert werden. Die literaturwissenschaftliche Forschung wendet sich folglich denjenigen Wissenschaftlern zu, die Musil (auch im Zuge seines Studiums) rezipiert – die ausführlichen Reflexionen Musils in seinen Tagebüchern stellen für diese Aufgabe eine wichtige Hilfestellung dar.28 Dabei speist sich die Annahme, dass ein Zugang über die Philosophie vielversprechende Ergebnisse zutage fördern könnte, ursprünglich nicht aus Forschungsarbeiten, die das Frühwerk erschließen, sondern vielmehr aus Texten, die Musils Lebenswerk beleuchten: Aus der Beschäftigung mit dem ‚Mann ohne Eigenschaften‘ leitet Renate von Heydebrand beispielsweise den Einfluss Nietzsches auf Robert Musil ab und leistet damit einen wichtigen Beitrag für die Musil-Forschung.29 ← 19 | 20 →

Neben Nietzsches Ansätzen stellen die Überlegungen Ernst Machs ein wichtiges Fundament für Musils literarisches Schaffen dar. Mach vernetzt naturwissenschaftliches Gedankengut mit philosophischen Fragestellungen und bindet diese zudem an zu seiner Zeit dominante Fragestellungen wie die Sprachskepsis an. Die Forschung nimmt diese Erkenntnisse auf und erarbeitet minutiös die Einzelheiten möglicher Wechselwirkungen zwischen Wissenschaft und Dichtung.30 Mit der Übertragung dieser Parallelen auf die Literatur werden die Dimensionen der Verwirrungen Törleß‘ offenbar: Die Problematisierung des Verhältnisses von Innen- und Außenwelt wird verstärkt durch das Wissen um die Unzulänglichkeit von Sprache. So schreibt Lothar Hubert, dass die Welle der Sprachskepsis nicht nur den Schriftsteller ergreife,31 „sondern auch seine Gestalten als um Sprache Bemühte: insofern sie ihrer zum Ausdruck ihres Inneren und zur Verständigung mit den anderen Gestalten bedürfen.“32

Dabei stellt sich heraus, dass Musil die Machschen Erkenntnisse nicht nur im ‚Törleß‘ verarbeitet, sondern sie in seiner Literatur buchstäblich verankert und auch in den ‚Vereinigungen‘ fortführt.33 Thomas Pekar zeigt auf, wie eng die Konzeption des Novellendyptichons mit der Mach-Rezeption Musils verbunden ist: Er erarbeitet strukturelle Anlehnungen der ‚Vollendung der Liebe‘ an fundamentale Machsche Theorien (wie zum Beispiel die Ablehnung von Kausalität) und weist damit die tiefgreifenden Verflechtungen nach.34 ← 20 | 21 →

Besonders mit Bezug auf die ‚Vereinigungen‘ muss noch eine weitere Facette der Musilschen Wissenschaftsrezeption betrachtet werden: die Beschäftigung mit der von Sigmund Freud entwickelten Psychoanalyse. Annie Reniers erwägt diesen Anknüpfungspunkt bereits für ‚Die Verwirrungen des Zöglings Törleß‘, kommt aber zu dem Schluss, dass der „frühe Zeitpunkt der Romankonzeption […] eine Kenntnis von Freuds Arbeiten nicht wahrscheinlich“ macht und folglich „weder auf einen Einfluß von Freud noch auf ein Interesse des Autors für dessen Lehren“35 geschlossen werden könne. Für die ‚Vereinigungen‘ hingegen muss angenommen werden, dass die Lektüre Freuds großen Einfluss auf die Entwicklung der Motive der Novellen gehabt hat. Dabei weist Karl Corino erstmals nach, dass sich Musil in dem Novellendyptichon, besonders aber in der ‚Versuchung der stillen Veronika‘ mit den ‚Studien über Hysterie‘ auseinandersetzt, die Freud gemeinsam mit seinem Kollegen Josef Breuer veröffentlicht. Die charakterliche Entwicklung Veronikas gehorcht somit Regelmäßigkeiten, die in dem Werk von Breuer und Freud aufgestellt werden – hier wäre z.B. die Symptomatik eines verdrängten Traumas zu nennen. Problematisch ist jedoch die von Corino gezogene Schlussfolgerung, die auf Musils wiederholter Negierung möglicher psychoanalytischer Einflussnahmen beruht:36 Er geht davon aus, dass Musil selbst besagten Einfluss verdränge.37 Musils Novelle sei folglich „ein trotziger (verzweifelter?) ← 21 | 22 → Versuch, die Dichtung vor dem Ansturm der Psychologie und Psychoanalyse zu retten […].“38 In der neueren Forschung wird dieser Ansatz relativiert.39 Oliver Pfohlmann leistet hier umfangreiche Arbeit: Er erstellt einen sehr ausführlichen Überblick über die Entwicklung der psychoanalytischen Deutungsperspektiven und zeigt die Möglichkeiten und Grenzen dieser Argumentationsweise bei einem Autor wie Musil auf, der durch seine Selbstreflektiertheit und sein Fachwissen eine Ausnahme in der Literatur darstellt. Pfohlmann folgert:

Es scheint einen erheblichen Unterschied auszumachen, ob ein Psychoanalytiker die Texte eines Dichters deutet, die tatsächlich mittels eines tagtraumartigen Schreibens produziert wurden – oder Texte, die von einem Autor über Jahre hinweg immer wieder neu und umgeschrieben wurden, noch dazu von einem hochgradig reflexiven, auch in Sachen Psychoanalyse sattelfesten Autor, der seine wissenschaftlichen Kenntnisse in die Texte hat einfließen lassen […].40

Mit Blick auf die Sonderstellung Musils muss mit einer psychoanalytischen Deutung seines Schreibverhaltens somit vorsichtig umgegangen werden. Thomas Pekar nimmt die Frage nach einer derartigen Deutungsperspektive in seinem Werk ‚Die Sprache der Liebe bei Robert Musil‘ auf und erweitert sie durch das Theoriengebäude Jaques Lacans, in dem die Triebtheorie Freuds fortgeführt wird.41 Bei dieser hochkomplexen Variante der psychoanalytischen Literaturwissenschaft ← 22 | 23 → wird die Zeichentheorie nach Ferdinand de Saussure mit den Erkenntnissen Freuds kombiniert, um die Spuren des Unbewussten in der Sprache herauszufiltern.42

Christoph Hoffmann erstellt mit seiner Arbeit ‚Der Dichter am Apparat‘ ein ebenfalls mit poststrukturalistischem Theoriengebäude argumentierendes Werk, das die Zusammenhänge zwischen Medientechnik und Experimentalpsychologie ins Auge fasst. Hoffmann erarbeitet einen umfangreichen Blick („eine ‚Archäologie des Wissens‘“43) auf den Zusammenhang zwischen den technischen Gegebenheiten, mit denen die Experimente durchgeführt werden (als prominentes Beispiel kann z.B. der Kinematograph44 angeführt werden) und der literarischen Verarbeitung in Musils Werk.45 Hoffmann geht dabei davon aus, dass die Texte Musils „in diesem komplexen Zusammenhang von experimenteller Psychologie und Medientechnik, dessen hohe Zeit etwa die Jahre zwischen 1880 und 1930 umfaßt“46, beheimatet sind. Vor diesem Hintergrund werden Törleß, Claudine und Veronika zu „experimentor-subjects“47, deren charakterliche Entwicklungen zu experimentellen Räumen umfunktioniert werden; mit ihrer Hilfe wird die Abbildung der inneren Wahrnehmung problematisiert.48

Für die vorliegende Arbeit ist in besonderem Maße die Analyse von gestaltpsychologischen Aspekten von Relevanz. 1974 weist Karl Corino bereits darauf ← 23 | 24 → hin, dass die Gestaltpsychologie49 in den ‚Vereinigungen‘ „eine große Rolle“50 spielen würde, baut diese These in seinen Ausführungen aber noch nicht weiter aus.51 In seiner Arbeit ‚Robert Musil und das Projekt der Moderne‘ verfolgt Aldo Venturelli diesen Interpretationsansatz weiter. Auch er erkennt die große Bedeutung, die die Gestaltpsychologen für Musils intellektuellen Werdegang haben und eröffnet über das Resümee einiger relevanter wissenschaftlicher Ansätze (wie die von Carl Stumpf, Edmund Husserl und Ernst Mach, aber auch die der Gestaltpsychologen um Wolfgang Köhler) weiterführende Interpretationsansätze. Indem Venturelli die wissenschaftshistorischen Zusammenhänge darlegt, innerhalb derer sich die Gestaltpsychologen (aber auch Robert Musil) bewegen, bildet er die Weiterentwicklung psychologischer Erkenntnisse ebenso ab wie theoretische Konstanten – ein Vorgehen, das für die Analyse, die auf der ← 24 | 25 → Berücksichtigung wissenschaftlicher Theoreme basiert, unabdingbar ist.52 1995 erscheint der Artikel ‚Die Seele im Labor der Novelle. Gestaltpsychologische Experimente in Musils „Grigia“‘ von Birthe Hoffmann, in dem sich die Autorin intensiv mit gestalttheoretischen Ansätzen in dieser Erzählung auseinandersetzt.53 Dabei konstatiert sie unter anderem, dass Musil sich dieser Prinzipien bedient, um die Verbindung zwischen ratioïden und nicht-ratioïden Dimensionen zu ermöglichen54 und konkretisiert damit nicht nur das Verhältnis von Musils literarischen Werken zu der Gestaltpsychologie, sondern zusätzlich auch die Frage, wie der Schriftsteller seine (wiederum von der Gestalttheorie beeinflussten) poetologischen Überlegungen in seinen Novellen umsetzt.

Der Artikel Hoffmanns ist symptomatisch für die Entwicklung in der Musil-Forschung, die erst spät die Bedeutung der ‚Drei Frauen‘ und ihren eigenständigen literarischen Wert erkennt. In den früheren Arbeiten wird dem Triptychon mit Blick auf den ‚Mann ohne Eigenschaften‘ grundsätzlich propädeutischer Charakter zugeschrieben.55 Hinzu kommt, dass die Novellen oberflächlich betrachtet weniger abstrakt zu sein scheinen – eine Tatsache, die Pekar dazu verleitet, davon auszugehen, dass Musil „das Reflexionsniveau, das er mit der ‚Vollendung der ← 25 | 26 → Liebe‘ erreicht hat“56, unterbiete.57 Brigitte Röttgers Werk ‚Erzählexperimente‘ ist eines der ersten, das einen Schwerpunkt auf die Betrachtung der ‚Drei Frauen‘ legt; dabei konzentriert sie sich auf „strukturelle Aspekte des Erzählens.“58 Kurt Krottendorfer verortet die Novellen vor dem Hintergrund politischer und sozialer Zeiterfahrungen und sieht sie „als drei Versuche […] auf die Krise der bürgerlichen Gesellschaft zu reagieren.“59 Ruth Bendels hingegen beschäftigt sich in ihrem Werk ‚Erzählen zwischen Hilbert und Einstein‘ ausführlich mit den Einflüssen der Naturwissenschaften auf die Entstehung der ‚Drei Frauen‘.60 Sie geht davon aus, dass die modernen Naturwissenschaften (und genauer die Relativitäts- und Quantentheorie) eine wichtige Komponente des Zugriffs auf die Wirklichkeit darstellen – eine Erkenntnis, die Musil mit „der Wirklichkeitskonstitution und Sinnkonstruktion durch Erzählen“61 koppelt. Berücksichtigt man, wie fortgeschritten Musils poetologischen Reflexionen zum Zeitpunkt der Entstehung der ‚Drei Frauen‘ bereits sind, so ist die Annahme eines komplexen theoretischen Hintergrunds durchaus angezeigt. Die Bedeutung der Naturwissenschaften, insbesondere aber der Gestaltpsychologie spielt im Verlauf von Musils literarischer Schaffenszeit eine immer wichtiger werdende Rolle. ← 26 | 27 →

Eine sehr ausführliche Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang der Gestalttheorie und dem Werk Robert Musils erstellt Silvia Bonacchi in ihrer Arbeit ‚Die Gestalt der Dichtung‘ im Jahr 1998.62 Sie bildet den gestaltpsychologischen Diskurs minutiös ab und bringt ihn zudem mit den literartheoretischen Schriften Musils in Verbindung. Dabei beschäftigt sie sich überwiegend mit dem Spätwerk Musils: Sie wählt einen Zugang, der sich vom Studium und der Dissertation Musils über Ernst Mach hin zu der Arbeit an den ‚Vereinigungen‘ zieht und dann zu einer Interpretation unter gestalttheoretischen Gesichtspunkten von Musils Lebenswerk, dem ‚Mann ohne Eigenschaften‘, übergeht.63 Die Überlegungen, die Bonacchi unter Zuhilfenahme des gestaltpsychologischen Diskurses in Bezug auf den ‚Mann ohne Eigenschaften‘ anstellt, lassen erkennen, dass Musil auch weiterhin den bereits bei den ‚Vereinigungen‘ und ‚Drei Frauen‘ vorgezeichneten Weg des literarischen Transfers geht. Bonacchi erstellt eine detailreiche und minutiös ausgearbeitete Studie über den Diskurs der Gestaltpsychologie von den Anfängen unter Carl Stumpf (und zusätzlicher Berücksichtigung der historischen Wurzeln) über die Zeit der Blüte in den Zwanziger Jahren bis hin zur Ausgestaltung von Musils Spätwerk, dem ‚Mann ohne Eigenschaften‘. Dabei legt sie ihre Priorität jedoch auf die Beschreibung des Diskurses und dessen Vernetzung mit der Entwicklung von Musils literaturtheoretischen Paradigmen. Zwar bezieht sie ihre Erkenntnisse final auf den ‚Mann ohne Eigenschaften‘, dieser Teil wird im Vergleich zu den en détail dargelegten Informationen über Entwicklung und Ausgestaltung der Gestaltpsychologie aber kurz gehalten; wohl auch, weil die Dichte des Informationsnetzes, das sie entwirft, zu groß ist, um es in Gänze auf Musils Texte anwenden zu können. Daher verfährt Bonacchi nach dem Motto pars pro toto und demonstriert die literaturwissenschaftlichen Konsequenzen ihrer Ausführungen nur exemplarisch.

In der vorliegenden Arbeit soll nun das Frühwerk Musil untersucht werden. Zu diesem Zweck wird der gestalttheoretische Diskurs rekapituliert und auch ← 27 | 28 → der Bezug zu philosophischen und experimentalpsychologischen Theoriengebäuden hergestellt, die als Wegbereiter der Gestaltpsychologie fungieren. Der Schwerpunkt der Arbeit wird auf der literaturwissenschaftlichen Erarbeitung von Parallelen zwischen wissenschaftlichen Impulsen und der literarischen Umsetzung durch Robert Musil liegen. Dabei wird zu zeigen sein, dass Musil zwar die wissenschaftlichen ‚Vorlagen‘ nutzt, dabei aber immer auch (im Laufe der Zeit komplexer werdende) poetologische Überlegungen einfließen lässt und damit die wissenschaftlichen Erkenntnisse abstrahiert und verfremdet – wie bereits ausgeführt wurde, geht die Leistungsfähigkeit der Literatur in Bezug auf die Demonstration der seelischen Beschaffenheit über die der Psychologie hinaus. Aus dieser Tatsache ergibt sich der Wert der Abbildung des psychologischen Diskurses, denn mit ihrer Hilfe kann deutlich gemacht werden, welche Möglichkeiten und Grenzen der Anknüpfung die wissenschaftliche Psychologie bietet. Die darauf basierende Analyse des Frühwerks Musils wird – trotz der diskursanalytischen Herangehensweise – auch hermeneutisch argumentieren müssen und sich damit nicht konsequent der poststrukturalistischen Methode der Diskursanalyse verpflichten können. Im letzten Kapitel der Arbeit soll jedoch versucht werden, die aus der Analyse gewonnenen Erkenntnisse einzuordnen und sie auf diese Weise auf die diskurstheoretische Ausgangsproblematik zurückzuführen.

Details

Seiten
336
Erscheinungsjahr
2015
ISBN (PDF)
9783653060539
ISBN (MOBI)
9783653956979
ISBN (ePUB)
9783653956986
ISBN (Hardcover)
9783631668399
DOI
10.3726/978-3-653-06053-9
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Juli)
Schlagworte
Erkenntnisprinzipien psychologische grundlagen Gestalttheorie
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 336 S.

Biographische Angaben

Karen Brüning (Autor:in)

Karen Brüning studierte Germanistik und Romanistik an der Universität Osnabrück und der Université de Lausanne.

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Titel: Die Rezeption der Gestaltpsychologie in Robert Musils Frühwerk