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Neue Forschungen zur deutschen Sprache nach der Wende

von Hanna Biaduń-Grabarek (Band-Herausgeber:in) Sylwia Firyn (Band-Herausgeber:in)
©2016 Sammelband 154 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch enthält neueste Erkenntnisse zu ausgewählten Erscheinungen der deutschen Gegenwartssprache in Bezug zum Polnischen. Die Autoren analysieren Neologismen und lexikalische Entlehnungen aus dem Englischen, sowie Okkasionalismen, Vulgarismen, und Historizismen. Die Beiträge setzen sich mit Übersetzungsmöglichkeiten ins Polnische und deutsch-polnischer Kontrastierung auseinander und zeigen dabei neue Tendenzen in der linguistischen Sprachkritik auf.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Richard Karl Freiherr von Weizsäcker (15. April 1920–31. Januar 2015)
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Zur deutschen und polnischen Jugendsprache der Chatforen mit besonderer Berücksichtigung der Kürzungen (Sylwia Firyn)
  • Aspekte der Übernahme englischsprachiger Lexeme ins Deutsche und Polnische nach der Wende. Am Beispiel von 5 ausgewählten Substantiven und weiteren Varianten (Hanna Biaduń-Grabarek)
  • Okkasionalismen in Herta Müllers Roman Atemschaukel und deren Übersetzung ins Polnische - Versuch einer Konfrontation (Jolanta Hinc)
  • Deutsche und polnische Sprichwörter mit ausgewählten traditionellen Berufsbezeichnungen (Józef Grabarek)
  • Einige Beobachtungen zur Übersetzung von Vulgärsprache am Beispiel von Krajewskis Kriminalromanen (Renata Rozalowska-Żądło)
  • DDR-typische Lexik im Großwörterbuch Deutsch-Polnisch von Józef Wiktorowicz und Agnieszka Frączek (Anna Nieroda-Kowal)
  • Neue Tendenzen der linguistischen Sprachkritik (Margit Eberharter-Aksu)

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Sylwia Firyn (Gdańsk)

Zur deutschen und polnischen Jugendsprache der Chatforen mit besonderer Berücksichtigung der Kürzungen

Das Ziel des Beitrags ist die Analyse der Tendenzen zur Kürzung in der gegenwärtigen geschriebenen deutschen und polnischen Jugendsprache am Beispiel der Texte in Chatforen.

Eingangs sei geklärt, was hier unter den Begriffen „Jugend“, „Jugendsprache“ und „Sprache der Chatforen“ verstanden wird. Das Problem mit der Begriffserklärung liegt darin, dass der Begriff ‚Jugend‘ von den Forschern nicht nur durch das Alter bestimmt wird, sondern auch durch andere Aspekte. In der Soziologie wird ‚Jugend‘ als ein Zeitabschnitt des Lebens betrachtet, in welchem man nicht mehr für ein Kind angesehen wird und noch nicht den Status eines Erwachsenen hat. Diese Definition ist jedoch unscharf. Es sei nur bemerkt, dass ein junger Mensch in verschiedenen Ländern und auf verschiedenen Kontinenten in unterschiedlichem Alter den Status eines Erwachsenen erwirbt. So gehen manche Definitionen des Begriffes „Jugend“ nicht nur vom Alter, sondern auch vom Kulturkreis aus. Nach Yvonne Benart (2001: 361 f.) umfasst die Jugend in Deutschland die Lebensjahre zwischen dreizehn und fünfundzwanzig, wobei sie das Jugendalter in drei Phasen unterteilt, die dem entwicklungspsychologischen Stand entsprechen:

Jugendliche im engeren Sinn (13.–18. Lebensjahr),

die Heranwachsenden (18.–21. Lebensjahr),

die jungen Erwachsenen (21.–25. Lebensjahr)“ (Schäfers 2001: 361).

Klaus Hurrelmann (2002: 219 f.) charakterisiert diesen Lebensabschnitt wie folgt:

Die Clique und die Familie sind wichtig, aber gewiss nicht die Parteipolitik…Die aktuelle Studie hat gezeigt, dass sich viele Jugendliche für soziale und persönliche Belange einsetzen, wenn auch zumeist außerhalb der herkömmlichen politischen Formen.

Eva Neuland (2003: 70) betont den dynamischen Charakter und den komplexen Charakter des Begriffes „Jugend“:

Die Jugend hat sich in den letzten 25 Jahren in eine für die meisten Angehörigen älterer Generationen und sogar für viele Jugendliche selbst unüberschaubare Artenvielfalt oft widersprüchlichster Kulturen ausdifferenziert. Inmitten eines zahlenmäßig nach wie vor dominanten jugendlichen Mainstreams entstanden unzählige subkulturelle Szenen und ← 11 | 12 → Cliquen, Gangs und Posses, Tribes und Families mit jeweils eigenem Outfit und eigener Musik, eigener Sprache und eigenen Ritualen, mit zum Teil fließenden Übergängen und gleichzeitig scharf bewachten Grenzlinien, die für Außenstehende oft nicht einmal erkennbar sind. Die Zahl und Vielfalt dieser Kulturen stieg in dem Moment explosionsartig an, in dem der Prozess der „Individualisierung“ der bundesdeutschen Gesellschaft einen ersten Höhepunkt erreichte.

Die Zugehörigkeit zu verschiedenen Subkulturen, das Alter, das Geschlecht, regionale Unterschiede oder sogar der „Migrationshintergrund“ (Jesenko 2010: 10) bedingen, dass der Begriff ‚Jugendsprache‘ als inhomogenes Phänomen zu betrachten ist und dementsprechend sollte man die ‚Jugendsprache‘ „als ein Dach verstehen, unter dem viele jugendliche Gruppen mit je eigenen sprachlichen, musikalischen und sonstigen Ausdrucksbedürfnissen (z.B. Kleidung, Frisur) wohnen.“ (Dürscheid/Spitzmüller 2006: 151). Die Jugendsprache ist also ein Versuch, Verständnis und Individualität in der Gruppe zu erzeugen, was für die Erweiterung des Sprachvermögens günstig ist und zur Entstehung der Neubildungen beiträgt. Es ist eine spezifische Form der Kommunikation und Informationsübermittlung, mit der jugendspezifische Inhalte und Emotionen ausgedrückt werden. Sie weist also grundsätzlich alle von Karl Bühler (1999: 32 ff.) differenzierten Funktionen auf (Ausdrucksfunktion, Appellfunktion, Darstellungsfunktion). In der Jugendsprache spielt die Ausdrucksfunktion, die auch sozialsymbolische Funktion genannt wird, eine wesentliche Rolle. (vgl. Augenstein 1998: 15). Mit dieser Funktion grenzen sich die Sprecher durch den sozialspezifischen und teilweise fachlichen Wortschatz von der Außenwelt ab. Laut Augenstein wird die Ausdrucksfunktion auch durch die sogenannten ‚social markers‘ (Augenstein 1998: 20) unterstützt. Unter diesem Begriff werden spezielle Ausdrücke und Wendungen verstanden, die nur in einem bestimmten Kontext erwartet werden. Aus diesem Grund gilt die Jugendsprache als ‚eine markierte Form des Sprechens‘ (Augenstein 1998: 21).

In dieser Sprachgemeinschaft ist ein direkter Kontakt nicht nötig, um kollektive Verhaltensähnlichkeiten zu zeigen und um eine generationsübergreifende ’Wir-Identität‘ zu entwickeln, denn hier übernehmen oft die Medien eine wichtige „Katalysatorfunktion“ (Augenstein 1998: 33). Aus diesem Grunde wird die Jugendsprache auch ’Generationssoziolekt‘ oder ‚Konsum-Jugendsprache‘ (Augenstein 1998: 25) genannt.

Die Sprache der Jugendlichen sollte aber auch im Zusammenhang mit jugendkulturellen Szenen untersucht werden. Die sogenannte ’Szenesprache‘ unterscheidet Rapper von Musikern und Sportlern, deren spezielle Interessen zu den Unterschieden im Sprachgebrauch führen. Die Zugehörigkeit zu einer Szene kann auch „der Standortbestimmung in der Szenelandschaft“ (Augenstein 1998: 25) dienen. Auf der Ebene der kleinsten Kommunikationsräume der Peer-Groups ← 12 | 13 → (Gruppen von Ähnlich-Altrigen, sozial Gleichgestellten) spielen die ’Ingroup Sprachen‘ eine besonders wichtige Rolle. Hier dient die betreffende Variante der Jugendsprache zur Identitätsfindung und Abgrenzung von der Außenwelt, was anhand der Präsentation von Merkmalen der sozialen und kulturellen Zugehörigkeit erfolgt. Die Angehörigen einer Gruppe spielen mit verschiedenen Stilelementen, um sich von der Außenwelt abzugrenzen und ihre Integrität zu bewahren. Diese Ebenen sind stark miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig.

In der Gruppe versucht der Sprecher, durch seinen eigenwilligen und zugleich gruppenspezifischen Sprechstil Anerkennung zu erlangen. In den `Outgroup-Dialogen´ zeigt der Sprecher, zu welcher Gruppe er gehört und mit welcher Gruppe er sich identifiziert, außerdem grenzt er sich durch seinen charakteristischen Sprachgebrauch von den Erwachsenen und anderen Gruppen ab.

So kommt dieser Sprache eine „identifikatorische Funktion“ zu (Neuland 2008: 138).

Susanne Wachau (1989: 69–96) unterscheidet vier Hauptmerkmale der Jugendsprache:

Neue Worte zu erfinden und sie weiterzuentwickeln macht den Jugendlichen Spaß.

Die Wendungen sind oft emotionsgeladen. Höflichkeitsregeln werden nicht beachtet.

Die Neubildungen entstehen hauptsächlich aus der Lamäng und werden oft auch schnell vergessen.

Die Jugendsprache lässt sich nicht an irgendwelche Regeln binden. Die Jugend formt grammatikalisch inkorrekte Sätze, um sich frei zu fühlen und sich von der Erwachsenen abzugrenzen.

In diesem Zusammenhang kann die Frage nach den Gründen für die Entstehung der Jugendsprache gestellt werden. Nach Hermann Ehmann (2005: 12) steht der Protest fast immer im Vordergrund. Die Sprache der Erwachsenen, vor allem die Standardsprache, wird von den Jugendlichen mit Sprachlosigkeit assoziiert. Die Sprache der Jugendlichen ist emotionsgeladen und widerspiegelt oft besser die Gefühle, vor allem die Emotionen des jungen Sprechers. In diesem Sinne ist die Jugendsprache ← 13 | 14 → ein Instrument, mit dessen Hilfe die Sprachlosigkeit der Erwachsenen überwunden werden soll.

Ein bedeutender Grund für die Entstehung der Jugendsprache war/ist das Abgrenzungsmotiv. Durch eine bestimmte Sprechweise wollen sich Jugendliche von Erwachsenen distanzieren und zeigen, dass sie noch jung sind und die Welt anders sehen. Die Standardsprache drückt der Jugend zufolge die Absichten des Sprechers nicht ausreichend aus und ist überdies langweilig.

Auch Spaß ist einer der Gründe für die Entstehung der Jugendsprache. Die Jugendlichen erfinden neue Ausdrücke, verleihen vorhandenen Wörtern/Ausdrücken eine (teilweise) neue Bedeutung und brechen die Regeln der Standardsprache, um sich besser in der Gruppe zu fühlen und salopp reden zu können.

Außer diesen Aspekten ist die Sprachökonomie ein wichtiger Grund für die Entstehung der Jugendsprache, was nicht nur in der traditionellen Kommunikation, sondern vor allem in der computervermittelten Kommunikation, besonders aber in den Chatforen zum Ausdruck kommt.

Das englische Verb chat bedeutet etwa „plaudern“/„sich unterhalten“. Mit diesem Begriff wird die elektronische Kommunikation bezeichnet, die meist über das Internet erfolgt. Es liegt also eine computervermittelte Kommunikation (Computer Mediated Communication, komunikacja za pomocą komputera) vor, die auch Netspeak genannt wird. Im Englischen gibt es die Kurzbezeichnung Netlish (Internetenglish) für die Sprache der Internet-Nutzer (internet user). In den Chatforen kommt ein heftiger Meinungsaustausch zustande. Charakteristisch für diese Kommunikation ist die Anonymität der Diskussionsteilnehmer, die Nicks (aus dem Englischen Nickname - Pseudonym, Deckname, Spitzname, auch: Nickname) als Unterzeichnung gebrauchen. Die Anonymität führt oft dazu, dass die in den Chatforen präsentierten Meinungen beleidigend sind. In diesem Falle ist von Cyber-Mobbing oder Cyber-Bullying im Falle der Kinder und Jugendlichen die Rede. In der polnischen Sprache wird die Bezeichnung hejt gebraucht, das eine inkonforme Entlehnung des englischen hate (Hass) ist. Von diesem Substantiv wurde das Verb hejtować abgeleitet (jmdn. beleidigen, mit Hass kritisieren).

David Crystal (2007: 18 ff.) unterscheidet drei Grundarten der Internetkommunikation:

Bei der asynchronen Kommunikation ist die zeitgleiche Anwesenheit nicht notwendig. Hierher gehören u.a. die E-Mail und der Blog. Im Falle der synchronen Kommunikation wird die zeitgleiche Anwesenheit der Partner angenommen, sie ist aber nicht unabdingbar. Als Beispiele können hier das Chatten und das Multi User Dungeon genannt werden.

Die Netsprache weist viele charakteristische Merkmale auf, die u.a. von Jan Grzenia (2008: 119) aufgelistet werden. Es sind u.a.

Details

Seiten
154
Erscheinungsjahr
2016
ISBN (ePUB)
9783631698853
ISBN (MOBI)
9783631698860
ISBN (PDF)
9783653063707
ISBN (Hardcover)
9783631669013
DOI
10.3726/978-3-653-06370-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Dezember)
Schlagworte
Neologismen Kontrastive Linguistik Translatorik Semantik Übersetzungswissenschaft
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2016. 154 S., 32 Tab.

Biographische Angaben

Hanna Biaduń-Grabarek (Band-Herausgeber:in) Sylwia Firyn (Band-Herausgeber:in)

Hanna Biaduń-Grabarek ist Professorin am Lehrstuhl für Angewandte Linguistik und Translatorik der Universität Gdańsk. Ihre Hauptinteressengebiete sind Syntax der deutschen Sprache, Sprachmanipulation, kontrastive Linguistik, Sprachgeschichte und Fremdsprachendidaktik. Sylwia Firyn ist Professorin am Lehrstuhl für Angewandte Linguistik und Translatorik der Universität Gdańsk. Ihre Hauptinteressengebiete sind Syntax der deutschen Sprache, Sprachgeschichte, Parömiologie, Lexikologie und Fremdsprachendidaktik.

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